auf den Spuren von Grete Trakl
Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging mit der Dame aus Salzburg weiter die Westendstraße entlang. Sie gingen an Hochhäusern und Verwaltungsgebäuden vorbei. Rechts von ihnen tat sich eine recht trostlose Brache auf. Eine Durststrecke, die sie größtenteils mit Schweigen überbrückten. Schließlich erreichten sie bewohntes Gebiet, das sich beiderseits der Westendstraße erstreckt und von einer Trambahn erschlossen wird. Friedenheim heißt dieses Gebiet. Oskar gefällt dieser Name. In der nun wieder etwas heimeligeren Atmosphäre fasste er sich ein Herz und fragte die Dame aus Salzburg: „Wie heißen Sie?“
„Was tut das zur Sache?“ wehrte die Dame brüsk Oskars Frage ab. „Wir sind hier wegen Grete Trakl und nicht wegen mir. Glauben Sie ja nicht, dass sich mich verführen können! Wir teilen eine Leidenschaft für die Trakls, diese tragischen Geschwister, aber nicht mehr!“
Diese Direktheit hatte Oskar nicht erwartet. Er wünschte sich, nach dieser abweisenden Erwiderung seiner Frage seitens der Dame, nichts sehnlicher herbei als seine Einsamkeit. Er richtete seinen Blick nach vorne und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass die Westendstraße einen weiteren Knick nach Süden vollführt, sich also endgültig von ihrer westlichen Bestimmung abwendet. Sie verliert sich nun vollends in der weiten Unordnung der Welt und trudelt ordnungs- und richtungslos ihrem Ende entgegen. Mit einem letzten Kraftakt überquert sie die Autobahn und ergießt sich schließlich, wie ein Fluss, der seine Ufer verliert, in den Münchner Westpark.
Gibt es eine Rettung aus dieser uferlosen Wirrnis, in die Oskar mit der Dame aus Salzburg hineingeraten ist? Wie eine reissende Flut will die Westendstraße die beiden in den Westpark hineinspülen. In dieser Not spürt Oskar plötzlich eine Verbundenheit mit der Dame aus Salzburg. Er packt ihren Arm und rettet sich mit ihr in einen kleinen Weg, der rechts abbiegt und sie in den Schutz hoher Bäume bringt. Oskar ist froh, nicht im Westpark zu ertrinken und atmet erleichtert auf, während die Dame etwas pikiert ihren Arm von Oskars Griff befreit. Dunkel führt der Weg sie nun durch die Bäume hindurch. Plötzlich taucht eine Lichtung auf, auf der ein altes, großes Gebäude zu schlafen scheint. Die Dame aus Salzburg sieht Oskar mit großen Augen an, aber Oskar bringt kein Wort heraus. Seine Augen werden genauso groß wie die der Dame, als er auf das Gebäude auf der Lichtung sieht, so überraschend kam es in seinen Blick.
„Wohin führen Sie mich? Ich habe Angst!“ ruft die Dame.
„Schauen Sie! Schauen Sie! Hier ist sie, die Kuranstalt Neufriedenheim für nerven- und gemütskranke beider Geschlechter. Schauen Sie doch, wie Ernst Rehm mit Grete Trakl aus der Tür kommt und sie in den Garten führt!“
Oskar dachte kurz daran, dass es nun viel besser wäre, seine Einsamkeit aufzusuchen und die Dame aus Salzburg zu verlassen. Sich wie die Westendstraße in den Westpark zu ergießen und sich in den grünen Weiten zu verlieren. Wieso war er mit ihr in den Waldweg zu dieser Lichtung geflüchtet? Wieso war er nicht vor ihr geflüchtet? Ohne weiter nachzudenken, zu seiner eigenen Überraschung, packte er die Dame an den Schultern, drückte seinen Mund an ihr Ohr und sagte: „Margarethe, ich liebe Sie!“ Was tat Oskar da? Er erschrak vor seinen eigenen Worten. Würde ihm seine Einsamkeit jemals wieder Schutz bieten, wenn er sich so unvorsichtig verhält?
Die Dame aus Salzburg blieb regungslos stehen und starrte auf das Gebäude auf der Lichtung vor ihnen. Ohne sich zu Oskar umzudrehen, ohne darüber überrascht zu sein, dass Oskar sie Margarethe nannte, sagte sie: “ Sagen Sie bitte dich, nicht Sie. Ich liebe dich. Denn das sagte Georg Trakl auch zu seiner Schwester: Ich liebe dich! Aber er nannte sie Grete, nicht Margarethe. Grete nannte er sie.“ Sie löste sich aus Oskars Umklammerung, was Oskar, wie paralysiert vom Moment, ohne Widerstand geschehen ließ. Sie kletterte über den Zaun und ging auf das Gebäude zu. Oskar vernahm jeden ihrer Schritte, er spürte, wie das Gras unter ihren Füßen wogte. Sie war ein weißer Engel, von hellem Licht umgeben. Es waren hundert Jahre vergangen, seit Grete Trakl hier gewesen war, und trotzdem hätte er schwören können, dass er Grete Trakl über das Gras gehen sah. „Grete!“ sagte Oskar, so als hätte ihm ein inneres Drehbuch das vorgeschrieben.
Kurz bevor Grete das Gebäude erreichte, sank sie mit ihren Knien auf das Gras und fing bitterlich zu weinen an. In das Weinen mischte sich das Rascheln der Blätter an den Bäumen, das Oskar wie süße Musik vernahm. Er fragte sich, ob man gemeinsam einsam sein kann. Hatte er nun seine Einsamkeit wieder gefunden? War er noch Oskar, oder war er Georg Trakl? Wo war Ernst Rehm? Kann er denn nicht helfen? Nein, niemand kann helfen, in dieser Einsamkeit des Moments, weil der Moment geschieht, ohne Hilfe zu brauchen. Er sah auf den weißen Engel, der im hellen Licht im Gras kniete: Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung…
Heilanstalt Neufriedenheim Frühling der Seele