Das Erbe

Zu viert stehen wir da. Ich neben meiner Mutter. Meine Schwester und mein Bruder uns gegenüber. Er ist nicht mehr da, mein Vater. Das unumstrittene Oberhaupt der Familie. Gestorben und begraben, vor wenigen Tagen. Ohne ihn schien es unvorstellbar. Und jetzt ist es nicht nur vorstellbar, sondern Realität.

Das Erbe schwebt zwischen uns. Das Erbe: Das sind zwei Häuser und eine ganze Menge Bares. Das zweite Haus, das bekommst du, mein Junge, hatte mein Vater mir kurz vor seinem Tod zugeflüstert.

Jetzt steht meine Mutter da und sagt: „Erben tu erst mal alles ich, damit das klar ist!“
Meine Mutter erstaunt mich. Ihre Existenz schien unvorstellbar ohne meinen Vater, und jetzt stellt sie sich hin und sagt: Erben tu erst mal alles ich! Spinnt die?

Es wäre schön, das zweite Haus zu erben. Große finanzielle Sicherheit, die ich meinen beiden Kindern und meiner Frau oder auch nur mir damit bieten könnte. Nein, das kann nicht das letzte Wort sein. Die spinnt doch! Wieso will sie alles erben?
„Wieso willst du alles erben?“ frage ich.
„Weil es mein Recht ist! – Da, schau!“
Meine Mutter schiebt mir einen Zettel unter die Nase. Es ist das Testament meines Vaters, mit dem er ihr sein ganzes Vermögen vererbt.
„Den hast du ihm am Krankenbett hingehalten, als er nicht mehr anders konnte!“
„Untersteh dich!“

Ich gehe hinüber zu meiner Schwester und meinem Bruder. Wie eine Dreierfront stehen wir meiner Mutter gegenüber. Doch die Front zerfällt sofort, als mein älterer Bruder sagt: „Ist schon gut Mutter. Du erbst alles. Ist schon gut!“
Eine Provokation mir gegenüber, denn es war ein offenes Geheimnis, dass ich das zweite Haus erben würde, ich, der jüngste von drei Geschwistern, aber der einzige mit eigenen Kindern. Meine Schwester steht zwischen meinem Bruder und mir. Ich glaube, sie weiß nicht recht, für wen von uns beiden sie Partei ergreifen soll. Ihren jüngeren Bruder, also mich, will sie beschützen. Vor ihrem älteren Bruder hat sie Respekt. So ist das also ohne meinen Vater: Ich stehe nicht mehr neben ihm als sein erklärtes Lieblingskind, sondern neben meinen Geschwistern.

Meine Mutter schaut zufrieden und sagt uns mit ihren Blicken: „Schaut her, ich kann auch ohne euren Vater! Ich bin ein eigener Mensch! Und das mir ja niemand glaubt, hier die Vaterrolle übernehmen zu müssen! Auch du nicht, mein Jüngster!“

Brav bleibe ich an der Seite meiner Schwester stehen. Stolz, eine starke Mutter und zwei ältere Geschwister zu haben. Die Fronten sind geklärt. Und das zweite Haus, das werde ich erben. Da bin ich mir jetzt ganz sicher.

Edelweiß für Österreich

US-Amerikaner haben eine sehr romantische Sicht auf Europa. Kein Wunder: Viele haben Vorfahren aus Europa. Sehr beliebt ist die Region mitten in Europa, die von den östlichen Alpen durchzogen und Österreich genannt wird. Die US-Amerikaner lieben Sound of Music, eine Geschichte über eine österreichische Musikantenfamilie. Sie glauben, dass das Lied Edelweiß daraus die Nationalhymne Österreichs ist.

Nun ist es aber bei weniger romantischer Sicht so, dass in dieser Region Österreich, wie in vielen anderen Regionen Europas auch, nicht nur musizierende weltoffene Bergleute anzutreffen sind, sondern viele nationalistisch Gesinnte, die unter sich bleiben wollen. Um sich gegenseitig zu erkennen (und nicht aus Versehen eigene Leute auszugrenzen), tragen diese nationalistisch Gesinnten eine Kornblume am Revers.

Die Furz- und Popelpartei Österreichs, kurz FPÖ, eine Versammlung nationalistisch Gesinnter, die manche lediglich als eine Ansammlung von machtgeilen Dummköpfen bezeichnen, trägt traditionell die Kornblume am Revers, um ihre nationalistische Gesinnung zu zeigen. Für die Furz- und Popelpartei, man glaubt es kaum, haben bei den letzten Parlamentswahlen in Österreich fast dreißig Prozent der Wähler gestimmt. Die Wahlanalyse hat ergeben, dass alle Leute in Österreich, die glauben, dass Österreich im letzten Weltkrieg lediglich Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands war, also Leute, die man guten Gewissens als Dummköpfe bezeichnen kann, die Furz- und Popelpartei gewählt haben. Dummköpfe und Dummköpfe haben sich gefunden.

Nun ist es jedoch neuerdings so, dass die Furz- und Popelpartei ihre nationalistische Gesinnung aufgeben will, sehr zur Enttäuschung ihrer Wähler. Deshalb tragen die Mitglieder ab sofort nicht mehr die Kornblume am Revers, sondern das Edelweiß. Das Edelweiß, das die US-Amerikaner, dieses weltoffene Volk mit ihrem noch weltoffeneren Präsidenten Trump, so liebgewonnen haben, weil es in Sound of Music so lieblich besungen wird.

Die Furz- und Popelpartei sagt, dass alle US-Amerikaner deutscher Abstammung, nein, das mit der deutschen Abstammung wurde korrigiert, dass also alle US-Amerikaner in Österreich jederzeit willkommen sind, aber am meisten würde es sie natürlich freuen, wenn der Präsident das schöne Alpenland mit seinen edelweißblühenden Berghängen bald besuchen würde.

Edelweiß – statt Kornblume

Edelweiß – Nationalhymne Österreichs

Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit existierenden Parteien sind rein zufällig.

 

Birke bei den Brücken

eine Bildergeschichte

Birken wachsen gern in Gruppen. Meist unter sich, aber auch gemeinsam mit anderen Bäumen.

Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Vielleicht glaube ich es auch nur. Jedenfalls ist es für mich eine Wahrheit.

Umso mehr erstaunt es mich, als ich die einsame Birke entdecke: Ich gehe, wie so oft, den Bach entlang, unter den Autobrücken hindurch, und da nehme ich sie plötzlich wahr, wie sie zwischen den Brücken steht: die einsame Birke. Als hätte sie gerade jemand hingepflanzt. Jedenfalls kommt sie neu in meine Welt und erschüttert meine Wahrheit über Birken als Gruppengewächse.

Mit grenzenlosem Erstaunen schaue ich zur Birke hoch. Ist das wirklich wahr, diese birkige Einsamkeit? Ich brauche Abstand, um das zu prüfen. Vielleicht täuschen mich ja meine Augen, hier unter den Brücken.

Ich gehe auf die andere Seite des Bachs. Ich betrachte die Birke von der gegenüberliegenden Seite, oberhalb der Brücken, wo ihre Einsamkeit nicht so einsam wirkt und die Brücken nicht so brückig.

Doch dieser Blick stellt mich nicht zufrieden. Ich weiß, dass er nicht der Wahrheit entspricht, hinter der ich her bin. Ich will der Birke wieder näher kommen. Autos rauschen über die Brücken an ihr vorbei. Ich warte einen verkehrsfreien Moment ab, überquere die Fahrbahn, um mich der Welt der einsamen Birke wieder zu nähern.

Mein neuer Anblick ist nur eine Momentaufnahme, denn es treibt mich weiter. Ich krieche an den Brücken hinunter ans Ufer des Bachs. Dort schleiche ich herum und weiß nicht recht, wie mir geschieht.

Dunkel ist es unter den Brücken, obwohl die Sonne scheint. Ich bekomme Angst und kauere mich auf den Betonsockel am Ufer. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zur einsamen Birke gegenüber. Ich bezweifle nicht mehr ihre Existenz. Ich erkenne mich selbst in ihr. Ich spüre meine Angst vor dem Isoliertsein, vor dem Getrenntsein, vor dem Nichtverbundensein.

Doch statt in eine Angststarre zu verfallen, gehe ich zum mutigen Angriff über. Ich springe in den Bach und schwimme zur Birke hinüber. Ich hätte oben über eine der Brücken zu ihr gehen können, aber das hätte viel zu lang gedauert und den rollenden Autoverkehr auf den Brücken nur unnötig in unsere Beziehung involviert. Außerdem hätte das meiner Gefühlslage nicht entsprochen. Denn ich kann mich unmöglich von der Birke wieder entfernen, keinen Zentimeter, so hingezogen fühle ich mich zu ihr. Ist es Liebe?

Durchnässt steige ich am anderen Ufer aus dem Bach, gehe zur Birke und umarme ihren Stamm. Bang frage ich sie: Birke, wie hältst du das aus, immer so alleine zwischen den Brücken?

Ich bin nicht alleine, sagt die Birke: Der Bach fließt an mir vorbei. Als ich klein war, war es sehr windstill und dunkel unter den Brücken, und er mein einziger Begleiter. Er sagte zu mir: Schau nach oben – der Himmel ist über dir. Durch ihn ist alles mit allem verbunden. Ich wuchs dem Himmel entgegen, über die Brücken empor. Seit ich größer bin, spüre ich den Wind. Manchmal kommt er von meinen Geschwistern, die etwas weiter nördlich stehen, und sie grüßen mich. Manchmal geht er von mir zu ihnen, und ich grüße zurück. Und manchmal bringt er mir etwas ganz Neues, der Wind. So ist jeder Tag ein Erlebnis, hier bei den Brücken.