Funklöcher: Rechte und Pflichten

Brotlose Kunst – dieser Begriff schwirrt mir oft durch den Kopf. Vorderbrandner und ich können uns unser Schreibbüro nur leisten, weil wir alle möglichen anderen Jobs machen. Außerdem hat es uns sehr geholfen, dass Vorderbrandner, den ich inzwischen zu meinem Teilhaber gemacht habe, das Erbe seines reichen Onkels aus Amerika erhalten hat, das er fast vollständig in unser Büro investiert hat.

Trotzdem ist unsere Finanzlage nach wie vor angespannt. Deshalb freut es mich sehr, dass mich Modern Life – laut Eigendefinition das Onlinemagazin für modernes Leben – damit beauftragt hat, wöchentlich eine Kolumne zu schreiben. Es wurde mir gesagt, dass meine bisherigen Texte einen anderen Blick auf die Dinge werfen würden, was genau die Philosophie des Magazins widerspiegelt. Außerdem wurde ich damit beauftragt, fremde Texte ad-hoc zu redigieren, was ich als angenehme Möglichkeit für zusätzlichen, artverwandten Verdienst sehe.

Nach Ideen für meine Kolumne suchend, schlage ich die Zeitung auf und lese: Der neue Minister für digitale Infrastruktur fordert das flächendeckende Bürgerrecht auf Funklochfreiheit. Wenig inspiriert von dieser Nachricht, schlage ich die Zeitung wieder zu und beschließe, draußen nach Ideen weiterzusuchen. Ich stecke meinen Notizblock in meine Tasche zwecks Ideenskizzierung und fahre mit dem Fahrrad in den Nachmittag.

Weiße Wolken ziehen am blauen Himmel, als ich die alte Trambahntrasse entlangfahre, die nun ein mit Sträuchern und Büschen durchsetzter Grünstreifen ist. Als die U-Bahn noch oberirdisch fuhr, skizziere ich in meinen Block. An der ehemaligen Endhaltestelle angekommen, deren Schleife noch gut erkennbar ist, verkeilt sich die Schaufel eines Baggers in die Mauern eines Hauses, um es abzureissen. Ein älterer Mann beobachtet den Abriss und sagt mir in mein fragendes Gesicht: Das war ein Haus für Vertriebene aus dem Zweiten Weltkrieg – für Sudetendeusche, für Schlesier. Hier bin ich aufgewachsen. Neben dieser Abrissbaustelle steht ein Containerbau für Flüchtlinge aus dem Afghanistan- und Syrienkrieg. Flüchtlinge gestern und heute, notiere ich in meinen Block, als mögliches Thema für meine Kolumne.

Hinter diesen Bauten hört die Stadt auf und geht unmittelbar über in eine weite Heidelandschaft. Ich komme gerne hierher und streune im Weit der Heide: der weite Himmel über mir; die alleinstehenden Kiefern im Gräsermeer; die weidenden Schafe. Aufgeregt höre ich einen Kiebitz rufen. Der Kiebitz am Rande der Stadt, schreibe ich in meinen Ideenblock.

Erholt und voller Ideen komme ich zuhause an, als ich zuallererst auf mein Handy blicke. Ich hatte nämlich vergessen, es auf meinen Ausflug mitzunehmen. In meiner E-Mail-Inbox sechs neue Nachrichten von Modern Life:

Auftrag zum Redigieren des Textes: Hund macht Häufchen und Herrchen macht's nicht weg - Bürgerinitiativen fordern höhere Strafen
Auftrag zum Redigieren des Textes: Hitze im Frühling - steuert die Erde auf ihren Untergang zu?
Auftrag zum Redigieren des Textes: Brustvergrößerung - Tipps und Adressen
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Hund macht Häufchen und Herrchen macht's nicht weg - Bürgerinitiativen fordern höhere Strafen
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Hitze im Frühling - steuert die Erde auf ihren Untergang zu?
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Brustvergrößerung - Tipps und Adressen

Ich lege das Handy zur Seite und mache mir zunächst einen Teller Nudeln, um dann gestärkt die Aufträge abzuarbeiten. Als ich vom Essen zurückkomme, ist eine weitere E-Mail von Modern Life angekommen:

Betreff: Sperre Ihres Auftragskontos

Sie haben die vereinbarte Responsezeit für Ihnen erteilte Aufträge überschritten. Ihr Konto ist   deshalb für weitere Aufträge gesperrt.

Hastig mache ich mich an die Arbeit. Mir fällt der Zeitungsartikel bezüglich Bürgerrecht auf Funklochfreiheit wieder ein und ich leite daraus eine Bürgerpflicht zur Funklochfreiheit ab. Ich werde mich deshalb in Zukunft dieser Pflicht gewissenhaft unterwerfen und mein Handy auf alle Ausflüge mitnehmen, um den schlechten Start bei Modern Life wieder auszubügeln.

So lebe ich nun seit einiger Zeit, Funklöcher tunlichst vermeidend.

Jetzt ist der Sommer da, Urlaubszeit! Ich informiere Modern Life, dass ich für zwei Wochen auf eine Mittelmeerinsel reisen werde und dabei meiner Pflicht zur Funklochfreiheit nicht nachkommen werde.

„Aber Sie werden Ihr Mobilfunkgerät doch auf die Insel mitnehmen!“

„Doch, ja“, sage ich: „Allerdings gibt es auf der Insel noch nicht das lückenlose Recht auf Funklochfreiheit.“

„Reden Sie keinen Unsinn! Das ist mittlerweile EU-weit durchgesetztes Recht!“

Gegen diese wasserdichte, kein Funkloch zulassende Aussage kann ich nichts einweden. Also muss ich die Hosen runterlassen und verrate Modern Life ein großes persönliches Geheimnis:
„Es ist ein Erholungsrital von mir, auf der Mittelmeerinsel am kilometerlangen Strand nackt auf- und abzulaufen. Ich habe festgestellt, dass ich so neue Energie tanke.“

„Aber Sie können Ihr Mobilfunkgerät doch mitnehmen bei Ihren Läufen!“

„Wo soll ich es denn einstecken, wenn ich nackt bin?“

Ich vernehme ein Zähneknirschen meines Gegenübers und denke mir: Das moderne Leben ist ziemlich angespannt.

Trotz dieser Anspannung werde ich schließlich auf die Mittelmeerinsel entlassen, mit der Erlaubnis, selbstkreierte Funklöcher am Strand aufzusuchen. So nehme ich jedenfalls an.

Auf der Reise auf die Insel, als das Schiff auf hohe Wellen trifft, bange ich plötzlich um mein Recht auf Nacktheit. Würde die Bekleidungsindustrie eine Bekleidungspflicht einführen, um so ihren eigenen Absatz anzukurbeln und gleichzeitig der Medienindustrie bei ihrem Kampf um Funklochfreiheit beizustehen? Auf der Insel angekommen, öffne ich aus schlechtem Gewissen sofort die Inbox für meine E- Mails. Ich habe eine neue Nachricht von Modern Life erhalten:

Betreff: Beendigung Ihres Auftragsverhältnisses

...hat unsere Redaktion festgestellt, dass die Themenauswahl Ihrer Kolumne (Als die U-Bahn noch Trambahn war, Schlesische und afghanische Flüchtlinge und ihre Behausungen am Rande der Gesellschaft, der Kiebitz am Rande der Stadt usw.) nicht konform ist mit den Inhalten unseres Magazins. Wir haben deshalb beschlossen, das Auftragsverhältnis mit Ihnen zu beenden.

Fälscher, Stürzer und Schütter

Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, ist ein Lebensgrundsatz eines Mannes namens Fälscher. Die Statistik, aus der hervorgeht, dass Fliegen mit dem Flugzeug sicherer ist als Fahren mit dem Fahrrad, so Fälscher, geht davon aus, dass Terroranschläge auf Flugzeuge und militärische Abschüsse von selbigen keine Unfälle sind und daher nichts mit Sicherheit zu tun haben.

Ein Mann namens Stürzer, der den Ausführungen Fälschers aufmerksam gelauscht hat, meint daraufhin: Dann war es also kein Unfall, als ich – die Ostukraine mit dem Fahrrad durchquerend – von selbigem stürzte, weil ich von russischen Militärs beschossen wurde.

Nein, ganz sicher nicht, entgegnet Fälscher Stürzer: Wenn Sie vom Fahrrad stürzen, ist das allein auf ihren Namen zurückzuführen.

Das kann ich so nicht stehen lassen, sagt Stürzer. Es ist nämlich so: Stürzen bedeutete im Mittelhochdeutschen so viel wie heute schütten. Der Stürzer war der Mann, der das Korn vom Feld zur Mühle brachte und es zum Mahlen hineinschüttete. Hätte man damals unser heutiges Deutsch gesprochen, wären meine Vorfahren Schütter genannt worden.

Sie würden heute Schütter genannt werden, sagt Fälscher daraufhin, das schüttere Haar von Stürzer betrachtend.

Vielleicht, meint Stürzer, die Schütterkeit seines Haars mit seinen Fingern betastend. Aber in zehn Jahren müsste ich mich vielleicht von Schütter in Glatzmann umbenennen.

Sagen Sie: Wie haben Sie eigentlich den Beschuss der russischen Militärs in der Ostukraine auf ihrem Fahrrad überlebt? fragt Fälscher nun Stürzer.

Ich habe mich so erschrocken, dass ich rechtzeitig vom Fahrrad stürzte und mich alle Geschosse verfehlten.

War es dann vielleicht doch ein Unfall? räsoniert nun Fälscher, und nimmt sich vor, die Unfallstatistiken in der Ostukraine zu seinen künftigen Fälschungsobjekten zu machen.

Frühling mit Annabel

Es war der Frühling, dem ich begegnete, ja, er muss es gewesen sein. Aus dem Boden sprossen die Veilchen und Schlüsselblumen. Beim Blick nach oben durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm am Himmel.

Mitten in diesem Frühling dachte ich an das Bad mit Annabel, das ich jedoch im Sommer verortete. Mir fiel ein, dass wir beide nackt waren bei diesem Bad, und es erschien mir merkwürdig, dass mir das jetzt einfiel, dass wir nackt waren bei diesem Bad, denn bisher waren nackt und nichtnackt keine Kategorien für mich gewesen, was dieses Bad betraf. Während ich an dieses Bad mit Annabel dachte, fand ich mich plötzlich im Bach wieder. Ich badete im Bach. Durch die Frühlingsluft erschien, als ob sie wusste, dass ich gerade an sie gedacht hatte: Annabel. Sie stand am Ufer, und als ich sie sah, dachte ich wieder an unser Bad im Sommer, als sich alles öffnete und der weite Wind des reifen Sommers über das Getreidefeld strich. Wir hatten viel mehr entblößt als unsere Körper. Wir waren unterwegs zu unseren Seelen, zum Grund unseres Seins. Dabei begegneten wir einem Wirrnis an Gefühlen, und aus Angst, uns in diesem Wirrnis zu verstricken, flohen wir vor diesem reifen Sommertag, nicht ahnend, dass die Flucht die Verstrickung vergrößert.

Doch zurück zu meinem Bad im Bach. Ich badete also im Bach, im Frühling und nicht im Sommer. Annabel stand am Ufer und zog ihre Jacke fester an sich. Ja, ich bin mir sicher, sie zog ihre Jacke fester an sich und ich dachte: Es muss kalt sein, wenn Annabel ihre Jacke fester an sich zieht und ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden. In diesem Moment, als ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden, begann Annabel zu laufen, über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Sie tanzte und drehte sich, leicht wie der Wind. Sie begann sich auszuziehen, bis sie nackt war, tanzte und drehte sich weiter. Ich stieg aus dem Bach und lief zu Annabel. Als ich näherkam, bemerkte ich, dass sie weinte und schluchzte, und ich erwartete von mir, dass ich sage: Wein doch nicht, Annabel!, aber ich sagte nichts. Ich fand das Weinen und Schluchzen schön. Es hatte etwas Befreiendes und strich wie der weite Wind des reifen Sommers über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Ich betrachtete Annabel und strich mit meinen Händen über ihre Haut. Sie lächelte.

Ich erschrak, ohne einen Grund dafür zu haben, ich erschrak grundlos und sagte: Nein Annabel, das sind nicht die Knospen des Frühlings! Das sind die reifen Früchte des Sommers! Ich lief davon und Erdwälle taten sich vor mir auf, riesige Erdwälle. Ich grub mich geradewegs hinein in diese Erdwälle, tiefer und tiefer, und es wurde dunkler und dunkler. Ich grub weiter und weiter, bis ich ein kleines Licht in der Ferne sah. Ich kämpfte mich vorwärts zu diesem Licht, und als ich es erreicht hatte, war ich umringt von einer Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm über mir und dachte: Ein Sommer mit Annabel, das wäre schön!

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