Wie aus vererbter Angst Miserablismus wird

Es gibt etwas, sagt Vorderbrandner, das ich vererbte Angst nenne. Es steckt in mir und in vielen anderen in diesem Land. Über die vererbte Angst in mir kann ich Folgendes sagen: Mein Urgroßvater hat große Angst erfahren im Ersten Großen Krieg und sie in die Familie eingebracht. Mein Großvater war erster Erbe der Angst meines Urgroßvaters, um dann selbst die große Angst im Zweiten Großen Krieg zu erfahren. Mein Vater war dann Erbe der Angst aus zwei großen Kriegen, ohne selbst diese große Angst zu erfahren. Er hatte sie im Blut. Das Konzept der großen Angst dominierte sein Leben. Ein anderes Konzept kannte er nicht. Es klingt fatal und es ist auch so: Er sollte das Konzept der großen Angst bis zu seinem Tod nicht aus sich herausbekommen.

Dann kam ich als nächster Angst-Erbe, der nicht den geringsten Hauch der tatsächlichen großen Angst im Krieg selbst erlebt hat. In den 1980er-Jahren, dem Jahrzehnt meiner Kindheit, sangen viele andere von der Angst, zum Beispiel Die Schmidts und die Jungs aus der Tierhandlung. Am Ende dieses Jahrzehnts, am Beginn meines Übergangs zum Erwachsenwerden, veröffentlichten die Jungs aus der Tierhandlung ein Lied namens Miserablismus, das so einprägsame Aussagen enthält wie: Verneine Glück als eine Option und du wirst nicht mehr enttäuscht sein! Liebe ist ein unmöglicher Traum. Dein Leben ist als Drama inszeniert: Jede Vorstellung hat kein glückliches Ende aber eine deprimierende Botschaft. Blicke um der Sache willen immer finster drein (Angst! Angst! Angst!), das zeigt der Welt deine Substanz und Tiefe! Das Leben ist ein unmöglicher Entwurf und Liebe ein nicht wahrnehmbarer Traum. Es wird die Philosophie des sogenannten Miserablismus entworfen, eine Art Manifest der kultivierten Angst. Und diese Philosophie wurde meine Religion für mein beginnendes Erwachsenenleben. Natürlich war mir damals nicht bewusst, dass ich ein Anhänger des Miserablismus geworden war. Es gab für mich einfach kein anderes Leben, so sehr war die große Angst meiner Väter in mir verankert. Leben bedeutete Miserablist sein, nichts anderes. Ich unterfütterte diese Lebensform mit der Musik der Schmidts und der Jungs aus der Tierhandlung. Apropos Schmidts: Vor etwa zehn Jahren wurde mein miserablistisches Elend so groß, dass ich Schmidts-Platten hervorkramte und das Lied Der Himmel weiß wie elend mir zumute ist in Dauerschleife anhörte. Ich war auf dem Höhepunkt des Miserablismus angelangt, musste jedoch erkennen, dass Miserablismus in zu harten Dosen zum Tod führt. In der Todesangst, der scheinbaren Erfüllung jedes Miserablisten, entschied ich mich für das Leben.

Nun war der Gang ins Leben jedoch nicht so einfach, denn die geerbte Angst stand mir hartnäckig im Weg, wie ein großer und steiniger Berg. Trotzdem begab ich mich auf Wanderung, kletterte über steile Hänge und kroch durch dunkle Höhlen, weil ich eine Ahnung von dem bekommen hatte, was ein Leben ohne geerbte Angst sein könnte. Angst an sich, sagt Vorderbrandner, ist ein gutes lebenserhaltendes Gefühl, zum Beispiel die Angst vor dem Tod im Krieg. Wenn sich die Angst jedoch im Körper festsetzt wie Krebs, ohne ersichtlichen äußeren Grund, wird sie zum lebenszersetzenden Albtraum.

Es war ein harter Weg über und durch diesen steinigen Berg. Auf steilen Hängen und in dunklen Höhlen begegnete ich dem Manifest meines bisherigen Lebens, dem Lied Miserablismus der Jungs aus der Tierhandlung. Wie magisch angezogen tauchte ich tief ein in die Tiefen dieses Lieds. Bei diesem Tiefgang entdeckte ich, dass im Refrain gesungen wird: Miserablismus ist und ist nicht, und im Mittelteil: Aber wenn „ist“ nicht war und „ist nicht“ war, dann kannst du nicht sicher sein: Aber du könntest große Freude finden. Eine Logik, die für mich plötzlich sehr logisch war, obwohl ich sie so viele Jahre überhört hatte. Jetzt war mir klar: Die Jungs aus der Tierhandlung singen gar keine Hymne auf den Miserablismus, sondern eine Persiflage auf die Lieder des Elends der Schmidts. An diesem Tag, auf dem steilen Hang am Eingang zur dunklen Höhle, erkannte ich den Miserablismus als verwerfungswürdiges Konzept und begann voll Zuversicht an ein Leben zu glauben, in dem ich große Freude finden kann. An ein freies und selbstbestimmtes Leben jenseits der vererbten Angst, sagt Vorderbrandner.

Schorsch Dorsch

Bei Dorschs gibt es immer Fisch. Was naheliegend ist, aber ich finde es trotzdem komisch.

Wir sitzen an der Tafel bei Dorschs mit dem Fischbesteck in der Hand, als Fini Herrn und Frau Dorsch fragt: „Warum haben Sie Ihren Sohn eigentlich Schorsch genannt?“

„Weil meine Urgroßmutter Französin war“, sagt Frau Dorsch.

Fini und ich schauen uns fragend an, einig darin, dass diese Antwort für uns keinen Sinn ergibt. Frau Dorsch, als aufmerksame Beobachterin unserer nonverbalen Kommunikation, fügt eine Erklärung hinzu:

„Schorsch heißt eigentlich Georges, zu Ehren meiner Urgroßmutter, aber alle nennen ihn Schorsch. Schorsch ist halt die eingebayerte Form von Georges, entstanden wohl zur Napoleon-Zeit, als die Franzosen in Bayern herrschten.“

Fini und ich schauen zu Schorsch, der mit seiner Gabel lustlos am Dorsch auf seinem Teller herumstochert.

„Was wir heute essen, ist übrigens Franzosendorsch, ganz nach dem Geschmack von Schorsch“, sagt Frau Dorsch dann noch.

 

Auf der Suche nach der Realität

Lieber Georg,

seit über zweihundert Episoden bist du nunmehr ein treuer Begleiter meiner Schreibversuche. Du hast meine Texte auf den Kopf gestellt und wieder zurück auf die Füße, hast sie geschüttelt und gerüttelt und von allen Seiten betrachtet wie eine geliebte Frau. Heute möchte ich den Spieß umdrehen und mich mit dir befassen, und zwar mit der konkreten Frage, ob du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt bist.

Ausgangspunkt dieser Frage war eine Zugfahrt nach Ismaning, die mich an Daglfing vorbeiführte. Als der Zug in Daglfing hielt, fiel mir mein Text von letzter Woche ein, in dem ein gewisser Ger aus Dingolfing der Mann einer Trude aus Ring – entschuldige – einer Trude aus Trudering ist. In Daglfing wurde es mir klar wie eine Nacht voller Sterne: Ger ist nicht aus Dingolfing, sondern aus Daglfing, einem Nachbardorf Truderings. Wie sonst hätte er Trude kennenlernen können! Dingolfing ist doch viel zu weit entfernt von Trudering! Da habe ich ziemlichen Unsinn geschrieben letzte Woche, den ich hiermit korrigiere:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Daglfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Ich habe den Text also nun aus der Fiktion in die Realität geholt. Um mich endgültig von der Realität dieser Tatsachen zu überzeugen, fragte ich den Mann, der neben mir im Zug saß: „Kennen Sie Ger und Trude?“ und er sagte: „Nein, ich komm aus Buxtehude“, was ein gewisser Rückschlag in meiner Realitätsfindung war. Außerdem fiel mir ein, dass im Text von letzter Woche nicht nur Ger und Trude, sondern auch drei Brüder mit dem gleichen Vornamen Georg und den drei unterschiedlichen Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer vorkommen. Da wurde mir klar, dass du auch die Realität dieser drei Brüder anzweifeln würdest. Eines ist klar: Diese drei Brüder sorgen für mächtig Unordnung in einer Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit der Brüder unterschiedliche Vornamen und gleiche Nachnamen trägt. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle Brüder gleiche Vornamen und unterschiedliche Nachnamen trügen! Da kennte man sich ja überhaupt nicht mehr aus in dieser Welt!

Zusätzlich führen zwei der drei Brüder sowohl mit Frauen als auch mit Männern intime Beziehungen. Diesen Satz muss ich wohl nicht nur gedacht, sondern ausgesprochen haben, denn plötzlich sagte der Mann, der mir im Zug gegenübersaß: „Aha, Schwuchteln also!“, stand wutentbrannt auf und verließ in Englschalking den Zug. „Nein nein“, sagte ich, „das sollte man etwas differenzierter sehen“, doch das hörte der wutentbrannte Mann nicht mehr, sondern nur der Mann neben mir aus Buxtehude. „Ja ja“, sagte ich zum Mann aus Buxtehude, „es ist nicht leicht für den dritten Bruder, der neulich mit aller Bestimmtheit und Zivilcourage zu seinen Brüdern sagte: Ich steh nur auf Muschis, und das ist gut so!“ In Zeiten der Me-Too-Debatte eine mutige Aussage, und ich hatte Glück, dass ich diese Aussage nur zitierte, denn sonst hätten sich sicher viele Frauen im Zug sexuell belästigt gefühlt.

Als ich in Ismaning aus dem Zug stieg, sah ich am Bahnsteig einen Mann, der mir bekannt vorkam. Ich fragte ihn: „Kennen wir uns?“ Er sagte: „Ich glaube nicht. Ich bin Ger aus Dingolfing.“ – „Dann habe ich Sie verwechselt“, sagte ich: „Ich kenne nämlich nur einen Ger aus Daglfing.“

Du siehst also, wie ich immer auf der Suche nach der Realität bin und das Fiktionale im Grunde verabscheue. Wenngleich sich die Realität in jeder Sekunde ändert und es nicht leicht ist, ihr zu folgen. Die Fiktion aus schwarz und weiß erscheint erträglicher und beständiger als die graue Realität. Wie sonst könnten weiße Männer der Fiktion erliegen, mehr wert zu sein als schwarze Männer und als Frauen jeglicher Couleur?

Ich hoffe, ich konnte dich von der Realität meines Textes überzeugen und kehre nun zu meiner Ausgangsfrage zurück: Bist du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt?

Bis bald, Dein Emil

Drei Brüder und der Ring am Fing

Es waren einst drei Brüder, die hießen mit Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer. Als gemeinsamen Vornamen hatten sie Georg. In ihrer Kultur war es üblich, sich beim Vornamen anzusprechen. In ihrem speziellen Fall jedoch war man dazu übergegangen, sie beim Nachnamen anzusprechen.

Um ihre individuelle Entwicklung zu fördern, machten die Brüder oft unterschiedliche Dinge. So war Stürz nach Dingolfing gefahren, während Türze nach Aubing und Ürzer nach Trudering gefahren war. Als sie wieder zurückgekehrt waren von ihren Ausflügen, hatten Stürz und Türze nichts Besonderes zu berichten. Ürzer jedoch, vor allem weil er wusste, dass Stürz in Dingolfing gewesen war, berichtete von seinem Ausflug nach Trudering Folgendes:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Dingolfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Trudering