Ich hatte Angst davor, den Raum zu betreten. Doch ich betrat ihn, weil er mir so vertraut war. Ich betrat ihn, wie ein kleiner Junge sich in den Schoß seines Vaters schmiegt. Im Raum sah ich nichts, und als ich inmitten der Finsternis stand, sprach eine Stimme zu mir:
Da kam der Winter und zehrte an mir. Dunkel war es und der weiße Schnee begrub alles unter sich. Ein weißes Blatt, das alles vorherige ungeschrieben macht. Ein Neuanfang in tiefer Einsamkeit. Äußerlich wärmt der Ofen, innerlich friere ich weiter. Werde ich jetzt lernen zu leben? Man zeigte mir nur, wie man stirbt, wie man elendig verreckt, bei lebendigem Leib. Wie man äußerlich noch lebt und innerlich schon gestorben ist. Die Schläge eines Aufgegebenen auf meinem Körper, wie Peitschenhiebe aus der Hölle. Warum tut er das? Ich will sie nicht sehen, die Verzweiflung im Gesicht eines Gestorbenen. Ich will dem Tod nicht ins Auge sehen. Ich krümme mich zusammen und habe schon lange aufgegeben zu glauben, dass er kommt, der Frühling.
Diese Stimme war mir sehr vertraut gewesen, als sie gesprochen hatte. Ich wollte mich anschmiegen an sie. Doch sie sprach nicht mehr. Es war wieder Stille im Raum, stille Finsternis, als zu meiner Überraschung plötzlich ein Sonnenstrahl in eine Ecke des Raumes leuchtete und dort, in dieser Ecke des Raumes, zu meiner weiteren Überraschung, ich einen Körper erkannte mit gesenktem Kopf und hängenden Armen. Vor mir erkannte ich nun ein Fenster mit zugezogenem Vorhang, jawohl, ein Fenster mit zugezogenem schwarzem Vorhang, der einen Spalt frei ließ für den Sonnenstrahl. Ich ging zum Vorhang, um ihn gänzlich beiseite zu ziehen, um das Licht hereinzulassen, da hob sich plötzlich ein hängender Arm neben mir und packte mich fest an der Schulter. Erschrocken ob dieser Vitalität des eben noch hängenden Arms blieb ich stehen und sah wie ein anderer Arm, der eben ebenfalls noch hängend war, den Vorhang vor mir wieder fest zuzog und den Sonnenstrahl aus dem Raum verbannte.
Nun also wieder Stille im Raum, stille Finsternis, was mich wahnsinnig machte und mich veranlasste, laut zu schreien. Doch die Stille hielt an trotz meiner Schreie. Die Köpfe wieder gesenkt und die Arme hängend. Ich sah sie nicht in der Finsternis, aber ich spürte sie, wie sie sanken und hingen. Die Stille kommentarlos, beklemmend. Von irgendwo – von wo? – von draußen, ja, von draußen, ein Lachen, dass hier im Raum wie ein Weinen wirkte.
Allmählich fragte ich mich, was ich hier tat, in diesem Raum voll gesenkter Köpfe und hängender Arme. Mich beschlich eine grauenvolle Ahnung, dass ich vielleicht nichts tun kann, als hier zu sein, in diesem dunklen Raum, der mir, obwohl so finster, doch so vertraut war. Ich wusste, dass ich nichts weiter tun müsste, als den Vorhang beiseite ziehen, doch ich tat es nicht. Hatte ich Angst vor den hängenden Armen, die plötzlich wieder stramm zupacken würden? Jedenfalls unternahm ich nicht den Versuch, den Vorhang beiseite zu ziehen, sondern setzte mich auf den Boden, senkte meinen Kopf und ließ meine Arme hängen. Sollte ich nun warten, bis das Leben von mir weicht, oder hatte das Leben noch anderes mit mir vor? War dieser Raum mein Schicksal?
Als ich mitten in dieser stillen Finsternis saß und gelegentlich noch immer überlegte, aufzustehen und den Vorhang beiseite zu schieben, um den Sonnenstrahl in den Raum zu lassen, stürzten plötzlich alle Mauern um mich ein. Durch diesen Einsturz war die stille Finsternis so schnell gewichen, dass das viele Licht mich schockierte. Erschöpft streckte ich mich zu Boden.
Als ich wieder zu mir gekommen war, sagte eine Stimme, eine fremde Stimme, zu mir, dass ich aufstehen soll. Ich war erstaunt über die Klarheit dieser Stimme. Ich blickte mich nach den gesenkten Köpfen und hängenden Armen um. Denn sie waren mir vertraut in dieser nun so fremden, offenen Welt. Aber sie waren nicht mehr da. Nach Lage der Dinge ist davon auszugehen, dass die eingestürzten Mauern die gesenkten Köpfe und hängenden Arme unter sich begraben haben. Jedenfalls sah ich sie nicht mehr. Seltsam, dass ich überlebt habe, dachte ich mir, als die fremde Stimme mir nochmals sagte, aufzustehen, was ich schließlich, zu meinem Erstaunen, tatsächlich tat, denn ich dachte mir bis zu diesem Moment, dass ich nie mehr aufstehen würde.
Ich stand also auf und ging über die Reste der eingestürzten Mauern. Ich stolperte mehr als ich ging. Die Luft war erstaunlich frisch. Ich hatte großen Spaß daran zu atmen und wurde ebenso frisch wie die Luft. Was sollte ich jetzt anfangen mit dem Raum, wo er plötzlich so groß war? Mit dieser neuen, weiten Welt. Keine Mauern mehr. Reflexartig wollte ich den Kopf einziehen, um mich zu schützen, als mich die fremde Stimme, die mir mittlerweile sehr vertraut und nicht mehr fremd war, ermahnte, den Kopf zu heben. So ist das also nun, dachte ich: den Kopf heben! – Ich lachte und stolperte weiter über die Reste der eingestürzten Mauern.