Licht im Winter

Licht im Winter heißt ein Film von Ingmar Bergman, den ich mir immer wieder ansehe. Er ist großartig gemacht und gespielt und erinnert mich auf fatale und komische Weise an meine Kindheit (siehe das Kind in den ersten zwölf Minuten des Films). Es geht im Film um einen Pastor in der Sinnkrise. Gott schweigt, sagt er. Doch nicht Gott schweigt, sondern die Menschen schweigen. Winter in der mittelschwedischen Provinz, alles ist voller Eis und Schnee. Auch die Herzen der Menschen. Sie sind unfähig, miteinander in Beziehung zu kommen, miteinander zu kommunizieren.

Der Winter ist die Zeit des Rückzugs. Alles Lebende verkriecht sich, um zu ruhen. Bis zum zweiten Februar, dem Tag, der Lichtmess genannt wird. Das bäuerliche Jahr beginnt. Die Tage sind schon spürbar lichter als an Weihnachten, eine Ahnung vom Frühjahr kommt auf. Langsam erwacht die Natur.

Zwei Minuten vor Ende des Films Licht im Winter sinkt Märta Lundberg in die Knie, senkt den Kopf, und wir hören ihre Gedanken:

Wenn wir uns nur sicher fühlen könnten und uns getrauten, zueinander zärtlich zu sein! Wenn wir nur eine Wahrheit hätten, an die wir glaubten! Wenn wir nur glauben könnten!

Dann schwenkt die Kamera zum Pastor, der den Kopf ebenfalls gesenkt hält. Er scheint überrascht von der Botschaft und erwacht aus seiner Lethargie. Kurz darauf wird Märtas Gesicht in strahlendes Licht getaucht. Da ist es, das Licht. Das Licht nach einem langen Winter!

Im schwedischen Original heißt der Film Nattvardsgästerna, was soviel bedeutet wie Die Kommunikanten. Auf ihr Kommunikanten, auf ins Licht, nach dem langen Winter! Öffnet eure Herzen und kommuniziert!

Nattvardsgästerna (OmeU)

Kronendorne

Ich rede zu viel von meinem Gefängnis, sagt Vorderbrandner, so werde ich ihm nie entkommen. Ich halte mich an ihm fest. Der Kopf will Neues, das Herz hält an Altem fest, auch wenn es daran zugrunde geht. Ich sehe die Gefängnisse anderer, weil ich selbst in einem bin. Nur weil ich selbst in einem bin. Nur wer im Gefängnis ist, sehnt sich danach, frei zu sein. Wer nicht im Gefängnis ist, weiß gar nicht, dass er frei ist. Er ist einfach frei, ohne es zu wissen. Warum sollte er es wissen wollen? Warum sollte er es wissen müssen?

Das Fatale: Ein gefangener Mann wie ich, sagt Vorderbrandner, verliebt sich nur in gefangene Frauen. Die Gefangenheit zieht mich magisch an, sagt Vorderbrandner. Je unfreier die Frau, desto mehr verfalle ich ihr. Je mehr bürgerliche Verklemmtheiten ich an ihr beobachte, desto mehr begehre ich sie. Desto mehr muss ich sie haben. Desto mehr träume ich von den lustvollen Gärten hinter diesen Verklemmtheiten. Aber diese Gärten sind zu fern, als dass ich sie jemals erreichen könnte. Weil ich sie nicht erreichen will. Weil ich mich in meinen eigenen Gärten verstecke und dabei verrückt werde bei meinem Kreisen um mich selbst.

Ich setze meine Kronendorne auf und höre ein Lied in meinem verklemmten Gefängnisgarten, als Ausdruck meiner unerfüllten Sehnsucht, als Ausdruck der Verklemmung, dem Gefängnis. Dieses Lied trägt meine Mischung aus Trauer, Zorn und Lust. Wenn ein Bild mehr aus tausend Worte sagt, sagt ein Lied mehr als zehntausend Worte:

Kronendorne

Oh oh  Oh oh  Oh oh  Oh oh

Du gehst mir durch Mark und Bein
Du gehst mir durch Mark und Bein
Du glaubst du bist ein Gemüse
Kommst niemals aus deinem Kühlschrank
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen
Oh oh  Oh oh

Du bist eine sterbende Rasse
Du bist eine sterbende Rasse
Einst warst du ein Inka
Jetzt bist du ein Cherokee
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen

Schlag zu! Schlag zu!

Au Huh Au Huh Au Huh Au Huh

Wart auf mich am blauen Horizont
Blauer Horizont für jeden
Warte auf mich an einem neuen Horizont
Neue Horizonte für jeden

Einmal will ich eins mit dir sein
Einmal will ich eins mit dir sein
uh uh uh uh uh

A-ah A-ah A-ah A-ah

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Innen außen   zurück nach vor
oben unten   einmal rundherum
herum herum herum

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Oben unten   innen außen
zurück nach vor   einmal rundherum

Nach unten  nach unten  nach unten  nach unten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten

Huuuhh

Dann nehme ich meine Kronendorne wieder ab. Ich kehre zu mir zurück, sagt Vorderbrandner, und mache mich daran, meine Freiheit zu erobern, abseits der verklemmten Schönheit. Schluss mit der fatalen Schwärmerei! Raus aus dem Gefängnisgarten! ICH BIN FREI, ALLES IST MÖGLICH!

Reiner Felix und die Erfindung des Referats

Es war einmal ein Mann, der hieß Reiner Felix. Sein älterer Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nannten, nannte Reiner Felix Refe. Reiner und Heiner Felix hatten noch einen jüngeren Bruder namens Kleiner Felix, aber das nur nebenbei.

Reiner Felix stand oft an der Straße. Es war wie ein Hobby für ihn. Als er eines Tages wieder an der Straße stand, kam jemand vorbei und sagte: Ich möchte über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du über die Straße! Kurz darauf kam jemand anderer vorbei und sagte: Ich möchte nicht über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du nicht über die Straße! Reiner Felix hatte Spaß daran, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es gewöhnte es sich an, allen, die vorbeikamen, einen Rat zu geben.

Es kam auch der Lehrer vorbei, den alle Quälix nannten. Lehrer Quälix sah, wie Reiner Felix allen, die vorbeikamen, einen Rat gab. Toll, dachte sich Lehrer Quälix, wie der allen einen Rat gibt! Er ging zu Reiner Felix und fragte ihn, was für einen Rat er denn den meisten Leute gebe.
Den meisten sage ich, dass sie über die Straße gehen sollen oder dass sie nicht über die Straße gehen sollen, sagte Reiner Felix.
Toll! sagte Lehrer Quälix und meinte weiter: Könnten Sie mit mir in die Schule kommen und den Rat auch meinen Schülern geben?

Irritiert ging Reiner Felix mit Lehrer Quälix in die Schule. Dort stellte sich Lehrer Quälix vor die Klasse und sagte: Dieser Mann wird uns nun etwas sagen über das Überdiestraßegehen. Ach, guter Mann, wie heißen sie eigentlich? wandte er sich an Reiner Felix.
Reiner Felix, aber mein Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nennen, nennt mich Refe.
Die Schüler lachten.
Lehrer Quälix unterband das Lachen, indem er laut zu Reiner Felix sagte: Gut, Refe, leg los!

Reiner Felix räusperte sich kurz, dann stieg er in seinen Vortrag ein:

Über das Überdiestraßegehen

Beim Überdiestraßegehen gibt es folgende Möglichkeiten: Entweder man geht über die Straße oder man geht nicht über die Straße. Man kann jedoch auch sowohl über die Straße gehen als auch nicht über die Straße gehen, indem man zunächst über die Straße geht, dann jedoch, wenn man auf der anderen Seite der Straße angelangt ist, nicht mehr über die Straße geht.

Danke Reiner Felix, danke Refe, danke! sagte Lehrer Quälix und applaudierte. Dann wandte er sich an die Schüler: Liebe Schüler, dieser Vortrag von Reiner Felix soll ein Vorbild für euch sein. Den Rat, den er uns darin gibt, will ich künftig auch in euren Vorträgen sehen!

Die Schüler hatten sich lediglich gemerkt, dass Reiner Felix von seinem Bruder Heiner Refe genannt wird, und nannten fortan die Vorträge, die sie bei Lehrer Quälix halten mussten Referat, also Rat nach Reiner Felix.

Reiner Felix (gespielt von Georg Stürzer) beim Referat

…Meine Zeit mit Liliane

Ich habe Liliane seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe nichts von ihr gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Laut Wikipedia tut sie es: Liliane Kampermann ist eine deutsche Künstlerin, die in München sowie weltweit lebt und arbeitet. Vor diesen Jahren, in denen wir uns nun nicht mehr gesehen haben, haben wir uns jahrelang in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gesehen. Ich versuche, meine Begegnungen mit Liliane über die Zeiträume zu strukturieren, aber es gelingt mir nicht. Denn wenn wir uns trafen, schien die Zeit keine Rolle zu spielen. Sie verging einfach, ohne dass wir es merkten. Wir waren eingebettet in das, was nie war und was nie sein wird, sondern einfach ist: in die Gegenwart.

Ich habe als Kind Nacktheit als etwas Verbotenes erlebt, das mit starker Scham belegt ist. Das hat dazu geführt, dass ich mich bevorzugt in Frauen verliebe, die sich nackt zeigen. Ohne jede Kleidung. Ohne jeden Schmuck. Ein nackter Frauenleib ist für mich die Offenbarung des Glücks, der Zugang ins verbotene Paradies. Liliane und ich waren nackt, als wir uns das erste Mal sahen. Und sie zeigte sich: Sie stieg vor meinen Augen nackt ins warme Wasser, lud mich mit ihren Blicken ein, ihr zu folgen. Das Paradies öffnete seine Türen. Als unser nackter Abend endete, schloss sich das Paradies. Wir zogen uns an. Aber mich zog es hin in dieses Paradies, das fortan Liliane hieß. Wir trafen uns zu unseren zeitlosen Treffen, wir redeten und redeten, im Nachhinein glaube ich, Liliane redete mehr als ich, während ich sie betrachtete: ihren Mund, wenn sie redete; ihre Augen, wenn sie schaute. Bei diesen Anblicken träumte ich vom Paradies, das sich als kuscheliges Liebesnest mit uns beiden darin darstellte.

Es ist ein sehr warmer Frühlingstag im März. Die Sonne scheint schon ungewöhnlich stark durch die noch blattlosen Äste der Bäume. Liliane und ich sind im Paradies. Wir streunen über die Wiesen, auf der die Frühlingsblumen blühen. Ein Pärchen springt bereits voller Übermut ins kalte Wasser. Ich sehe Liliane und mich in diesem Pärchen und träume schon wieder vom Paradies. Wir setzen uns ins Gras und reden. Sind wir, oder belehren wir uns? Bin ich, oder beobachte ich sie? Die Worte, die wir reden, bauen sich auf wie eine Blockade. Die Worte werden viel zu viele, und ich lege mich hin, um ihnen zu entfliehen, aber auch als ich liege, fällt mir nichts anderes ein als Worte, Worte, Worte, und ich sehe Liliane und denke mir: Sie ist schön, schön, schön, und ich denke: Gibt es eigentlich einen idealen Zeitpunkt, um sich zu küssen? Oder passiert das einfach im Paradies? Ich ringe um das Paradies in meinem Kopf und sage: Ich sehe Frauen als viel zu hohe Wesen. Ich kann kein normales Verhältnis zu ihnen aufbauen. Durch dich, Liliane, lerne ich, dass ich, um mit einer Frau zu sein, ein Mann sein muss. Noch während diese Worte meinen Mund verlassen, fühlen sie sich komisch an, schal, unwahr, bauen sich auf wie eine trennende Wand zwischen uns, und mir fallen alle unsere Gespräche ein, deren Worte sich wie ein Schleier über Nachmittage und Nächte legen, den wir nicht zu durchdringen vermögen. Ich ringe weiter um das Paradies, aber mit Worten, das ist die Illusion, der ich erliege, dass ich mit Worten das Paradies herbeireden kann, ohne etwas dafür zu tun, und ich sage also: Liliane – ich will ehrlich sein zu mir, ich will ehrlich sein zu dir, deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich spüren will, dass ich dich küssen und berühren will. Für einen Moment sehe ich, wie sich Lilianes Lippen öffnen, so als will sie mir sagen: Dann tu es doch! Doch dann sehe ich in ihren Augen all die Worte unserer Gespräche, die uns trennen. Ich sehe in ihnen die Trauer über Oleg, den Zorn über ihren Vater, die Bitterkeit über die Männer. Ich sehe, dass sie das alles voll in Beschlag nimmt und verhindert, dass wir uns nahe kommen. Kein Platz für mich in Lilianes Welt. Oder haben wir uns für einen kurzen Moment gefunden, um uns gegenseitig unsere Trauer zu zeigen darüber, wo wir herkommen? Sind wir jetzt soweit, hinzuschauen? Sind wir jetzt am Grund des tiefen Sees, wo sich die Wahrheit ruhig verrät?

Liliane stand auf und lief davon. Ich blieb im Gras liegen und schaute zum Himmel. Ja, ich mag die Natur, weil sie keine Meinung hat. Sie ist einfach. Jahre vergehen, so wie die mit Liliane. Eines bleibt: die Gegenwart. Und mit ihr die Chance, frei zu sein. Denn der verdient sich seine Freiheit, der täglich sie erobern muss. Ich ziehe mich aus und springe in das kalte und klare Wasser.

…Untermann…

Die Nächte voll quälender Unruhe. Jede Nacht der Fall ins Bodenlose. Oleg surft davon auf dem wilden Wasser, während ich in die schwarzen Fluten des Atlantiks stürze. Schweißgebadetes Aufwachen vor dem vermeintlichen Ertrinken.

Ich hatte mich aufgerappelt, aber ich stand in der Ecke wie ein Mauerblümchen. Völlig geschafft von diesen geträumten nächtlichen Abstürzen. Ich war kurz davor zu gehen. Da spürte ich die bewundernden Blicke von Jannick auf mir. Kokett blickte ich zu ihm auf. Wie schön, bewundert zu werden! Er näherte sich mir. Nein, komm mir nicht nahe! Nein, lass mich in Ruhe! – Doch! Komm her! Komm her! Ich lächelte ihn an. Er kam zu mir, ganz nah zu mir. Er gefiel mir. Mein Gott, er war jung! Noch keine zwanzig, oder gerade mal so. Jannick redete, aber ich nahm das nur undeutlich wahr. Ich wollte nur, dass er mich erlöst. Ja, Jannick, sei mein Erlöser!

Als er mich am nächsten Morgen verließ, war sein Rücken voller Kratzer, so fest hatte ich mich an ihn gekrallt. Ich hielt mich fest an ihm. Ja, durch Jannick würde dieses Fallen ins Bodenlose aufhören, dieses allnächtliche Ertrinken im Strudel meiner Gefühle. Wir trafen uns wieder und wieder und wieder. Jannick wurde mein neuer Oleg. Nein, Jannick ist nicht mein neuer Oleg! Bei Oleg taumelte ich. Bei Jannick stehe ich fest. Bei Jannick habe ich die Kontrolle. Ich habe die Reife. Ich habe das Geld. Ich habe die Macht. Er hat den Schwanz, über den ich herrsche.

Aber da ist die Geschichte mit Emil. Emil spricht von seiner Übermutter und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich kann mit dem, was er sagt, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redet ganz normal mit mir, die ganzen Jahre, die wir uns mittlerweile schon kennen. Er verwirrt mich. Ich fühle mich bedroht. Er ist nämlich ein Mann. Ein gefährlicher Mann!

Mit Emil, das hat so angefangen: Ich fühlte mich sehr entspannt an jenem Abend. Ich war in die Sauna gegangen. Da saßen wir auf unseren Handtüchern und schwitzten, nur er und ich in der Kabine, und lächelten uns an. In der Dusche, im Ruheraum, im Gang: Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Schließlich stieg ich wie eine Meerjungfrau vor ihm ins Warmwasserbecken und räkelte mich darin. Er kam zu mir, und ich sprach ihn an.
Künstlerin? fragte er.
Ja! sagte ich.
Künstler sind verlorene Seelen, sagte er. Wir sind zwei verlorene Seelen, die im Wasser schweben.
Wir zwei schwebten im Wasser. Freiheit! Er sagte, er werde nun ins Dampfbad gehen, und ich sagte: Ich auch! Im Dampfbad räkelte ich mich auf den Fliesen. Als ich das Dampfbad verlies, wurde mir klar, dass ich rausmuss aus dieser Nummer. Er aber passte mich in der Umkleide ab und fragte, ob wir nicht noch gemeinsam ins Café gehen nebenan. Ich zierte mich. Wir schlenderten vor die Tür. Er reizte mich. Mit seiner gelassenen Beharrlichkeit. Schließlich willigte ich ein. Ich kann mir diese Einwilligung nur so erklären: Wir waren jetzt angezogen. Die Nummer war nicht mehr so heiß wie in der Sauna, als wir beide nackt waren.

Ich merkte, wie er mich verliebt ansah, als wir am Tisch saßen. Ich merkte, wie toll er es fand, dass ich Künstlerin bin. Zwei verlorene Seelen, die sich gefunden haben. Mitten in seine Euphorie hinein erwähnte ich Jannick. Ich schob Jannick als Riegel zwischen uns. Jannick als Stoppschild gegenüber anderen Männern. Die meisten von ihnen ziehen sich dann zurück, wenn sie merken, dass nichts geht. Emil aber zog sich nicht zurück. Zwar meldete er sich wochenlang nicht. Dann aber plötzlich und unerwartet. Ich merkte, wie ich mich freute, dass er sich meldete. Wir trafen uns immer wieder, im Abstand von Wochen, manchmal im Abstand von Monaten. Halbe Nächte lang saßen wir beisammen und redeten und redeten. Er sagte, es wäre doch gut, dass wir beide einen Partner hätten, so wäre das ganze unbefangener, und ich versuchte ihm zu glauben, aber ich glaubte ihm nicht. Ich vermisste etwas bei unserem Gerede, eine Berührung, einen Kuss, aber gleichzeitig fürchtete ich mich davor, vor einer Berührung, vor einem Kuss. Ich hatte das Gefühl, eine Berührung, ein Kuss, könnte meine ganze Welt ins Wanken bringen.

An einem schönen Frühlingstag verabredeten wir uns im Park. Ich trug ein tiefes Dekolleté. Das wurde mir erst bewusst, als wir uns gegenüberstanden und er es betrachtete. Was will ich eigentlich von ihm? Was will er von mir? Wir setzten uns ins Gras. Dann streckte er sich und legte sich hin.
Leg dich doch auch hin! sagte er.
Nein, nein! sagte ich: Ich bleibe lieber sitzen!
Viel zu gefährlich, dachte ich, sich neben ihm ins Gras zu legen. Viel zu gefährlich mit ihm, alles, sowieso, dachte ich plötzlich. Wie hatte ich ihn nur so anmachen können damals in der Sauna!

Er lag im Gras und redete von den Blumen neben uns und dem Himmel über uns und plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich mich neben ihn ins Gras gelegt hatte.
Er schaute zum Himmel und sagte: Vera und ich haben uns getrennt. Ich will mein Leben endlich in meine eigenen Hände nehmen, und ich habe das Gefühl, dass ich das mit ihr nicht schaffe. Dann schaute er mich an und meinte: Durch dich, Liliane, habe ich gemerkt, dass ich, wenn ich eine Frau will, erst ein Mann sein muss.

Ich schreckte hoch. Jetzt brachen die Dämme, und die schwarzen Fluten über mich herein. Er redete weiter: Der erste Schritt in mein neues Leben ist, ehrlicher zu sein. Ehrlicher zu mir selbst. Ehrlicher zu anderen. Und deshalb, Liliane, sage ich dir jetzt, was ich gerade denke. Deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich berühren, dass ich dich küssen will.

Nein! Nein! Jetzt ging er zu weit! Was erlaubt er sich? Warum berührt und küsst er mich nicht einfach? Was labert er da herum? Männer sind Alphatiere, die sich nehmen was sie wollen und reden nicht davon. Nein! Nein! Ich will nicht, dass er mich berührt und küsst! Die schwarzen Fluten stürzten auf mich ein. Ich begann zu zittern. Oleg! Oleg! rief alles in mir. Ich liebe dich doch noch immer! Vater, du Schuft, so hilf mir doch! Jannick! Ja, Jannick, ich muss zu dir! Rette mich! Ich stand auf und rannte weg, ich rannte so schnell ich konnte. Die Wiese so grün und der Himmel so blau, doch um mich herum nur schwarze Fluten. Ein Schluchzen in mir, dass die ganze Umgebung erfasste und alles fortriss und ich konnte nicht anders und weinte und weinte und weinte…