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Aus den Klopapier-Kroniken: dritter Quartalsbericht

Erster Bericht
Zweiter Bericht

Ein Quartal eines Jahres ging wieder einmal zu Ende, das dritte dieses Jahres, und der Herbst stand vor der Tür, besser gesagt, er hatte schon begonnen, seit ein paar Tagen hatte es empfindlich abgekühlt, nachdem der Sommer lange seine warmen Temperaturen in den September hineingestreckt hatte.

Mit einem wohligen Behagen, in meine Jacke gehüllt, ging ich die Straße entlang, um mir Klopapier zu besorgen. Als ich den Drogeriemarkt betrat, war mir jedoch plötzlich bange, denn seit zwei Quartalen treibt mich die Sorge um, dass die Regale wieder leer sein könnten, wie im Frühjahr, dass wieder irgendeine Notlage ausgerufen wird, von der ich nichts mitbekomme beziehungsweise deren Not ich nicht rechtzeitig erkenne und es viele Leute wieder notwendig finden, sich mit Klopapier einzudecken weit über ihren Bedarf. Doch meine Bange war unberechtigt, stattdessen großes Staunen: Ein volles Regal steht vor mir, mit Auswahl aus verschiedenen Sorten. Ich nehme aber wie immer dieselbe. Kurz überlege ich, ob ich diesmal statt einer Packung à zehn Rollen zwei nehme, schließlich steht die dunkle, kalte Jahreszeit bevor, und falls ich zum Jahreswechsel in eine Art Winterschlaf verfalle – was schon vorgekommen ist – wäre es äußerst ungünstig, wenn ich genau in dieser Winterschlafphase Klopapier besorgen müsste. Doch dann überkommt mich die Sorge, dass ich diese Packung jemandem wegnehme der sie dringender benötigt, jemandem, der mit Klopapier nicht nur seinen Arsch abwischt, sondern auch seinen Angstschweiß oder sonstige Körperflüssigkeiten, jemandem, der vielleicht mit Klopapier seine ganze Wohnung putzt.

Ich belasse es bei einer Packung und gehe damit zur Kasse. Stolz gehe ich anschließend mit meiner Packung die Straße entlang: Schaut her, ich habe Klopapier gekauft, es gab welches, ich freue mich! Aber fast niemand freut sich mit mir, nur ein paar Kinder entgegnen mein Lächeln mit einem Lächeln ihrerseits. Vielleicht denken sich viele der so enttäuscht und verbittert Dreinschauenden: Oh, der hat Klopapier gekauft – ich hätte ihm welches geben können, ich habe den ganzen Schrank voll davon! Aber schnell vergesse ich den Gedanken über das, was andere denken könnten und freue mich der Kinder, die mir entgegenlächeln. Ich freue mich, dass ich selbst Kind geblieben bin und mich meines Klopapiers erfreue.

Zuhause meldet sich mein Darm, was mich ebenfalls erfreut, ich nehme den Gang zum Stuhl, setze mich darauf und betrachte die weichen, zarten Blättchen Papier, die ich eben erworben habe:

Sonnensehnsucht (Tief im Westen)

Himmel über Aubing

Gegen Abend hin überkam mich eine tiefe Sehnsucht nach der Sonne. Ich fuhr ihr nach, in den Westen, wo sie untergeht. Die Stadt zieht sich weit nach Westen, sie hat, so scheint es, auch die Sehnsucht des Abends nach der Sonne. Wo einst die Könige weilten im Sommer, auf Schloss Nymphenburg, endet diese Sehnsucht nicht, die Stadt dehnt sich weiter aus hinter Nymphenburg, durch den Durchblick durchquerte ich sie bis Schloss Blutenburg, doch die Stadt streckte sich noch immer, bis zum ehemaligen Bauerndorf Aubing, wohin die Bergsonstraße mich leitete. Mächtige Bahnanlagen unterquerend, verlor ich fast die Hoffnung auf die Sonne, meine Sehnsucht schien sich einer Verzagtheit zu ergeben. Diese Stadt hört doch niemals auf! Doch ich trat weiter in die Pedale, als schien eine unsichtbare Kraft mich zu leiten. Ich erreichte den erhaltenen Kern Alt-Aubings, ländliche Idylle stellte sich ein, doch der Blick nach Westen war noch immer nicht frei. Weiter, immer weiter nach Westen, nun, nach Überquerung einer weiteren Bahntrasse, sah ich freies Feld vor mir, endlich. Weit vor mir erhob sich eine grüne Hügelzunge, die wollte ich noch erreichen, als krönenden Abschluss meiner Abendsonnenanbetung. Die Hügelzunge erwies sich als Einhausung der Autobahn A99. Kein Platz zum Verweilen, entschied mein Gemüt, ich fuhr weiter, mein Gefühl leitete mich zur Moosschwaige, ein Kleinod der Einsamkeit. Im Bach kühlte ich meine Füße und mein Gemüt. Endlich – ich hatte die Stadt hinter mir gelassen, ich war tief im Westen angelangt! Ich beobachtete die Sonne auf ihrem abendlichen Weg. Ich spürte das Raumschiff Erde, wie es durch Raum und Zeit schwebt. Demut überkam mich vor der Größe dieser Welt, und ich sprach langsam und bedächtig:

Alles wird wieder groß sein und gewaltig.
Die Lande einfach und die Wasser faltig,
die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;
und in den Tälern, stark und vielgestaltig,
ein Volk von Hirten und von Ackerbauern.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern
wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern
wie ein gefangenes und wundes Tier -
die Häuser gastlich allen Einlassklopfern
und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern
in allem Handeln und in dir und mir.

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

(Rainer Maria Rilke)

Zufrieden und gestärkt verließ ich die ländliche Idylle, ich trat in die Pedale, über die grüne Autobahnbrücke zurück, da erreichte ich sie wieder, die Stadt, ich hatte sie schon vermisst, blieb andächtig stehen vor dem Himmel über Aubing:

Stationen der Reise von Ost nach West:
Nymphenburg
Durchblick
Blutenburg
Bergsonstraße
Aubing
Moosschwaige

Prozession

Ich weiß nicht mehr, wann es war. Meine Aussicht war jedenfalls so:

Ich war draußen, soviel kann ich aufgrund dieser Photographie feststellen, nicht unter freiem Himmel, nein, unter einem Baum, unter einer Linde, wie ich bei genauer Betrachtung des Blattwerks erkenne, und jetzt erinnere ich mich, ja, ich erinnere mich an ein Hämmern, ich ging diesem Hämmern nach, bis ich einen Buntspecht sah, der auf das Holz der Linde hämmerte. Ich war aufgestanden, um nach dem Buntspecht zu sehen, ich fühlte mich bewegt, etwas bewegte mich. War es die Musik, die ich vernahm,

ohne sie zu hören, die mich bewegte, nein, ich hörte sie nicht, dennoch war sie in meinem Ohr, nein, nicht in meinem Ohr, mehr in meinem Magen, oder in meinem Herz, ja, in meinem Herz: Es öffnete sich. Ich sehe ein ganzes Orchester in der Blumenwiese, Ludwig sitzt ruhig daneben und lauscht seinem Werk. Bist du es wirklich, Ludwig? frage ich, ich bin gerührt, aber da ist er verschwunden, er und das Orchester. Die Musik bleibt bei mir, sie bewegt mich, sie bewegt mich durch die grüne Natur des Frühsommertages. Die Bienen schwirren über die Wiese, mir schwirrt der Kopf, etwas bewegt mich, ich bewege mich fort im Rhythmus der Musik, es ist eine Prozession, ja, endlich habe ich das Wort gefunden, es ist eine Prozession durch das Wunder des Lebens, und ich lebe mitten in diesem Leben, diesem Leben, das ich nun aufzählen will: Da wäre zunächst der Regenwurm unter mir und weiters der Buchfink über mir, aber halt: Ich stoppe mein Aufzählen, mein Aufzählen weicht meinem Staunen. Das Graben des Regenwurms, der Gesang des Buchfinks, aber vor allem Ludwigs Musik, etwas bewegt mich, immer heftiger, ich fliege und drehe mich, bis ich mir schließlich keiner Perspektive mehr sicher bin

und ich spüre: Wie schön ist dieses Leben, wenn ich es mit Liebe betrachte. Ludwig, bist du noch da? Ja, ich glaube, dort hinten im Gras, in den Blumen, da sitzt du. Meine Empfindungen, wie soll ich sie beschreiben? Bei meiner Prozession durch die grüne Natur dieses Frühsommertages. Deine Musik beschreibt doch schon alles.