Hadern

Ich sagte zu Oskar, der auch bekannt ist als Hagestolz noch nicht zu alten Datums, dass ich nach Hadern fahre. „Willst du mitkommen? Du machst doch nichts lieber, als durch die Straßen Münchens zu streunen.“

„Hadern ist nicht München“, sagte Oskar. „Hadern ist ein verstocktes altes Bauerndorf. Hadern ist von den Nazis zu München eingemeindet worden; weil die Nazis größenwahnsinnig waren und glaubten, ein paar verstockte Bauern würden sie in diesem Größenwahnsinn unterstützen.“

„Ich glaube nicht, dass ein paar verstockte Bauern, die anscheinend die Nazis unterstützt haben, dich davon abhalten, nach Hadern zu fahren.“

„Ich wollte vor einiger Zeit in Hadern ein Haus kaufen, einen Landsitz sozusagen. Das Haus war etwas heruntergekommen, doch es hatte etwas Edles an sich.“

„Warum hast du es nicht gekauft?“

„Weil es an einer Straßenkreuzung liegt. Ich habe festgestellt, dass ich an Straßenkreuzungen nicht leben kann. Es reicht, wenn ein Haus an einer Seite an eine Asphaltwüste grenzt. Wenn noch auf einer zweiten Seite eine Asphaltwüste vorbeiführt, wie es an einer Kreuzung der Fall ist, habe ich den Eindruck, dass diese beiden Wüsten das Haus in die Zange nehmen.
Ich wollte den Kaufvertrag unterschreiben, doch in der Nacht davor träumte ich, dass die beiden Wüsten das Haus mitsamt seinem Garten verschlucken. Da habe ich endgültig verstanden, dass ich in einem Haus an einer Kreuzung nicht wohnen kann, weil ich in beständiger Angst leben würde, von der Asphaltwüste bei lebendigem Leib verschluckt zu werden. Ich habe den Kaufvertrag also nicht unterschrieben.
Außerdem wurde mir bewusst, dass ich in einem Haufen verstockter Bauern wohnen würde, die nur glauben, dass sie keine Bauern mehr sind, weil ein großes Klinikum auf ihren ehemaligen Weidegründen gebaut wurde. Das große Klinikum – auch das hätte ich gesehen von meinem Haus beim Blick über die Asphaltwüste hinweg. Ich wollte mir all das ersparen. Seitdem fahre ich nicht mehr nach Hadern.“

„Dein Hadern über Hadern ist anstrengend“, sagte ich zu Oskar, „und auch wenn du es nicht hören willst: Ich fahre ins Klinikum Großhadern.“

„Deine Wortspiele kann ich nicht mehr hören. Ich fahre sicher nicht mit. Denn dann heißt deine nächste Geschichte: Ein Hagestolz in Hadern.“

„Nein, so werde ich sie nicht nennen. Ich werde sie Ein Hagestolz in Hadern hadert mit dem Hauskauf nennen.“

Ich fahre, wie unschwer zu erraten ist, ohne Oskar nach Hadern. Ich fahre durch eine Straße, die den Namen Pfingstrose trägt und in der ich Oskars Haus zu sehen glaube, direkt auf das Klinikum zu, das laut Oskar die Haderer Bauern aus ihrem Siechtum zu wahrer Größe aufsteigen ließ: auf das Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Das Hauptgebäude der riesigen Klinik steht wie ein gestrandeter Ozeandampfer in der Landschaft. Über zweihundert Meter lang und dem Himmel viel näher als die höchsten Bäume Haderns. Um mir Zeit zu geben, mich an diesen Koloss zu gewöhnen, nehme ich das Treppenhaus statt dem Aufzug. Fast nach ganz oben schicken sie die Neugeborenen mit ihren Eltern. Wie ist das, in einem gestrandetem Ozeandampfer auf bäuerlichem Weidegrund zur Welt zu kommen?

Ich betrete das Zimmer. Das Fenster, das von unten wie ein Bullauge aussah, entpuppt sich als ein Panoramafenster eines UFOs, das sich gerade im Anflug auf das Alpenvorland befindet. Weite Wälder liegen tief unter mir, dahinter die Berge. Irgendwo zwischen diesen Wäldern liegt das Gut Hinterstoiß, wo meine Eltern mich zur Welt gebracht haben. Selbst wenn ich mit ihnen oft haderte, für die Tat meiner Zeugung und Geburt bin ich ihnen sehr dankbar. Eine Definition von hadern lautet: mit sich und der Welt zerfallen sein. Das kann ich nicht behaupten. Ich bin der Welt verfallen.

Da sind diese zwei kleinen Menschen im Raum, deretwegen ich doch eigentlich gekommen bin, die gerade ihrer gesicherten Raumkapsel mit dem schönen Namen Mutterleib mit großem Mut entstiegen sind. Eine große Anstrengung ist es, auf diese Welt zu kommen. Ein paar Tage erholen von dieser Anstrengung, dann werden sie ankommen in der Welt da unten. In Hadern zur Welt kommen, um ihr zu verfallen. Das ist ein Gedanke, mit dem ich meine Ausführungen für heute beenden möchte, obwohl es noch viel zu berichten gäbe.

Hadern

Klinikum Großhadern

Sterben wollen

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner.

„Dein Vater ist seit fast zwanzig Jahren tot“, sagte ich. Wir spazierten durch den Park. Es war abends, bereits dunkel. Der Mond schien hell.

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner. „Da!“ sagte er, und deutete auf eine Stelle vor sich. „Siehst du ihn denn nicht?“

„Wo denn?“

„Da! Sieh nur, wie aufrecht und aufgeschlossen er da steht. So kenne ich ihn nicht. Ich kenne meinen Vater nur als geknickten Mann, der einen großen Sack Trauer mit sich herumschleppt, den er mit niemandem teilt. Jetzt steht er da, aufrecht und selbstbewusst. Still! Er spricht zu mir:“

„Ich bin 53 Jahre alt. Ich will sterben. Es ist Zeit zu gehen.“

„Hast du das gehört? Wie er das gesagt hat! So gütig und würdevoll. Ich kann ihm nicht böse sein. Es ist gut. Mein Gott, siehst du ihn denn nicht?“ flehte Vorderbrandner mich an. „Wie das Mondlicht ihn bescheint! Sein Gesichtsausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben, weil ich ihn einfach nur bewundere.“

„Da! Da kommt ein zweiter Mann. Ich schwöre es dir! Ich weiß nicht, woher er kommt. Vielleicht ist er den kahlen Bäumen des März entstiegen wie eine Knospe im Frühling. Er stellt sich neben meinen Vater. Er ist etwas jünger als mein Vater, ohne Zweifel. Wer ist das?“

Vorderbrandner stand mit konzentriertem Blick neben mir, und ich spürte: Ich darf ihn nicht unterbrechen.

„Es ist mein Großvater“, sagte er plötzlich. „Natürlich, es ist mein Großvater. Wie sie dastehen, so voller Güte und dennoch seltsam entrückt und unnahbar. Sie sehen mich an. Sie sagen nichts. Nichts, was ich hören kann. Doch sie sagen ganz deutlich mit ihren Gesichtern: Wir wollen sterben.“

Dann war es still. Vorderbrandner sagte nichts. Sein Blick entspannte sich etwas, und doch war noch immer eine große Konzentration in seinen Augen.

„Was ist jetzt?“ fragte ich vorsichtig.

„Sie haben sich umgedreht und sind weggegangen. Dort vorne bei den Bäumen gehen sie, friedlich und einträchtig. Ich glaube es geht ihnen gut. Ich lasse sie gehen.“

Wir standen da, im Mondlicht des kalten Märzabends. Vorderbrandner redete weiter:

„Ich begreife jetzt, warum ich mich oft dem Tod so nahe, so vertraut gefühlt habe. Weil ich so sein wollte wie mein Vater. Und was will ein Sohn mehr als sterben, wenn sein Vater sterben will.“

Vorderbrandner fing laut zu schreien an. Er rannte wie wild umher und schrie aus voller Kehle:
„Nein! Nein! Ich will nicht sterben. Ich will leben! Ich liebe das Leben doch über alles!“
Er warf sich auf den Boden und begann hemmungslos zu weinen.

Ich stand daneben, im hellen Mondlicht. Es sprach aus mir wie ein Gebet:

„Vorderbrandner, du lebst! Und wie du lebst! Deine Wut und deine Tränen zeugen von deiner unbändigen Lebenskraft. Die Zeit wird kommen, da wirst auch du sterben wollen. Doch jetzt wirst du leben, leben, leben!“

 

Oskars Anfang und Ende

Oskar, der früher Emil hieß, ist ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums. Oskar spaziert gern durch die Straßen Münchens. Wir haben ihn schon einige Male dabei begleitet. Heute wollen wir uns die Frage stellen: Wer, außer ein Hagestolz, ist Oskar?

Oskar ist ein Wissenschaftler. Er ist mit der dualistischen Weltsicht groß geworden, hat sie verinnerlicht durch und durch. Einer seiner Grundsätze, ohne dass er es selbst weiß, lautet: Gebt mir das Böse, damit ich gut sein kann!

Wir erinnern uns, dass Oskar die Schleißheimer Straße in München begehen wollte, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Er hatte große Schwierigkeiten, den Anfang der Schleißheimer Straße zu finden, bis er feststellen musste, dass es den Anfang der Schleißheimer Straße gar nicht mehr gibt, weil der Anfang der Schleißheimer Straße jetzt Rudi-Hierl-Platz heißt (München, Schleißheimer Straße). Oskar, als Meister der Dualität, sagte sich: Wo ein Anfang, da ein Ende. Und schlussfolgerte nach seiner Erfahrung mit der Schleißheimer Straße: Wo kein Anfang – da kein Ende. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.

Er dachte an den Anfang und das Ende vieler Dinge, bis er schließlich bei seinem Leben angelangt war. Wann hat es begonnen? Als er den Leib seiner Mutter verließ? Als seine Mutter und sein Vater sich liebten? Oder irgendwo dazwischen? Oder gar schon davor?

Als Dualist, der sich sehr der Physik zugewandt fühlt, dachte er jetzt: Aus nichts kann nichts werden, also ist schon immer etwas da gewesen; wenn es auch nicht das war, was ich jetzt mein Leben nenne.

Oskar ging ins Bett. Von dort aus lief er die Schleißheimer Straße entlang, und sie nahm einfach kein Ende. Sie war wie ein endloser Raum. Das machte Oskar ganz schwindelig. Doch der Schwindel beunruhigte ihn nicht, nein – er wiegte ihn in einen tiefen und erholsamen Schlaf.

Was für eine Geschichte!

„Was erzählst du mir heute für eine Geschichte?“ fragte mich Vorderbrandner.

„Ich erzähle heute keine Geschichte.“

„Aber heute ist Donnerstag. Da erzählst du doch immer eine Geschichte.“

„Erzähl du mir eine Geschichte! Ich habe heute nichts zu erzählen.“

„Ich? – Ich habe auch nichts zu erzählen.“

„Nichts?“

„Nichts. – Nein, warte – eine Sache habe ich zu erzählen: Mein Nachbar hat gestern aus Versehen seine Frau erschossen. Seine Frau hatte ihn vor einer Woche dazu gedrängt, sich ein Gewehr zu kaufen, falls Flüchtlinge kommen und man sich wehren müsse…“

„…und er konnte nicht mit dem Gewehr umgehen, aus Versehen hat sich ein Schuss gelöst, mit dem er seine Frau getötet hat.“

„Nein. Seine Frau ist spät nachhause gekommen gestern. Da sie etwas betrunken war, hat sie unbeholfen mit dem Schlüssel an der Tür hantiert, sodass er glaubte, ein Flüchtling will ins Haus eindringen. Da hat er das Gewehr genommen und sie erschossen.“

„Was für eine Geschichte! Woher weißt du das alles?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich habe diese Geschichte erfunden, oder eine Bekannte meines Nachbarn hat sie mir erzählt. Diese Bekannte hat mir gesagt, dass es zwar tragisch sei, dass mein Nachbar seine Frau erschossen habe, dass sie aber andererseits seine Frau nicht leiden konnte und dass sie hoffe, dass er nun nicht lebenslänglich ins Gefängnis komme, weil er so ein netter Mensch sei.“

„Hat vielleicht die Bekannte deines Nachbarn seine Frau erschossen?“

„Wieso?“

„Weil sie gestern Abend bei deinem Nachbarn gewesen ist, ihn endlich dazu gebracht hat, sie in seine Arme zu nehmen, nach so vielen Jahren, in denen sie sich das gewünscht hatte, und dann kam die Frau nachhause, die dieses Glück störte und beseitigt werden musste.“

„Erzähle ich hier eine Geschichte oder du? Ich sagte doch, dass die Bekannte meines Nachbarn mir erzählt hat, dass mein Nachbar seine Frau erschossen hat, weil er glaubte, sie sei ein Flüchtling, der ins Haus eindringen will.“

„Das ist die ganze Geschichte?“

„Das ist die ganze Geschichte. Punkt. Und wenn du sie weiter erzählen willst, dann erzähle sie weiter. Aber sag mir nicht mehr, du hättest nichts zu erzählen!“

Das Au-Tor

und die Torheit des Autors

Ich lief durch die Gegend und überlegte, was ich aufschreiben soll. Soll ich aufschreiben, was ich erlebe, oder soll ich erleben, was ich aufschreiben will?

Völlig in diese Gedanken versunken stieß ich gegen ein Tor.
Au! rief das Tor, du hast mir weh getan!
Als ich wieder zu mir kam, sah ich die Beule im Tor und sagte zu ihm: Au, das hat weh getan. Du hast sicher Schmerzen. Und da ich nicht wusste, ob das Tor weiß, was Schmerzen sind, sagte ich weiter: Du bist jetzt ein Au-Tor.

Und du bist ein Tor, dass du einfach so gegen mich rennst, erwiderte das Au-Tor. Deine Torheit stinkt zum Himmel!
Nein. Ich bin ein Autor, entgegnete ich, auf der Suche nach etwas zum Schreiben. Und selbst wenn ich ein Tor bin – schon Erasmus von Rotterdam schrieb: ein Lob der Torheit!

Das Au-Tor schien mich nicht zu verstehen, jammerte und klagte stattdessen.
Kann ich dir helfen, Au-Tor, deine Schmerzen zu lindern?
Ja, sagte das Au-Tor. Du kannst ein Werkzeug holen, um meine Beule auszuklopfen.

Auf der Suche nach einem Werkzeug, um die Beule des Au-Tors auszuklopfen, fand ich ein Mark-Stück. Da fiel mir wieder ein, was ich aufschreiben wollte: Ich wollte etwas über das Gesichtsbuch-Unternehmen des Mark Zuckerberg schreiben. Bevor ich jedoch dazu Weiteres schreibe, will ich mich diesem Thema zunächst nur bildlich nähern, da ich jetzt die Beule des Au-Tors ausklopfen werde:

Abb 1: Mark

Abb 1: Mark

Abb 2: Zuckerberg

Abb 2: Zuckerberg