Fortsetzung von Sucht I
Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne mein Smartphone zu sein. Es gab mir Halt. Aber ich spürte (und dieses Spüren gab mir Hoffnung, nicht unheilbar krank zu sein), dass ich es loslassen musste, dass der Therapievorschlag des Doktors meine einzige Rettung ist. Ich schrieb noch eine E-Mail, um die Teilnahme an einem digitalen Schreibwettbewerb abzusagen:
Liebes digitales Schreibwettbewerbteam, leider bin ich digitalsüchtig und befinde mich gerade auf Entzug, also auf strikt analoger Diät. Ich schreibe verbotenerweise diese E-Mail. Viel Spaß in der Welt des digitalen Wahnsinns!
Anschließend klappte ich das Notebook zu, mit mulmigem Gefühl, und begab mich in die analoge Welt. Ich packte die nötigsten Sachen: Brot, Käse, Wurst, Gemüse. Schlafsack, Klamotten, Handtuch, Seife, Zahnbürste. Stirnlampe. Ein Notizbuch mit Stift zum Schreiben. Ein weiterer Stift als Reserve. Außerdem packte ich den Don Quijote in der deutschen Übersetzung von Susanne Lange ein.
Dann machte ich mich auf den Weg zur Hütte, mit der Wegbeschreibung auf Papier in der Hand. Ich ging durch hügeliges Waldgelände, das von einem Labyrinth von Wegen durchzogen wird. Es ging auf und ab, durch Nadel-, Laub- und Mischwald. An Weggabelungen und Kreuzungen blickte ich auf das Blatt Papier mit der Wegbeschreibung und versuchte herauszufinden, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin. Irgendwann hatte ich keine Ahnung mehr, in welche Richtung ich gehe. Ging ich im Kreis? Würde ich die Hütte finden oder hier irgendwo im Freien auf dem Waldboden nächtigen? Erschöpft und der Verzweiflung nahe kam ich an eine Weggabelung, an der ein großer Stein lag. Großer Stein! Ich blickte auf die Wegbeschreibung und las:
An der Weggabelung mit dem großen Stein folge der rechten Abzweigung, und nach wenigen Minuten erreichst du eine kleine Anhöhe, auf der die Hütte steht.
So war es! Außer mir vor Freude tanzte ich um die Hütte. Ich war erschöpft, glücklich erschöpft. Ich hatte es geschafft! Ich ließ den Rucksack zu Boden und sperrte auf. Ich holte Wasser aus dem Brunnen, erfrischte mich damit, trank es gierig, aß von meinem Proviant, bereitete mein Nachtlager und schlüpfte in meinen Schlafsack.
Nach zwei Tagen besuchte mich Vorderbrandner, so hatten wir es ausgemacht. Auch er war lange herumgeirrt, erzählte er mir, bis er die Hütte gefunden hatte. Aber das Herumirren hatte ihm Spaß gemacht. Er sagte, das Leben sei ein Herumirren, bei dem man am Schluss doch immer den richtigen Weg findet, wenn man ihn finden will. Während er das sagte, packte er die Kartoffeln aus, die er mir mitgebracht hatte.
Vorderbrandner: Ich hatte ihn immer für einen Irren gehalten. Jetzt auf der Hütte hatte ich den Eindruck, dass ich der Irre bin und nicht er. Er irrt zwischen den Welten, aber lässt sich von keiner vereinnahmen, wie ich von der digitalen. Vorderbrandner ist immer Vorderbrandner, da kann passieren was will. Einmal sagte er, er sei Wolf in den Welten und Adler über den Welten zugleich. Ich hielt das für Schwachsinn und Größenwahn, aber wahrscheinlich war es die Wahrheit.
Aktuell ist Vorderbrandner mein Mittler zur digitalen Welt, denn ein Schreibender wie ich kann heutzutage ohne digitale Medien seine Inhalte nicht kundtun. Ich diktierte ihm also auf der Hütte, während wir Kartoffeln mit Waldpilzen aßen, diesen Text, den Sie jetzt lesen und den Vorderbrandner hoffentlich von seinem Notizbuch unverändert ins Digitale übertragen hat.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit verließ Vorderbrandner meine Hüttenwelt. Wir umarmten uns herzlich. Ich sah ihm nach, wie er im Wald verschwand. Wieder alleine, ging ich auf den höchsten Punkt der Anhöhe, lehnte mich an die Buche die dort steht und blickte durch die umstehenden Bäume in das dämmrige Land. Ich besprach mit der Buche ernste und heitere Dinge, schöne und häßliche Dinge, die mir aber entfallen sind und von denen jetzt nur mehr die Buche weiß.
Morgen wird mich Josefine besuchen. So haben wir es ausgemacht. Ich bin aufgeregt und freue mich darauf. Küssen und Berühren sind sehr analoge Dinge, wenn nicht die analogsten Dinge der Welt. Von diesen Dingen hatte ich mich bereits entwöhnt, in meiner digitalen Sucht.