Org Geder

Einer meiner Klassenkameraden hieß Georg Eder. Er war aber kein Kamerad. Er war ein isoliertes Subjekt in der Klasse. Keiner mochte ihn. Ich schämte mich für Georg, so peinlich war mir seine Erscheinung. Die dicke Hornbrille in seinem Gesicht wäre vielleicht noch zu verschmerzen gewesen, aber wie er ging, das ertrug ich nicht. Er hinkte nicht, und er hinkte doch. Alles schien schief zu sein an seinen Beinen. Seine Füße setzte er auf den Boden mit schiefem Tritt. Es war ein Wunder, dass er nicht bei jedem Schritt aus dem Gleichgewicht kam und hinfiel. Der hat Klumpfüße, sagte Peter, der Rudelführer in der Klasse und in dieser Funktion ein Verkünder der Wahrheiten. Die restliche Klasse stimmte dieser Wahrheit bei: Georg Eder hat Klumpfüße, so wie der geht!

Eines Tages war die ganze Klasse beim Bürgermeister im Rathaus zu einem Empfang eingeladen. Natürlich war Georg Eder auch mit dabei, er war ja Teil der Klasse. Er schleppte seine krummen Beine mit uns in das Rathaus. Wir standen versammelt vor dem Bürgermeister. Dem Bürgermeister muss Georg aufgefallen sein, denn er ging geradewegs auf ihn zu und fragte ihn nach seinem Namen. Georg bekam ein hochrotes Gesicht, schluckte so angestrengt, als müsse er seinen ganzen Mageninhalt zurückhalten, um anschließend herauszupressen: Org Geder.

Org Geder hatte dieser Idiot gesagt! Org Geder. Nicht mal seinen eigenen Namen konnte er sagen! Einige kicherten. Ich schämte mich in Grund und Boden für Georg, wie er dastand, mit seiner Hornbrille und den schiefen Beinen. Es war erbärmlich anzusehen. Unerträglich.

Auch der Bürgermeister schien peinlich berührt zu sein, denn er wandte sich sofort wieder von Georg ab und unserer Lehrerin zu. Während also der Bürgermeister mit unserer Lehrerin sprach, was er ohnehin, so mein Eindruck, lieber tat als mit uns Schülern zu sprechen, denn unsere Lehrerin war sehr hübsch und ich heimlich in sie verliebt, dachte ich über Georgs Versprecher nach. Aufgrund meines Nachdenkens erschien er mir jetzt logisch, der Versprecher: Georg hatte vor Nervosität die Vorsilbe ge seines Vornamens verschluckt. Diesen Verschlucker wollte er korrigieren, indem er die verschluckte Silbe seinem Nachnamen Eder voranstellte. In seinem gestressten Kopf war es scheinbar eine logische Vorgehensweise, die einzig richtige Möglichkeit, Org Geder zu sagen. Die Welt des Georg Eder – eine konfuse Welt, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Und die mir doch so nahe ging.

Nach dem Empfang standen wir noch eine Weile vor dem Rathaus herum. Georg dagegen hinkte alleine davon mit seinen krummen Beinen. Peter rief ihm hinterher: Org geder, der Eder! Was in unserem Slang so viel bedeutete wie: Arg, entsetzlich, grauenvoll geht er, der Eder! Und es stimmte, ja: Es war entsetzlich, grauenvoll anzusehen, wie Georg mühsam und einsam seines Weges ging. Ich werde dieses Bild nicht mehr vergessen: wie er mit seinem krummen Beinen sich vom Rathaus wegkämpfte und wir ihm alle nachsahen. Peter hatte wieder einmal die Wahrheit gesprochen.

Seit diesem Tag hieß Georg Eder in der Klasse nur noch Org Geder. Und ich habe an diesem Tag beschlossen, mich nicht mehr für Georg zu schämen, sondern ihn einfach zu ignorieren. Die Welt des Org Geder war mir zu erbärmlich. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben.

Peter, der ehemalige Rudelführer in unserer Klasse, ist aktuell in einem Kreisverband für die AfD aktiv. Der Verkünder der Wahrheiten. Was aus Georg Eder geworden ist, weiß ich nicht. Wieso will ich das wissen? Wieso kann ich Org Geder und seine konfuse, entsetzliche, grauenvolle Welt nicht einfach vergessen?

Neben mir der Nachmittag (Ruf der Nacht)

Neben mir der Nachmittag, nicht mit mir. Ich stehe neben ihm, als wäre ich aus ihm herausgefallen. Er vergeht ohne mich, und ehe ich mich berapple, ist er schon wieder vorbei. Es kommt der Abend, aber auch mit ihm ist es nicht besser. Abweisend und kalt präsentiert er sich mir und vergeht, ohne das ich ihn leben kann. Dann kommt endlich die Nacht, in der ich mich meiner Muse hingeben kann – der Schlaflosigkeit. In ihr finde ich Zeit für mich, werde nicht getrieben vom Getriebe des Tages. In ihr finde ich Zeit, Geschichten wie diese zu fabulieren:

Es war einst ein Sohn, dessen Vater hieß Rudolf Ruf. Zu Ehren des Vaters wurde der Sohn Rudolf genannt, zu Ehren des Familiennamens Rufus. Der Sohn hieß also Rudolf Rufus Ruf. Später ging der Sohn ins Verlagsgeschäft und gründete den rururu-Verlag.

Oder ich tauche ein in Zeilen wie diese:

Im welken Walde ist ein Vogelruf,
der sinnlos scheint in diesem welken Walde.
Und dennoch ruht der runde Vogelruf
in dieser Weile, die ihn schuf,
breit wie ein Himmel auf dem welken Walde.
(Rilke)

Ich stelle mir vor, wie ich bin, in diesem welken Walde, hineingeschmiegt in den Vogelruf, der mich trägt.

All das ermöglicht mir meine Schlaflosigkeit. In ihr finde ich zu mir, bin ganz ich selbst.

Nach einer Nacht voller Müßiggang mündet bald der Morgen vor meinem Fenster. Der Vormittag liegt vor mir. Ich sollte dringend schlafen, bevor mich der Sog des Tages wieder erfasst, ich mich darin verliere und wieder neben mir stehe. Doch halt:

Süße Schlaflosigkeit,
weiche noch nicht –
du bist so schön:
Ich liebe dich!

 

Münchner Fürstenwege, Teil 3

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, fuhr mit seiner Begleiterin Sophia auf der Pferdekutsche die Fürstenrieder Straße entlang. Die Kutsche wirkte wie ein Fremdkörper aus einer anderen Zeit. Sie bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Kilometern pro Stunde fort, die Autos rauschten an ihr vorbei. Die zwei Pferde zogen die Kutsche mit rhythmischen und anmutigen Bewegungen vorwärts.

Als sie die Autobahn nach Lindau überquerten, schaute Oskar zu Sophia. Sie schauten sich in die Augen, woraufhin Sophia Oskars Hand nahm. Ein heißer Schauer durchzuckte daraufhin Oskar am ganzen Körper, als stünde Sophias Hand unter Starkstrom. Das war keine Kutschfahrt mehr, das war ein wilder Ritt! Was passierte hier? War der Wahnsinn ausgebrochen? Er war ausgebrochen, in Oskars Kopf. La Folie! Mit diesem Wahnsinn in Oskars Kopf ging es weiter die Fürstenrieder Straße entlang.

Schließlich erreichten sie den Waldfriedhof, dessen hohe Bäume sich rechts der Fürstenrieder Straße auftürmen. In Oskar tobte es, doch er versuchte, sich gefasst zu geben und erläuterte:
„Das ist der Vorbote des Schlosses. Der ehemalige Schlossforst. Seit gut hundert Jahren der Waldfriedhof.“
„Wir sind also bald da?“
„Der Friedhof ist riesig. Wir fahren noch einige Kilometer an ihm entlang.“

Am Ende der Fürstenrieder Straße waren sie immer noch nicht am Ziel angekommen, sondern bogen nach rechts ab, in eine Lindenallee, und fuhren in südwestlicher Richtung weiter, zwischen Waldfriedhof und Autobahn nach Garmisch. Der Wahnsinn ging weiter. Sophia blickte zu den Autos auf der Autobahn, die parallel von ihnen, sehr nahe und doch seltsam entrückt, links vorbeizogen. Die Pferde zogen unverdrossen die Kutsche vorwärts.

„Jetzt fahren wir direkt auf das Schloss zu. Du musst dir das so vorstellen: Wir fahren unter einer Lindenallee. Auf der anderen Seite der Autobahn gab es früher genauso eine Allee. Eine doppelte Auffahrtsallee, wie in Nymphenburg.“ erläuterte Oskar. Er klammerte sich an seine Worte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.

„Und was war früher anstelle der Autobahn? Auch ein Kanal wie in Nymphenburg?“

„Nein, ein tapis vert, ein grüner Teppich. Ein breiter Grünstreifen, der damals, vor dreihundert Jahren, aufwendig angelegt und gepflegt werden musste. Es gab noch keine Rasenmäher, und so waren Gärtner im Dauereinsatz damit beschäftigt, mit Sensen den grünen Rasenteppich zu stutzen und zu hegen.“

„Lauter Möchtegern-Louis-XIV waren das, diese bayrischen Monarchen! Aber irgendwie waren sie auch sehr romantisch. Fous, complètement fous! Wahnsinn!“ Sophia lächelte.

Oskar machte große Augen: Fous, complètement fous! Wie Otto! La folie, der Wahnsinn! Sie blickten von der Kutsche über die Autobahn hinweg zur Lindenallee gegenüber und konnten erahnen, wie breit und imposant dieser grüne Teppich gewesen sein muss.

Die Autobahn führt zwar geradewegs auf das Schloss zu, macht kurz davor aber einen geradezu abweisenden Linksschwenk Richtung Süden, um ihren Weg fortzusetzen. Die Kutsche fuhr indessen geradeaus weiter ans Tor des Schlosses, wo Oskar und Sophie ihr entstiegen. Endlich angekommen! Würde der Wahnsinn jetzt ein Ende nehmen?

Dem Himmel war anzumerken, dass sich der Tag langsam auf sein Ende vorbereitete. Die Wolken waren verzogen, sodass die Luft im zartrosa Licht der letzten Sonne lag. Oskar hätte den Kutscher gerne in die königliche Schwaige des Schlosses geschickt, aber die gibt es nicht mehr, sodass er ihn stattlich bezahlte für die königliche Fahrt. Dann zog die Kutsche ohne die beiden ab.

Oskar ging auf das Eingangstor des Schlosses zu, auf dem ein königliches Wappen prangt.
„Ein seltsam verlassener Ort. Hierher sind immer Leute gekommen, die sich zurückziehen wollten: Maria Amalia von Österreich und Maria Anna Sophia von Sachsen, als sie Witwen waren. Und Otto, der unglücklichste König Bayerns.“
„Und wir“, sagte Sophia.
Sie drehte sich um und ging über den Schloßvorplatz Richtung Autobahn. Dort setzte sie sich auf eine Bank, die sehr prominent und einsam steht. Die Autos donnerten auf sie zu, um dann links abzudrehen. Ihr Blick ging über die Autos hinweg auf die Frauenkirche im Zentrum Münchens, die in der Ferne sichtbar ist. Oskar schaute ebenfalls über die sitzende Sophia hinweg zur Stadt. Hinter der Frauenkirche ist die Residenz. Dort war Oskar heute morgen mit Sophia gewesen, am Anfang ihrer Reise. Wenn er es sich jetzt rückblickend überlegte, hatte er es dort sehr schön gefunden. Ja, im Nachhinein betrachtet, hatte er so etwas wie Glück empfunden. Wieso wollte er mit Sophia dann unbedingt weiter nach Nymphenburg und Fürstenried? Ist das nicht Wahnsinn? Würde er das Glück jetzt nicht spüren, wenn sie bei der Residenz geblieben wären? Findet das Glück nur, wer weite Wege geht? Zeig mir etwas Schönes, hatte sie gesagt. Hatte er das getan?

Ziemlich durcheinander setzte er sich zu ihr auf die Bank. Die Dämmerung setzte ein. Die Scheinwerfer der Autos beleuchteten sie.
„Weißt du, hinter der Frauenkirche ist die Resid…“, setzte Oskar an, um Schutz hinter den Worten zu finden, als Sophia sich zu ihm drehte mit forderndem Blick, was ihm die Sprache verschlug. Nein, der Wahnsinn nahm kein Ende!
„Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Schöne liegt so nah!“ sagte sie, schob ihren Mund ganz nah an seinen und packte ihn energisch zwischen den Beinen. Wieder durchzuckte es Oskar am ganzen Körper. La Folie, der Wahnsinn!

War das das Schöne, zwischen seinen Beinen, das sie die ganze Zeit sehen wollte? War das das Ende von seiner Existenz als Hagestolz? Jedenfalls küsste er sie, energisch und entschlossen, ohne darüber nachzudenken, ob es schön ist oder nicht. Vielleicht war es gerade deswegen schön. Wahnsinn!

Münchner Fürstenwege, Teil 2

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, hatte schlechte Laune. Hatte er sich zu viel erwartet vom Besuch des Schlosses Nymphenburg? Ja, er hatte sich zu viel erwartet: Er hatte sich nichts weniger als die Offenbarung der Schönheit erwartet. Seine Realität war an seinen Erwartungen zerbrochen. Seine Begleiterin Sophia war auf die Toilette gegangen, und so stand er alleine in den Parkanlagen. Sein Blick schweifte nach Westen, den Schlosskanal entlang. Er dachte an Otto, den unglücklichsten König Bayerns, über den er gestern gelesen hatte.

Sophia hatte vom Süden gesprochen; dass der Norden ein schöner Ort ist, weil man von dort nach Süden blickt. Der Süden: Sehnsuchtsort. Da schoss es ihm plötzlich siedend heiß durch den Kopf: Ziemlich genau südlich von hier, von Nymphenburg, liegt Schloss Fürstenried, auf dem König Otto seine geisteskranken Jahre, also den Großteil seines Lebens, verbracht hatte! Als Sophia von der Toilette zurückgekehrt war, bestürmte er sie: „Sophia, lass uns zum Schloss Fürstenried laufen! Hier… hier sind mir zu viele Leute. Und dort, in diesem südlichen Einöd, wird es sehr schön sein!“
„Ach Oskar! Sind wir nicht schon genug gelaufen heute? Ich würde gerne hier mit dir einen Kaffee trinken!“
„Ich trinke keinen Kaffee“, entfuhr es Oskar. „Wenn du nicht gehen willst, dann… dann fahren wir hin, ganz herrschaftlich, mit Kutsche, wie früher die Könige!“
„Du Spinner!“ sagte Sophia, fühlte sich aber gleichzeitig geschmeichelt.

Oskar ging ins Marstallmuseum am Schloss und fragte, ob es möglich sei, eine der ausgestellten Kutschen für eine Fahrt nach Fürstenried zu verwenden. Unmöglich, die Gefährte sind zu prächtig und wertvoll, um mit ihnen zu fahren, hieß es. Zu prächtig! Um die Schönheit selbst zu erfahren, kann nichts zu prächtig sein! ärgerte sich Oskar. Aber es half nichts. Nach längerer Diskussion ließ das Museum eine Kutsche aus der Stadt kommen. Ungeduldig stand Oskar am Rondell, um die Kutsche zu erwarten, während Sophia die Schwäne im Wasser beobachtete. Dann kam die Kutsche endlich. Oskar befahl in strengem Ton, den königlichen Weg nach Schloss Fürstenried zu nehmen.
„Den königlichen Weg?“ fragte der Kutscher verdutzt.
„Stellen Sie sich nicht so an! Stellen Sie sich stattdessen vor, Kurfürst Max Emanuel säße in Ihrer Kutsche, oder König Ludwig II, oder König Otto. Wie würden Sie diese Herrschaften nach Fürstenried bringen?“
Der Kutscher straffte die Zügel und setzte das Fuhrwerk Richtung Auffahrtsallee in Bewegung.
„Stopp! Nicht nach Osten! Oder wollen Sie uns zur Residenz bringen? Fahren Sie sofort scharf nach Süden, nach Fürstenried!“

Der Kutscher schwenkte nach Süden, um eine kleine Gasse aus dem Schlossrondell zu nehmen, die nur von Fußgängern und Radfahrern benutzt wird. Allerdings versperrte ein betonierter großer Blumentopf die Ausfahrt über diesen Weg. Oskar wurde wütend und schimpfte. Ein Blumentopf wird uns doch nicht daran hindern, nach Fürstenried zu fahren! Er stieg aus der Kutsche, um den Topf zu verrücken. Zwei Männer kamen den Weg entlang und halfen ihm, sodass sie es zu dritt schließlich schafften, ihn aus dem Weg zu räumen. Die Kutsche konnte passieren.

„So, wo wollen Sie jetzt hin?“ fragte der Kutscher etwas genervt.
„Nach Fürstenried natürlich!“
„Ja, aber auf welchem Weg? Welcher ist der königliche Weg?“
„Fahren Sie die Kutsche oder ich? Fahren Sie uns nach Fürstenried, wie Sie einen König nach Fürstenried fahren würden!“
Der Fuhrmann schüttelte den Kopf und fuhr die Hirschgartenallee entlang, bog dann rechts ab zur Laimer Bahnunterführung. Durch diese dunkle Unterführung erreichten sie die Fürstenrieder Straße. Die Fürstenrieder Straße ist eine mehrspurige Straße, die etwa fünf Kilometer lang schnurgerade nach Süden führt. Ursprünglich, vor fast dreihundert Jahren, als herrschaftlicher Verbindungsweg zwischen Nymphenburg und Fürstenried angelegt, führte sie damals über weite Wiesen und durch dichte Wälder. Heute ist sie eine stark befahrene westliche Tangente der Stadt und durchgehend bebaut, überwiegend im Nachkriegsstil.

Die Kutsche zuckelte langsam dahin, von Verkehr umtost, mit zwei Pferden vornedran. Inmitten dieses tosenden Verkehrs erfasste Oskar ein Gefühl der Geborgenheit. Er blickte zu Sophia, als würde er sie erst jetzt an seiner Seite bemerken. „Schön ist es!“ entkam es seinen Lippen, und ihm wurde leicht schwindelig dabei, als dieser Satz seine Lippen passierte, so ungewöhnlich klang er in seinen Ohren.

„Schön? Wenn du die Fürstenrieder Straße meinst, fällt es mir gerade schwer, sie schön zu finden. Andererseits: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.“ Sophia sagte das und schaute dabei Oskar in die Augen, mit einem Lächeln, das an diesem Tag nicht von ihr zu weichen schien, möge passieren was wolle.

Fortsetzung folgt.

Münchner Fürstenwege, Teil 1

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, saß in seinem Bett und las ein Buch über einen anderen Hagestolz: über Otto, den unglücklichsten König Bayerns. Otto war dreißig Jahre lang König von Bayern, vom Tod seines berühmten Bruders Ludwig II. bis zu seinem eigenen Tod. Otto wurde im Alter von 25 Jahren geisteskrank und wurde 68 Jahre alt. Wenn der Zweck des Lebens die Ausdehnung von Glück ist, dachte Oskar, hat das Leben Ottos keinen Zweck gehabt.

Sophia hatte angerufen. Das hatte Oskar in Aufruhr gebracht, weil es einen Hagestolz immer in Aufruhr bringt, wenn er mit Frauen Kontakt hat. Sophia hatte gesagt: „Oskar, lass uns morgen etwas Schönes machen! Zeige mir etwas Schönes!“ Oskar hatte schließlich eingewilligt, dass sie sich am Max-Joseph-Platz vor der Münchner Residenz treffen. Oskar legte das Buch über König Otto von Bayern zur Seite und versuchte einzuschlafen. Aber es ging nicht. Ständig dachte er an Sophias Worte: „Zeige mir etwas Schönes!“ Diese Aufforderung überforderte ihn. Was meint sie damit?

Nach einer mehr oder weniger schlaflosen Nacht traf sich Oskar am nächsten Morgen mit Sophia am Max-Joseph-Platz. Sie betrachteten das Denkmal für König Max I. Joseph in der Mitte des Platzes. Sie betrachteten die Fassaden von Oper und Residenz. Sie schlenderten durch die zahlreichen Innenhöfe der Residenz, von wo sie in den Hofgarten gelangten. Die Bäume zeigten sich in kahlem Braun, der Himmel in tristem Grau. Bei Oskar wollte sich kein Gefühl von Schönheit einstellen, was ihn unter Stress setzte. Schließlich hatte Sophia gesagt: „Zeige mir etwas Schönes!“

Da kam ihm die rettende Idee: „Lass uns den alten Fürstenweg entlang zu Schloß Nymphenburg gehen, dem Sommersitz der bayerischen Fürsten und Könige. Dort werden uns vor weitem Himmel anmutige Herbstwinde umwehen!“ Ein Gefühl von Leichtigkeit, von Schönheit wird sich in Nymphenburg einstellen, dachte Oskar weiter für sich. Sophia goutierte seinen Vorschlag mit einem Lächeln, was ihn sehr erleichterte. Ich möchte sagen: Die Schönheit von Sophias Lächeln erleichterte Oskar, aber ich weiß nicht, ob er selbiges dachte. Die Schönheit scheint Oskar überall zu suchen, aber nicht bei Sophia. Was hat ein Hagestolz schon bei Frauen zu suchen?

Sie gingen den alten Fürstenweg entlang. Zunächst die Brienner Straße mit ihren prachtvollen Plätzen: Odeonsplatz, Wittelsbacher Platz, Karolinenplatz, Königsplatz. Königlich, dachte Oskar, königlich! Ab dem Stiglmaierplatz ging es weiter die Nymphenburger Straße entlang. „Hier fuhren die Könige noch über Wiesen und Felder, dem Bauerndorf Neuhausen entgegen“, sagte Oskar.
„Wieso heißt der Weg dann Fürstenweg, wenn hier die Könige fuhren?“ fragte Sophia.
„Weil die bayerischen Herrscher erst unter Napoleons Gnaden Könige wurden. Vorher waren sie Fürsten, und schon als Fürsten fuhren sie diesen Weg entlang.“

Schließlich, nach einigem Fußmarsch, erreichten sie den Nymphenburger Kanal. Sie gingen auf die Brücke über den Kanal. Von dort sahen sie das Schloß in der Ferne. Wieder war ein Lächeln in Sophias Gesicht.
„Ich sollte eine Gondel rufen“, sagte Oskar, „die uns über das Wasser zum Schloss bringt. Das wäre königlich. Dafür wurde der Kanal ursprünglich angelegt.“
„Ach, zu Fuß gehen ist doch auch schön!“ sagte Sophia.
„Ich bin erleichtert über deine Gehfreude – ich hätte nicht gewusst, wo eine Gondel hernehmen! Nehmen wir die Auffahrtsallee südlich oder nördlich des Kanals?“
„Die nördliche. Dann sehen wir nach Süden. Ich sehe gern nach Süden!“

So schlenderten sie auf der nördlichen Auffahrtsallee, am Kanal entlang, dem Schloss entgegen. Als sie am Ende der Allee das Schlossrondell erreichten, öffnete sich der Himmel, von dem sich Oskar so viel erhofft hatte. Von diesem weiten Himmel über Nymphenburg. Aber er war mit Wolken bedeckt. Es war absolut nichts Schönes an ihm. Zumindest nicht für Oskar.

Der Himmel über Nymphenburg

„Schau – der blaue Fleck am Himmel, hoch über dem Schloss – ist das nicht schön!“ meinte Sophia begeistert.
Oskar rümpfte die Nase und ließ sich nur widerwillig überreden, die Parkanlagen zu besuchen.

Fortsetzung folgt.