Auf dem Weg ins Büro ging ich den Gehsteig entlang und dachte an Dirk von Lowtzow, der sagt, dass es schwer ist, über Musik zu schreiben und leicht ist, sie zu hören. Ich hatte einen kleinen Kuchen für Vorderbrandner dabei: Es war sein Geburtstag.
Als ich an der Tür zum Büro war, hörte ich Musik von drinnen. Ich öffnete, und ein Chanson von Charles Aznavour trällerte in voller Lautstärke durch den Raum. Ich trat näher und sah Vorderbrandner, in seinem Stuhl sitzend nach hinten gelehnt, mit verquollenen Augen. Die Musik und Vorderbrandners lethargischer Zustand erzeugten eine besondere Atmosphäre. Ich sagte nichts. Vorderbrandner sah mich hilfesuchend an. Ich ging näher an seinen Bildschirm und las darauf die Nachricht:
Cher Valentin, ça va? Bon anniversaire! Heute ich erinnere die Chanson, die du mir hast geschickt damals: Und trotzdem lieb ich sie de Charles Aznavour. Tu es toujours bienvenu a Angers! Je t'embrasse, Françoise
Françoise! Vorderbrandner hatte mir oft von einer Françoise erzählt, die er während seinem Auslandsjahr an der Uni in Angers kennengelernt hatte. Er hatte sich unsterblich in sie verliebt. Dann hatte sie ihn während einer Party geohrfeigt. Er weiß nicht mehr wieso, sagt er. Wahrscheinlich hat er es verdrängt, oder die genauen Umstände gingen in seiner Trauer unter. Danach hat er jedenfalls nie mehr mit ihr geredet, sagt er, hörte aber nie auf, über sie zu reden.
Ich stellte den kleinen Kuchen auf Vorderbrandners Schreibtisch, zündete die Kerze darauf an und setzte mich an meinen Schreibtisch. So hörten wir zu zweit Charles Aznavour.
Mir fiel ein, dass Vorderbrandner ständig behauptet, seine Geburt sei ein großes Missverständnis zwischen seiner Mutter und ihm gewesen. Sie hätte ihn nie geliebt, und er wollte nie auf diese Welt kommen. Jetzt sei er aber nun einmal auf dieser Welt und habe dieses Leben durchzustehen. Dies sei eine Version seiner Wahrheit, sagt Vorderbrandner, und im übrigen die Version, an die er sich entschieden habe zu glauben. Eine andere Version würde seinen Vater berücksichtigen. Seinen Vater habe er jedoch nie gekannt, sagt er, das Prinzip Vater sei ihm überhaupt ein Fremdes. Deshalb sei diese andere Version mit Vater keine Möglichkeit für ihn. Er sei ein Muttersohn, den seine Mutter nicht liebt, und dabei bleibt es.
Vorderbrandner saß weiterhin reglos in seinem Stuhl. Ich dachte an die totalitären Denkstrukturen, von denen er oft spricht, in denen er sich gefangen fühle, die ihm aber gleichzeitig Halt geben. Im Totalitarismus sei kein Platz für Liebe, und er sei ein dem Totalitarismus Verfallener, der sich damit abzufinden habe, ohne Liebe zu leben.
Und trotzdem lieb ich sie lief in der Wiederholungsschleife. Eine Träne lief über Vorderbrandners Wangen. An wen denkt er bei diesem Chanson? An Françoise oder an seine Mutter? Wieso erzählt er mir in seinem Schweigen viel mehr, als er mir jemals sagen könnte? Ahnt er die Liebe, nach der er sich so sehnt?
Habe ich jetzt über Musik geschrieben? Ich hoffe, Dirk von Lowtzow verzeiht mir.