Archiv der Kategorie: Wisuelles

Wo alle Worte zuwenig wären, da hilft vielleicht Wisuelles.

Geleitwort zur Ausstellung „Das Fernsehzimmer im 20. Jahrhundert“

Werte Damen und Herren,

ich habe gerade das große Glück, temporär Räumlichkeiten für künstlerische Zwecke zur Verfügung zu stellen, solange, bis diese Räumlichkeiten wieder helfen werden, die Wohnungsnot in unserer Stadt zu lindern.

Als mein Freund und Kollege Valentin Vorderbrandner auf mich zukam mit dem Anliegen, die Räumlichkeiten für eine Ausstellung zu nutzen, habe ich sofort zugesagt und mich auch bereit erklärt, als Kurator zu fungieren.

Vorderbrandner gestaltete den ihm zur Verfügung stehenden Raum auf eine Weise, die dem Besucher erlaubt, eine Reise in das bürgerliche Leben des 20. Jahrhunderts zu unternehmen. Durch die geschickten Arrangements des Künstlers kann man die Atmosphäre im Raum mehr als spüren, man kann förmlich in sie eintauchen.

Hier vorab eine Impression von der Ausstellung:

Die Ausstellung läuft voraussichtlich bis 10. August 2017. Anmeldung erbeten!

Herzlichst ergeben, das Leben aufs Höchste huldigend!

Ihr Emil Hinterstoisser

Alarm auf dem Land

Mein Körper ist der Spiegel meiner Seele. Da sich mein Körper sehr müde anfühlte, sagte ihm meine Seele, er solle sich aufs Land bewegen, damit sie sich beide dort erholen können. Mein Körper bewegte sich also aufs Land, blieb aber bei seinen Bewegungen auf dem Land sehr wachsam. Diese Wachsamkeit hatte er sich durch sein Leben in der Stadt angewöhnt. Er sah sich sogleich bestätigt in seinem Verhalten, als er ein Verkehrsschild erblickte, dass vor Fuhrwerken warnt:

Höchst alarmiert rechnete er hinter jeder Kurve mit einem herandonnernden Fuhrwerk, vor dem er sich eventuell nur mit einem waghalsigen Sprung in den Straßengraben retten konnte. Meine Seele kam in dieser hektischen Atmosphäre nicht zur Ruhe, sodass sie anfragte, ob man nicht in die Stadt zurückkehren könne. Noch ehe sich mein Körper mit dieser Anfrage beschäftigen konnte, kam plötzlich ohrenbetäubender Lärm am Himmel auf. Mein Körper hielt sich die Ohren mit seinen Händen zu und rannte schutzsuchend in eine Scheune, wo er einen Mann antraf. Dieser Mann erklärte ihm, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland soeben seine Scheune überflogen habe, was er jedoch nicht verstehe, denn für die Überwachung des süddeutschen Luftraums sei doch die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 74 aus Neuburg an der Donau zuständig.

Meine Seele äußerte indessen den Wunsch, sich auf das Stroh in der Scheune zu legen, um etwas auszuruhen. Ehe mein Körper sich mit diesem Wunsch befassen konnte, sagte der Mann in der Scheune, dass sein Sohn im Fliegerhorst Lechfeld beschäftigt gewesen sei, bis er vor einigen Jahren ins nationale Lage- und Führungszentrum für Sicherheit im Luftraum nach Uedem am Niederrhein berufen worden sei.

Der Mann betrachtete nachdenklich einige Landmaschinen und -geräte, die vor ihm in der Scheune herumstanden und -lagen. Da kam ihm ein neuer Gedanke. Er sagte nämlich, jetzt fiele ihm ein, dass sein Sohn es sein könnte, der die Alarmrotte aus Wittmund geschickt hat, da er seinem Sohn vor einigen Tagen gesagt habe, er brauche dringend Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor, die jedoch nur in Norddeutschland zu bekommen wären.

Meine Seele meldete erneut den Wunsch an, sich ins Stroh zu legen, als es draußen wieder sehr laut wurde. Der Mann in der Scheune blickte mich mit großen Augen an und zeigte mit dem Finger nach oben, was nur bedeuten konnte, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland wieder im Anflug war, weil sein Sohn sie geschickt hatte. Plötzlich machte es in dem ohnehin schon kaum auszuhaltenden Lärm einen lauten Knall. Einige Metallteile landeten daraufhin im Stroh neben uns. Meine Augen blickten nach oben und sahen ein Loch im Dach der Scheune. Durch einen Fluchtreflex lief mein Körper mitsamt meiner Seele ins Freie. Meine Seele erlitt einen Schock, war sie doch beim Aufprall der Metallteile im Stroh gelegen. Gottseidank ist sie unsterblich.

Der Mann kam fluchend aus der Scheune. Er schimpfte über das kaputte Dach, anstatt sich über die Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor zu freuen, die ihm sein Sohn via Alarmrotte, quasi per Expresslieferung, zugeschickt hatte. Meine Seele wollte dem Mann danken, dass er meinen Körper davon abgehalten hatte, sich ins Stroh zu legen, doch mein Körper unterließ diese Geste des Dankes. Er hörte mit seinen Ohren das Donnern der sich entfernenden Kampfjets der Alarmrotte, und nach den bisherigen Erlebnissen konnte man davon ausgehen, dass die Alarmrotte, nach der erfolgten Lieferung der Ersatzteile für den alten Hanomag-Traktor, einem Fuhrwerk hinterherjagte, das von Terroristen gekapert worden war.

Bilder vom Start der Alarmrotte in Wittmund zur Lieferung der Hanomag-Ersatzteile

Knatternde Ungeheuer in Fröttmaning

Nein, er sei kein Oköfritze, sagt er. Er habe auch nicht vor, die Nachfolge von Dieter Wieland anzutreten, wenngleich er Dieter Wieland sehr schätze. Alles, was er sagen wolle, würden die Bilder sagen, die gleich gemacht würden, wenn die Kamera angeht. Es sei im übrigen keine nette Geschichte, sondern eine Tatsache, dass sein Urgroßvater am 9. Juni 1927, einem Donnerstag, hier gestanden sei, genau hier, vor der Kirche, wo er jetzt steht. Das wisse er so genau, weil sein Vater es ihm erzählt habe, dem es wiederum sein Vater, also sein Großvater, erzählt habe, der als Bub daneben gestanden sei, neben seinem Vater, also seinem Urgroßvater. Denn es sei ihm wichtig zu betonen, dass er hier die Wahrheit erzähle und nicht irgendeine nette Geschichte!

Er fragt die Crew, ob die Kamera bereit sei und sie zu filmen beginnen könnten, aber die Kamera ist noch nicht bereit, und so fragt einer der Umstehenden, was denn sein Urgroßvater damals gemacht hätte, am 9. Juni 1927, einem Donnerstag, als er hier vor der Kirche stand.

Mein Urgroßvater wollte mit meinem Großvater von München nach Freising fahren, mit dem Fahrrad, sagt er, und dann habe er hier eine Pause gemacht, vor der Kirche. Plötzlich wurde es unglaublich laut. Ein Auto aus München näherte sich auf der holperigen Landstraße, umgeben von einer Staubwolke. Der Motor des Autos machte einen Höllenlärm. Die Explosionen im Zylinder des Motors waren so laut, dass mein Urgroßvater und mein Großvater dachten, der Motor müsse jeden Moment als ganzes explodieren. Aber die Explosionen blieben kontrolliert im Zylinder. Als der Wagen an ihnen vorbeifuhr, beschimpfte mein Urgroßvater den Fahrer desselben und rief, er solle sein knatterndes Ungeheuer doch gegen einen Baum fahren! Andernfalls würde die Menschheit an diesem Lärm bald zugrunde gehen.

„Wir wären soweit!“ ruft der Kameramann dazwischen. Die Umstehenden gehen aus dem Bild. Die Kamera geht an, auf ihn gerichtet, wie er vor der Kirche steht. Er sagt:

„Meine lieben Zuschauer, grüß Gott! Ich begrüße Sie heute von einem Ort, den es eigentlich gar nicht mehr gibt. Früher gab es ihn, aber dann wurde er zunächst zur Mülldeponie und stinkenden Kloake im Norden Münchens, und schließlich musste er den Autobahnen weichen, die sich heute genau an seinem früheren Platz kreuzen. Warum kennt man diesen Ort nun wieder, obwohl es ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gibt? Weil ihm gegenüber, auf der anderen Seite des… des Flusses wollte ich schon sagen – auf der anderen Seite der Autobahn, die mit ihrem dichten Verkehrsfluss aber mindestens genauso schwer querbar ist wie ein echter Fluss – seit nunmehr über zehn Jahren ein großes Fußballstadion steht, die Allianz-Arena. Jetzt wissen die meisten von Ihnen, wo ich stehe, und zwar in Fröttmaning, der Pilgerstätte der Fußballgläubigen, der Anhänger des allmächtigen FCB. Ich stehe aber nicht vor der Allianz-Arena, dem modernen Tempel, sondern vor der inmitten von Bäumen versteckten Heilig-Kreuz-Kirche, dem letzten verbliebenen Rest des ansonsten versunkenen Dorfes Fröttmaning.“

Blick vom Müllberg auf Fröttmaning: rechts die Heilig-Kreuz-Kirche, hinter den Bäumen die vorbeiführende Autobahn, dahinter die Allianz-Arena

„Danke, Schnitt! Wir drehen oben am Müllberg weiter. Das Licht ist dort optimal heute!“ ruft der Lichtmeister.

Er blickt kurz irritiert ob des unvorhergesehenen, abrupten Endes seines Vortrages, nutzt die Pause aber dann und geht unter einen der Bäume, die die Kirche mit ihrem kleinen Friedhof säumen. Einer der Umstehenden ist ihm wieder gefolgt und sagt, dass ihm die Geschichte mit dem Urgroßvater, der am 9. Juni 1927 hier vor der Kirche gestanden sei, nicht aus dem Kopf gehe.

„Was fasziniert Sie an der Geschichte? Dass mein Urgroßvater Autos knatternde Ungeheuer nannte und dachte, sie würden die Menschheit zugrunde richten? Lauschen Sie mal den Autos auf der Autobahn: Wieviele Explosionen finden da statt in den Motoren! Nicht mehr mit lautem Knall, sondern sehr kontrolliert, aber unüberhörbar. Eine Explosion nach der anderen. Und wir mittendrinnen! Deshalb bin ich so gerne hier, in dieser Oase der Ruhe, umgeben von all dem Lärm! Ein Auto war meinem Urgroßvater schon zuviel, und ich begebe mich freiwillig unter hunderte von ihnen, die in einem Affentempo an uns vorbeiknattern! Durch die Bäume betrachtet könnte man meinen, es seien lauter kleine Ungeheuer. Ist das nicht verrückt! Und dann der ganze Müll, der hier immer noch rund um uns deponiert wird! Ein irrer Ort! –

Entschuldigen Sie, ich halte Vorträge! Deshalb bin ich zum Fernsehen gegangen, um für mein Gerede bezahlt zu werden. Denn das ist das einzige, was ich kann.“

„Reden Sie weiter, bitte! Ich würde mir allerdings wünschen, dass Sie solche Dinge öfter vor der Kamera sagen! Wieso erzählen Sie die Geschichte ihres Urgroßvaters und den knatternden Ungeheuern eigentlich nur mir und nicht den Zuschauern im Fernsehen?“

„Zu unbedeutend. Zu banal. Interessiert keinen. Kommen Sie mit zu den Dreharbeiten oben am Berg! Dort reden wir weiter!“

Fröttmaning am Autobahnkreuz München-Nord

Krempelhuberplatz

Es war dunkel, was mich erstaunte, denn um diese Jahreszeit war die Nacht – die Dämmerung nicht eingerechnet – nur etwa sieben Stunden lang. Ich hätte also genügend Zeit gehabt, wenn ich richtig rechne, siebzehn Stunden, den Krempel am hellen Tag einzusammeln. Hatte ich so getrödelt, oder gab es so viel Krempel, der vor den Häusern gestanden und mit ZU VERSCHENKEN markiert war, dass ich es nicht schaffte, vor der Dunkelheit aufzubrechen?

Der Wagen holperte und stolperte über den unebenen Weg durch den Wald, mit mir und dem ganzen Krempel darauf. Ich blickte nach oben und sah die schwarzen Blätter, die an mir vorbeirauschten. Ich bezweifelte allmählich, ob es wirklich eine gute Idee war, mit dem Krempel zum Krempelhuberplatz zu fahren. Währenddessen kam ich aus dem Wald ins Freie, ich sah dunkle Wolken über mir, sodass ich meine Vermutung, die ich im Wald hatte, nämlich dass es Nacht sei, revidierte und meine neue Wirklichkeit so aufstellte: Es war Tag, der durch die dunklen Wolken am Himmel im Wald wie Nacht erschienen war. Um mich vollends zu überzeugen, blickte ich noch einmal zum Wald zurück und sah, dass aus den schwarzen Blättern grüne Blätter geworden waren.

Der Krempel am Wagen schepperte weiter, unabhängig davon, ob es Nacht oder Tag war. Endlich am Krempelhuberplatz angekommen, lud ich den Krempel ab. Ein Mann stieß zu mir, der sich als Hempel vorstellte. Hempel sagte, ich könne hier nicht den ganzen Krempel abladen. Ich bräuchte dazu eine Genehmigung der Stadtverwaltung.
Ich habe bereits beantragt, sagte ich daraufhin, meine Krempelabfuhr in die Stadtverwaltung eingliedern zu lassen. Diesem Antrag sei jedoch noch nicht stattgegeben worden. Deshalb muss ich mein Unternehmen einstweilen privat führen, mit allen Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes. So dachte ich, es wäre aus werbetechnischen Gründen gut, den Krempel am Krempelhuberplatz abzuladen.

Am Krempelhuberplatz

Hempel ließ sich davon nicht überzeugen, und so fragte ich, ob Herr Krempelhuber selbst da sei, damit ich ihn fragen kann, ob ich den Krempel auf seinem Platz abladen darf. Nein, sagte Hempel, Krempelhuber ist nicht da. Der sei in der Botanischen Staatssammlung in einem Gebäude, welches ein gewisser Stempel errichten ließ.

Mittlerweile schien die Sonne am Himmel, die Wolken waren verschwunden. Es war Tag, ganz eindeutig, und ich fragte mich, wie es so schnell Tag werden konnte, wo doch vorhin im Wald noch tiefste Nacht war. Waren daran der Wald schuld oder die Wolken? Oder weder noch? Oder sowohl als auch? Hempel wusste darauf auch keine Antwort, und so setzte ich mich auf den Wagen und fuhr ab zur Botanischen Staatssammlung, um dort Krempelhuber im Gebäude von Stempel zu treffen, während Hempel mir hinterherrief, gefälligst meinen Krempel wieder mitzunehmen.

 

Der Krempelhuberplatz befindet sich im Münchner Stadtteil Lerchenau. Er ist benannt nach August von Krempelhuber. Krempelhuber war ein Botaniker, der sich besonders mit Flechten befasste. Seine umfangreiche Sammlung ist heute Bestandteil der Botanischen Staatssammlung Bayerns. Die Botanische Staatssammlung ist in einem Gebäude in der Menzinger Straße in München untergebracht, das unter Denkmalschutz steht und vom Architekten Ludwig von Stempel geplant wurde.

Perspektivenwechsel

Ich betrat das Büro und fand Vorderbrandner im Handstand auf dem Schreibtisch stehend vor, sein Gesicht dem Bildschirm zugewandt.

„Was machst du?“ fragte ich erstaunt.

„Agathe hat mir einen Text geschickt, aber ihn leider verkehrt herum eingescannt. Deshalb muss ich ihn verkehrt herum lesen.“

„Du hättest doch den Text um 180 Grad drehen können, anstatt dich selbst zu drehen und in den Handstand zu gehen.“

„Daran habe ich auch gedacht, aber ich war zu faul dazu.“

Etwas verwundert setzte ich mich an meinen Schreibtisch und sah Vorderbrandner dabei zu, wie er kopfüber im Handstand auf dem Schreibtisch stehend den Text las, den Agathe verkehrt herum eingescannt hatte.

„Um was geht es in diesem Text?“ fragte ich.

„Es geht darum, dass das Gehirn eine Gewohnheitsmaschine ist. So steht hier unter anderem, dass es mit ein bißchen Training ohne Probleme möglich wäre, einen Text verkehrt herum zu lesen, also ein Blatt um 180 Grad zu drehen und von rechts unten nach links oben zu lesen, wir aber aus Gewohnheit das Blatt nicht drehen und von links oben nach rechts unten lesen.“

„Dann hat Agathe dir den Text also absichtlich verkehrt herum geschickt: Du solltest den Text normal sitzend von rechts unten nach links oben lesen!“

„Glaubst du?“ fragte Vorderbrandner, während er seine Füße per Überschlag auf den Boden katapultierte. „Agathe meinte jedenfalls, unsere Beziehung brauche einen Perspektivenwechsel, sie bewege sich zu sehr in eingefahrenen Bahnen.“

„Siehst du! Da ist es doch ein guter Start, Texte verkehrt herum zu lesen, um eine neue Perspektive zu bekommen.“

„Finde ich nicht. Wozu soll ich mein Gehirn strapazieren, wenn ich einen Körper habe, den ich bewegen kann!“ sagte Vorderbrandner und katapultierte sich wieder in den Handstand, um weiterzulesen.

Kniefall

Es ist ein Herumgepoltere und Geschreie, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalte. Jeder will Recht haben, und hat damit Recht: Denn es stimmt – jeder hat Recht, solange er in seinem Rechthaben das Recht des anderen achtet. Doch überall reklamieren die Despoten das Recht für sich alleine und ernten begeisterten Beifall. Immer mehr rücksichtslose Rechthaber scheinen die Spitzenämter der Politik zu besetzen.

Aus Angst entlarvt zu werden und um von sich abzulenken, wird als letztes Mittel die Nazikeule gegen Deutschland geschwungen. Doch die Geschichte teilt nicht in Gut und Böse, in Opfer und Täter. Waren die Menschen, die aus Ostpreußen vertrieben wurden, lauter schlechte Menschen, nur weil sie Deutsche waren? Wer hat hier Recht? Die Sowjets, die danach kamen? Oder die Polen, die vor lauter Angst nicht mehr wussten, ob sie nach links oder rechts schauen sollen?

Wo bleibt die Demut in diesem Geschreie? Die Geste der Demut ist eine große Geste. Viele sagen, Willy Brandt war damals lediglich ein großer Schauspieler, werfen ihm kalkuliertes Theater der Weltgeschichte vor, das er aufführte bei seinem Kniefall am Warschauer Ghetto-Ehrenmal am 7. Dezember 1970. Aber ich glaube an die Wahrhaftigkeit dieser Geste.

Ich wünsche mir, dass die Despoten, die in mir Angst und Schrecken auslösen, sich hinknien in Demut vor dem Leben, auch wenn diese Geste vielleicht viel größer ist, als sie verkraften können.

Vereinsgründung mit Hindernissen

Es war mir wieder einmal völlig unklar, wer ich bin, als ich an diesem Morgen erwachte. Die Augen schon geöffnet, aber den Körper noch nicht aufgerichtet, lag ich im Bett.

Zu sein, wer ich bin, ist eine Aufgabe, die mir das Leben täglich stellt, sagte eine Stimme am anderen Ende des Raumes zu mir. Ich richtete mich auf, rieb mir die Augen und sah, dass mein Spiegelbild zu mir gesprochen hatte. Ich gab ihm recht. Um mich der Aufgabe des Lebens zu stellen, nämlich zu sein wer ich bin, stand ich auf und machte mich bereit für den Tag.

Ich beschloss, ein paar Schritte zu gehen, denn Bewegung tut immer gut, und ging nach draußen. Auf der Straße sah ich an einem Haus folgendes Schild:

Abschaffungsverein

Bringt mich dieser Verein weiter bei meinem Anliegen, zu sein, wer ich bin? Um es herauszufinden, wollte ich klingeln, tat es aber nicht, sondern ging weiter. Drei Wörter kreisten nun in meinem Kopf: Sex, Missbrauch und Gewalt. Da ich überzeugt bin, dass Sex ein Mittel ist, um herauszufinden, wer ich bin, ich dieses Mittel jedoch nicht mit Missbrauch und Gewalt in Verbindung bringen will, war ich froh, nicht geklingelt zu haben. Ich setzte mich auf eine Bank und überlegte, was ich tun könnte. Mein Spiegelbild hat mir schließlich eine Aufgabe gestellt, die ich nicht unerledigt lassen wollte. Ich beschloss daher, den Verein zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung zu gründen.

Ich stand auf, und drei Wörter kreisten in meinem Kopf: Sex, Liebe und Befreiung. Ich rannte in die naheliegende Kirche, die für ihre gute Akustik gerühmt wird, stellte mich in den Mittelgang und rief laut:

„SEX, LIEBE, BEFREIUNG!“

Dies sollte eine Art Gründungsakt des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung sein. Einige Leute saßen oder knieten in den Bänken der Kirche und blickten mich böse an. Einer stand auf, ging auf mich zu und sagte:
„Sind Sie verrückt? Hören Sie sofort mit Ihrem Geschrei auf, oder ich hole die Polizei!“
„Nein, bitte nicht! Die Gründung des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung soll von keinem Gewaltakt überschattet werden. Ich entschuldige mich, wenn ich diese Kirche soeben missbraucht haben sollte!“
Unter bösen Blicken verließ ich die Kirche.

Welche Wörter hatte ich soeben gebraucht: Gewaltakt und Missbrauch? Sind diese Wörter also fest in meinem Kopf eingebrannt? Ja, wer bin ich denn? Ein gewalttätiges Monster, das das Leben missbraucht? Ich stellte fest, dass für die Etablierung des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung noch einiges an Beharrlichkeit und Überzeugungsarbeit nötig sein wird.