Archiv der Kategorie: Wisuelles

Wo alle Worte zuwenig wären, da hilft vielleicht Wisuelles.

Unrat vor Naturdenkmal

Ich stand vor dem Stapel Holz mit dem Schild dahinter und las:

Naturdenkmal – Unrat ablagern verboten

Diese Anordnung stürzte mich in große Verwirrung. Ist das Holz Naturdenkmal oder Unrat? Wenn das Holz Unrat ist, wo ist das Naturdenkmal? Oder steht das Schild für die Natur als Denkmal? Die Natur als ein riesiges Gesamtdenkmal? Ein kleines Schild für die große Natur? Der Holzstapel ein Teil der Natur, ein Teil des Denkmals? Oder doch nur achtlos hingeworfener Unrat vor ein bedeutungsloses Schild?

Ich rief Hubert an, der seine Nummer auf dem Holz hinterlassen hatte. Hubert meldete sich. Ich fragte ihn all meine Fragen. Hubert sagte, sein Kunstwerk solle Fragen aufwerfen, und deshalb freue er sich über meine Fragen. Ich solle doch bitte diese Fragen auf seine Social-Media-Accounts posten, darüber würde er sich noch mehr freuen. Dann legte er auf, ohne meine Fragen zu beantworten.

Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Lilith tanzt zwischen den Schafen auf der Spätsommerwiese. Ein Gefühl der Leichtigkeit liegt in der flirrenden Luft.

Das war vor einigen Wochen, als ich noch glaubte, dass der Sommer nie zu Ende geht. Nun ist er zu Ende gegangen. Ich ertappe mich dabei, dass ich – es fällt mir schwer, das zuzugeben – You’re beautiful von James Blunt höre. Bei diesem Hören denke ich an den Moment auf der Spätsommerwiese, und mich beschleicht ein sanfter Schmerz. Ich recherchiere über diesen Schmerz und stelle fest: Es ist ein „Schmerz über die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit“, den ich fühle, ein Schmerz, den Heinrich Heine als Weltschmerz bezeichnet, und von dem die Brüder Grimm sagen, er sei eine „tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt“.

You’re beautiful ist mein aktueller Soundtrack zum Weltschmerz. Die Handlung des Songs: Ein Mann sieht eine Frau in einer Menschenmenge und ist von ihrer Schönheit überwältigt. Sie ist in Begleitung eines anderen Mannes. Er verherrlicht den Moment der flüchtigen Begegnung mit ihr, stellt aber gleichzeitig fest, dass dieser Moment unwiederbringlich verloren ist und sie sich nie wieder nahe sein werden. James Blunts leidender Gesang lässt die unerfüllte Sehnsucht spüren. Vom Rolling Stones Musikmagazin wird You’re beautiful als einer der nervigsten Songs der Popgeschichte bezeichnet.  Gleichzeitig ist er ein Welterfolg. Ein nerviger Welterfolg. Ein Welterfolg wie der Weltschmerz.

Weltschmerz, ein naher Verwandter der Melancholie, fasziniert seit Jahrhunderten. Dürer hat einen Holzschnitt gemacht darüber, Cranach, Munch, Picasso und andere Bilder gemalt, Keller ein Gedicht geschrieben, Lars von Trier einen Film gedreht, Blunt ein Lied geschrieben. Der Weltschmerz lädt mich ein, sich in ihm einzunisten. Ich höre You’re beautiful und betäube mich. Ich trage den Schmerz dieser Welt. Ich bleibe hängen in ihm. Ich bin auf der Spätsommerwiese hängen geblieben. Ich klammere mich an diesen Moment auf der Spätsommerwiese, als hänge mein Leben an ihm, als gäbe es kein Leben mehr ohne ihn.

Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Ich fühle mich armselig. Ich will raus aus dem Weltschmerz. Ich habe Durst. Wahnsinnigen Durst. Das habe ich vor lauter Weltschmerz gar nicht bemerkt. Ich trinke Wasser und spüre die Erleichterung. Ich atme und giere nach Luft. Ich will raus aus dem Weltschmerz und rein in die Welt. An die frische Luft, um nach ihr zu schnappen. Ich setze einen Schritt vor den anderen, und mit den Schritten kommen folgende Gedanken:

Mann und Frau treffen sich. Der Plot jeder guten Geschichte. Der Moment der Momente. Singt nicht James Blunt über diesen Moment der Momente? Über das Wahrhaftigste des Wahrhaftigen? Ja, das tut er! Schön! – Er bleibt aber hängen in diesem Moment. Er versinkt im Weltschmerz. Nervig! Ich weiß nicht, was ich tun soll, singt er. Nicht denken. Einfach leben und handeln. Idiot! will ich ihm zurufen. Oder rufe ich mir das selbst zu?

Ich wandle vorbei an Bäumen im Herbstgewand. Die tiefe Sonne versinkt hinter ihnen. In diesem geheimnisvollen Licht geht eine Frau den Weg entlang. Ihr Kopf steckt unter einer Kapuze. Trotzdem erkenne ich sie. Ich rufe und laufe zu ihr. Es ist Lilith, tatsächlich! Wir umarmen uns, blicken uns in die Augen, und meine Blicke sagen zu ihr: Du bist schön, Lilith, es ist wahr! So einfach ist das: Mann trifft Frau, und die Welt ist schön. Ein Gefühl der Leichtigkeit. Das ist jetzt die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, sagt der Weltschmerz, aber ich höre ihn nicht.

Edelweiß für Österreich

US-Amerikaner haben eine sehr romantische Sicht auf Europa. Kein Wunder: Viele haben Vorfahren aus Europa. Sehr beliebt ist die Region mitten in Europa, die von den östlichen Alpen durchzogen und Österreich genannt wird. Die US-Amerikaner lieben Sound of Music, eine Geschichte über eine österreichische Musikantenfamilie. Sie glauben, dass das Lied Edelweiß daraus die Nationalhymne Österreichs ist.

Nun ist es aber bei weniger romantischer Sicht so, dass in dieser Region Österreich, wie in vielen anderen Regionen Europas auch, nicht nur musizierende weltoffene Bergleute anzutreffen sind, sondern viele nationalistisch Gesinnte, die unter sich bleiben wollen. Um sich gegenseitig zu erkennen (und nicht aus Versehen eigene Leute auszugrenzen), tragen diese nationalistisch Gesinnten eine Kornblume am Revers.

Die Furz- und Popelpartei Österreichs, kurz FPÖ, eine Versammlung nationalistisch Gesinnter, die manche lediglich als eine Ansammlung von machtgeilen Dummköpfen bezeichnen, trägt traditionell die Kornblume am Revers, um ihre nationalistische Gesinnung zu zeigen. Für die Furz- und Popelpartei, man glaubt es kaum, haben bei den letzten Parlamentswahlen in Österreich fast dreißig Prozent der Wähler gestimmt. Die Wahlanalyse hat ergeben, dass alle Leute in Österreich, die glauben, dass Österreich im letzten Weltkrieg lediglich Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands war, also Leute, die man guten Gewissens als Dummköpfe bezeichnen kann, die Furz- und Popelpartei gewählt haben. Dummköpfe und Dummköpfe haben sich gefunden.

Nun ist es jedoch neuerdings so, dass die Furz- und Popelpartei ihre nationalistische Gesinnung aufgeben will, sehr zur Enttäuschung ihrer Wähler. Deshalb tragen die Mitglieder ab sofort nicht mehr die Kornblume am Revers, sondern das Edelweiß. Das Edelweiß, das die US-Amerikaner, dieses weltoffene Volk mit ihrem noch weltoffeneren Präsidenten Trump, so liebgewonnen haben, weil es in Sound of Music so lieblich besungen wird.

Die Furz- und Popelpartei sagt, dass alle US-Amerikaner deutscher Abstammung, nein, das mit der deutschen Abstammung wurde korrigiert, dass also alle US-Amerikaner in Österreich jederzeit willkommen sind, aber am meisten würde es sie natürlich freuen, wenn der Präsident das schöne Alpenland mit seinen edelweißblühenden Berghängen bald besuchen würde.

Edelweiß – statt Kornblume

Edelweiß – Nationalhymne Österreichs

Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit existierenden Parteien sind rein zufällig.

 

Kori Andermatt und die bessere Zukunft

Ich war beim Begräbnis von Kori Andermatt, einem ehemaligen Schulkollegen von mir. Als ich an seinem Grab stand, habe ich sehr geweint. Irgendetwas in mir war tief berührt.

Kori war in der fünften Klasse mein Sitznachbar. Ein Lehrer fragte ihn am ersten Schultag der fünften Klasse: „Wie heißt du?“ Koris voller Name war Kornelius, aber seine Eltern nannten ihn von Geburt an nur Kori, und so antwortete er: „Kori. Kori Andermatt.“ Dieser Lehrer, der sich später als sadistisches Arschloch entpuppen sollte, sagte daraufhin: „Aha. Ich kenne den Nachnamen Matt, aber ich wusste nicht, dass Koriander ein Vorname ist.“ Die ganze Klasse lachte und brüllte. So blieb Kori allen als Koriander Matt im Gedächtnis hängen.

Kori hat sich später immer wahnsinnig geärgert über diese Geschichte. Bei einem Klassentreffen beschimpfte er uns alle übelst dafür, dass wir sie immer wieder erzählen. Nach seiner Schimpftirade warf er sämtliches Geschirr um ihn herum vom Tisch und stürmte aus dem Raum. Mir tat es einerseits leid für ihn, dass es ihn so traf, andererseits verstand ich nicht, dass er nicht endlich darüber hinwegsehen konnte. Er ärgerte sich immer wieder. Jedesmal wenn ich ihn traf, fing er wieder damit an und bekam einen tobsüchtigen Anfall. Geärgert hat er sich aber nicht nur über diese Geschichte, sondern über alles Mögliche in seinem Leben: Er fand die Schule scheiße, dann die Uni, später die Arbeit. Er fand die Mädels scheiße, später die Frauen. Die Partnerinnen an seiner Seite wechselten mit ziemlicher Regelmäßigkeit mindestens alle zwei Jahre.

Einmal schien er glücklich geworden zu sein, mit einer gewissen Angelina. Er zog mit ihr in ein Häuschen ins Umland. Die Straße, in der sie wohnten, trug den Namen Bessere Zukunft:

Bessere Zukunft in Gräfelfing bei München

Ich traf Kori einige Tage vor dem Umzug in die Bessere Zukunft. Da sagte er zu mir: „Emil, das ist doch ein gutes Omen, dass ich nun in eine Straße namens Bessere Zukunft ziehe. Vielleicht wird meine Zukunft besser als meine beschissene Gegenwart.“ Ich wunderte mich wieder einmal, warum Kori seine Gegenwart immer so beschissen fand. Aber das war nun mal ein Prinzip von ihm, alles Gegenwärtige beschissen zu finden, um auf eine umso bessere Zukunft zu hoffen.

Ein paar Monate später traf ich ihn in der Stadt, als ich den Gehsteig entlangging und er mit einem fetten Wagen aus der Tiefgarage hochschoss. Beinahe hätte er mich über den Haufen gefahren, aber er bremste rechtzeitig, und dann erkannten wir uns.
„Kori! Wie geht’s?“ sagte ich, als er die Scheibe heruntergelassen hatte.
„Beschissen. Ich habe Angelina rausgeschmissen, es war nicht mehr auszuhalten.“
„Aha“, sagte ich und schüttelte innerlich den Kopf. „Fette Karre“, sagte ich dann noch, den Wagen betrachtend, der aussah wie ein kleiner Panzer.
„Aus dem Carpool der Firma. Scheißkarre. Ich glaub ich fahr ihn gegen den Baum, dann bekomm ich hoffentlich einen besseren.“

Das war unser letztes Treffen. Ich habe danach nur noch von anderen über Kori gehört. Nach Angelina hatte er überraschenderweise keine neue Freudin mehr und wurde sehr trübsinnig. Alles war noch beschissener als sonst. In der Arbeit eckte er bei allen so an, dass ihm sein Managerposten gekündigt wurde.

Wie ist Kori gestorben? Er hat nicht den fetten Wagen gegen den Baum gefahren. Der wurde ihm vorher genommen. Er hat sich in der Nähe der Besseren Zukunft vor den Zug geworfen. Bevor er das tat, machte er noch ein Foto von sich und postete dazu diesen Text auf sein Instagram-Account:

Ich habe die Hoffnung auf eine bessere Zukunft endgültig aufgegeben. Die Gegenwart ist so beschissen wie sie immer war, sie wird immer beschissener, und ich sehe keine Möglichkeit, dass sich das jemals ändern wird. Ich kann mich nicht einmal mehr ärgern über alles Beschissene, so müde bin ich geworden. Ich gehe jetzt in die Sonne. Bitte vermisst mich nicht!

 

RetroTV

Der neue Fernsehkanal RetroTV besinnt sich auf die Ursprünge des Fernsehens. Bis vor kurzem wurde nur ein Standbild gesendet. Wir wollen ein Medium der Entschleunigung und des Innehaltens sein, heißt es dazu aus der Programmdirektion, weil es dazu großen Bedarf gibt.

Jetzt wurde zusätzlich zum Standbild eine Talkshow mit dem Titel Leut’abend produziert. Als Talkmaster fungiert Blacky Fuchsberger, zeitlebens als ein Meister des Innehaltens und der Gelassenenheit bekannt. Manche denken bei ihm allerdings auch an dampfende Plauderer und Einschaltspinsel. Wie auch immer –  Gäste von Blacky Fuchsberger bei Leut’abend auf RetroTV sind Bertolt Brecht und Wilhelm Reich. Hier vorab das Protokoll zur Sendung:

Bertolt Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral!

Wilhelm Reich: Erst kommt die Liebe, dann die Moral!

Bertolt Brecht: Auch gut! Ich kann allerdings keine Verbindung zwischen deiner und meiner Aussage herstellen. Gibt es hier etwa einen Widerspruch? Das wäre schön, denn die Widersprüche sind unsere Hoffnung.

Wilhelm Reich: Das Leben ist ein einziger Widerspruch. Dadurch wird es vorangetrieben. Das Leben ist ein Prozess, nie ein festgefahrener Zustand.

Blacky Fuchsberger: Das erinnert mich an Rainhard Fendrich, der singt: Alles ist möglich, aber nix is fix.

Wilhelm Reich: An wen?

Bertolt Brecht: Den kennen wir nicht. Da waren wir schon tot.

Wilhelm Reich: Ist es nicht ein faszinierender Widerspruch, dass wir beide tot sind und trotzdem in dieser Talkshow sitzen? Wir sind Orgonenergie!

Bertolt Brecht: Ein faszinierender Widerspruch.

Wilhelm Reich: Ich bin ein Jahr vor dir geboren und ein Jahr nach dir gestorben.

Bertolt Brecht: Ich bin ein Jahr nach dir geboren und ein Jahr vor dir gestorben.

Blacky Fuchsberger: Wollen Sie das als Widerspruch präsentieren, meine Herren? Ich fürchte, dazu taugen diese Aussagen nicht. Ich bin übrigens auch schon tot. Und damit gebe ich ab an das Standbild.

Wilhelm Reich (1897 - 1957)
Bertolt Brecht (1898 - 1956)
Joachim "Blacky" Fuchsberger (1927 - 2014)

 

Hier gingst du von uns Schorsch

Auf einer Wanderung gehe ich an diesem Marterl vorbei:

Beeindruckt von der Schlichtheit der Botschaft bleibe ich stehen. Hier ging Schorsch in die Büsche und kam nicht mehr raus.

Andächtig im Moment versunken erinnere ich mich an Schorsch Dorsch (von dem ich bereits kürzlich berichtet hatte), der eigentlich Georges hieß weil seine Ururgroßmutter Französin war und den seine Mutter bevorzugt mit einem Fisch namens Franzosendorsch bekochte. Vor allem erinnere ich mich daran, dass auch Schorsch Dorsch nicht mehr lebt.

Zu Schorschs kurzem Leben von nicht einmal siebenundzwanzig Jahren ist Folgendes zu sagen: Auf eine schwierige Kindheit folgte eine schwierige Zeit des Erwachsenwerdens. Kontakt mit Frauen fand nicht statt. Ich weiß noch, als wir Doktor spielten und Jungs und Mädchen sich intensiv begutachteten. Schorsch jedoch schmollte angewidert in der Ecke und ließ die ihm Zugedachte einfach sitzen. Nie sah man Schorsch mit einer Frau, bis man ihn schließlich fragte: Schorsch, bist du schwul? Schorsch sagte: Nein, ich warte nur auf meine Traumfrau.

Eines Tages tauchte tatsächlich eine Frau auf namens Otilie. Sie stand da in schrecklich biederen Klamotten und wirkte wie eine, die auch noch nie bei Doktorspielen mitgemacht hat. Sehr unsicher war ihr Auftreten – nein – mehr noch: Man sah ihrem Körper an, dass er voller Angst steckte. Frau Dorsch jedoch betonte Otilies blaue Spuren in ihrem Blut. Sie war so entzückt von der Vorstellung, dass ihr Schorsch nun eine gutbürgerliche Existenz als Ehegatte starten könnte, dass sie Schorsch und Otilie eine Verlobungsreise nach Paris spendierte.

Ich stelle mir die beiden vor, wie sie durch Paris flanieren, mit ihren dicken Brillen auf den Nasen und den leicht schielenden Augen, was ein Sich-in-die-Augen-schauen schwierig macht. Auch alles andere zwischen den beiden stelle ich mir schwierig vor.

An einem Abend jedenfalls gingen sie zur Pont des Arts, um dort ein Schloss anzubringen und ihre Liebe zu besiegeln. Schorsch hatte das Bügelschloss seines Fahrrads dabei, weil er kein anderes gefunden und so dieses in den Koffer gesteckt hatte. Auf der Brücke war alles vollgesteckt mit Schlössern. Lange suchten die beiden nach einer Lücke an einer Strebe, bis sie endlich fündig wurden. Schorsch öffnete das Schloss und gab es um die Strebe. Als es zuschnappte, wollte er Otilie den Schlüssel geben, damit sie ihn in die Seine wirft. Doch genau in diesem Moment krachte die Brücke in sich zusammen. Das Fahrradschloss von Schorsch war genau das eine Schloss zuviel für die Statik der Brücke. Die zusammenkrachende Brücke riss Schorsch und Otilie in den Tod.

Frau Dorsch war tief schockiert, dass ihr Schorsch ausgerechnet in ihrem geliebten Frankreich den Tod fand und hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt. Herr Dorsch meinte: Warum musste er auch sein Fahrradschloss auf die Brücke hängen? Ein normales Türschloss hätte es doch auch getan!

Ich stehe noch immer beim Marterl am Wegrand, wo Schorsch von uns ging. Ich sollte jetzt endlich mal nach Paris fahren und zur neuerbauten Pont des Arts gehen. Dort werde ich dann andächtig stehen und mir denken: Hier gingst du von uns Schorsch.

Vorwarnungen zur Katastrophe an der Pont des Arts

Auf der Suche nach der Realität

Lieber Georg,

seit über zweihundert Episoden bist du nunmehr ein treuer Begleiter meiner Schreibversuche. Du hast meine Texte auf den Kopf gestellt und wieder zurück auf die Füße, hast sie geschüttelt und gerüttelt und von allen Seiten betrachtet wie eine geliebte Frau. Heute möchte ich den Spieß umdrehen und mich mit dir befassen, und zwar mit der konkreten Frage, ob du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt bist.

Ausgangspunkt dieser Frage war eine Zugfahrt nach Ismaning, die mich an Daglfing vorbeiführte. Als der Zug in Daglfing hielt, fiel mir mein Text von letzter Woche ein, in dem ein gewisser Ger aus Dingolfing der Mann einer Trude aus Ring – entschuldige – einer Trude aus Trudering ist. In Daglfing wurde es mir klar wie eine Nacht voller Sterne: Ger ist nicht aus Dingolfing, sondern aus Daglfing, einem Nachbardorf Truderings. Wie sonst hätte er Trude kennenlernen können! Dingolfing ist doch viel zu weit entfernt von Trudering! Da habe ich ziemlichen Unsinn geschrieben letzte Woche, den ich hiermit korrigiere:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Daglfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Ich habe den Text also nun aus der Fiktion in die Realität geholt. Um mich endgültig von der Realität dieser Tatsachen zu überzeugen, fragte ich den Mann, der neben mir im Zug saß: „Kennen Sie Ger und Trude?“ und er sagte: „Nein, ich komm aus Buxtehude“, was ein gewisser Rückschlag in meiner Realitätsfindung war. Außerdem fiel mir ein, dass im Text von letzter Woche nicht nur Ger und Trude, sondern auch drei Brüder mit dem gleichen Vornamen Georg und den drei unterschiedlichen Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer vorkommen. Da wurde mir klar, dass du auch die Realität dieser drei Brüder anzweifeln würdest. Eines ist klar: Diese drei Brüder sorgen für mächtig Unordnung in einer Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit der Brüder unterschiedliche Vornamen und gleiche Nachnamen trägt. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle Brüder gleiche Vornamen und unterschiedliche Nachnamen trügen! Da kennte man sich ja überhaupt nicht mehr aus in dieser Welt!

Zusätzlich führen zwei der drei Brüder sowohl mit Frauen als auch mit Männern intime Beziehungen. Diesen Satz muss ich wohl nicht nur gedacht, sondern ausgesprochen haben, denn plötzlich sagte der Mann, der mir im Zug gegenübersaß: „Aha, Schwuchteln also!“, stand wutentbrannt auf und verließ in Englschalking den Zug. „Nein nein“, sagte ich, „das sollte man etwas differenzierter sehen“, doch das hörte der wutentbrannte Mann nicht mehr, sondern nur der Mann neben mir aus Buxtehude. „Ja ja“, sagte ich zum Mann aus Buxtehude, „es ist nicht leicht für den dritten Bruder, der neulich mit aller Bestimmtheit und Zivilcourage zu seinen Brüdern sagte: Ich steh nur auf Muschis, und das ist gut so!“ In Zeiten der Me-Too-Debatte eine mutige Aussage, und ich hatte Glück, dass ich diese Aussage nur zitierte, denn sonst hätten sich sicher viele Frauen im Zug sexuell belästigt gefühlt.

Als ich in Ismaning aus dem Zug stieg, sah ich am Bahnsteig einen Mann, der mir bekannt vorkam. Ich fragte ihn: „Kennen wir uns?“ Er sagte: „Ich glaube nicht. Ich bin Ger aus Dingolfing.“ – „Dann habe ich Sie verwechselt“, sagte ich: „Ich kenne nämlich nur einen Ger aus Daglfing.“

Du siehst also, wie ich immer auf der Suche nach der Realität bin und das Fiktionale im Grunde verabscheue. Wenngleich sich die Realität in jeder Sekunde ändert und es nicht leicht ist, ihr zu folgen. Die Fiktion aus schwarz und weiß erscheint erträglicher und beständiger als die graue Realität. Wie sonst könnten weiße Männer der Fiktion erliegen, mehr wert zu sein als schwarze Männer und als Frauen jeglicher Couleur?

Ich hoffe, ich konnte dich von der Realität meines Textes überzeugen und kehre nun zu meiner Ausgangsfrage zurück: Bist du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt?

Bis bald, Dein Emil

Der Ball war nie mein Freund

eine Fußballgeschichte

Der Ball ist nicht mein Freund, und zwar deshalb, weil ich mich nicht aufrichtig um diese Freundschaft bemühe. Er klebt mir nicht am Fuß, weil ich nicht genug übe, dass er mir am Fuß klebt. Wie soll sich der Ball da daran gewöhnen, mir am Fuß zu kleben? Ich verlange zuviel vom Ball, ohne selbst etwas dafür zu tun. Das würde jede Freundschaft überfordern.

Um mich vom Ball abzulenken, betrete ich das Fußballfeld. Es kommt mir zunächst einmal sehr groß vor. Dann betreten meine Mitspieler das Fußballfeld. Es kommt mir immer noch sehr groß vor. Aber bevölkerter. Das gefällt mir.

Der Ball, da er nicht mein Freund ist, hat sich nicht zu mir, sondern zu einem meiner Mitspieler gesellt. Neidisch betrachte ich die Freundschaft der beiden. Wie soll ich mich nun, ohne dass der Ball mein Freund ist, ins Spiel einbringen? Ich beginne, auf dem Spielfeld herumzulaufen und hoffe, dass mein Mitspieler sich vom Ball, seinem Freund, trennen kann und ihn mir zuspielt. Ich laufe herum und biete mich hinten, vorne, links und rechts für ein Zuspiel an. Als ich den Ball zugespielt bekomme, schaue ich mich unverzüglich nach einem Mitspieler um, dem ich den Ball zuspielen kann. Denn ich will den Ball nicht zu lange behalten, um uns beide in unserer Nicht-Freundschaft nicht zu überfordern.

Als die Gegner auf das Spielfeld kommen, werden die Räume, in denen man den Ball bekommen und in die man ihn spielen kann, enger. Denn das ist das Ziel des Gegners: die Räume eng zu machen, um selber den Ball zu bekommen. Wobei es, auch im Profibereich, immer mehr Mannschaften gibt, die den Ball gar nicht haben wollen – ich vermute, weil keiner in der Mannschaft ein Freund des Balles ist. Anders kann ich es mir nicht erklären. Solche Mannschaften haben keine Freude am Spiel, sondern wollen den Ball irgendwie ins Tor bugsieren und hoffen danach, dass das Spiel schnell vorbei ist. Aber das nur nebenbei.

Unser Trainer hat uns eine Taktik verordnet, also uns gesagt, wie wir uns auf dem Spielfeld positionieren sollen, um die Räume gut zu besetzen; um bei eigenem Ballbesitz möglichst gut anspielbar zu sein und bei gegnerischem Ballbesitz den Ball möglichst schnell zu erobern. Die radikalste Taktik, die ich je erlebt habe, war, als unser Trainer sagte: „Heute spielen wir gegen eine schlechte Mannschaft. Wir spielen ohne Torwart, dafür mit einem Stürmer mehr. Wir gehen voll auf Offensive.“ Diese Taktik hat sich jedoch nicht bewährt, und wir spielen seitdem immer mit Torwart.

Das Problem bei der Taktik ist: Oft funktioniert sie nur unzureichend, weil erstens jeder in der Mannschaft die Aussagen des Trainers anders interpretiert. Ich zum Beispiel habe an manchen Tagen große Lust, Tore zu schießen, an anderen große Angst, Tore zu kassieren. Je nach Gefühlslage spiele ich also offensiver oder defensiver. Und zweitens ist der Gegner ständig darauf bedacht, die Umsetzung der eigenen Taktik zu verhindern. Fußball ist also ein komplexes soziales Gefüge von zweiundzwanzig Personen, die ständig ihre räumliche Zuordnung ändern, um den Erfolg der eigenen Mannschaft zu ermöglichen und den der anderen zu verhindern. Und dazwischen rollt und fliegt der Ball herum.

Zurück zu meinem zwiespältigen Verhältnis zum Ball und unserer verhinderten Freundschaft. Da er nicht mein Freund ist, konzentriere ich mich sehr auf den Gegner: Wo er herumläuft und welche Räume er zulässt. Ich konzentriere mich also auf die Räume, in die der Ball gespielt werden kann, um mich oder meine Mannschaftskameraden dem gegnerischen Tor anzunähern. Oft vergesse ich dabei – ich habe es bereits erwähnt – den Ball. Ich entferne mich immer mehr von ihm und es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals noch Freunde werden.

Warum ich immer noch Fußball spiele? Weil ich ein sozialer Mensch bin und weiß, dass das Soziale auf dem Fußballfeld nur durch den Ball ermöglicht wird. Und weil ich insgeheim davon träume, dass der Ball und ich noch einmal dicke Freunde werden, ich mit ihm durch die sich öffnenden Räume gehe und ihn mit einem liebevollen Tritt ins Tor bugsiere.