Archiv der Kategorie: Wisuelles

Wo alle Worte zuwenig wären, da hilft vielleicht Wisuelles.

Vater und Sohn

ein Stück für zwei Personen

Vater (Mitte vierzig)
Sohn (elf Jahre alt)

Der Vater hält den Sohn in fester Umklammerung. Der Sohn schaut ihm über die Schulter, den Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne gewandt, und will sich aus der Umklammerung befreien. Der Vater aber hält ihn stoisch fest, scheinbar liebevoll, aber doch auf eine subtile Art gewaltsam.

Vater: Mein Junge, mein Junge, mein lieber kleiner Junge!

Der Sohn entkommt der Umklammerung und wendet sich mit stolzer Brust vom Vater ab. Der Vater schaut den Sohn traurig von hinten an.

Vater: Ich habe alle Tischkanten abgeschrägt, damit du dir nicht mehr den Kopf an ihnen aufschlägst.

Sohn: Ich schlage mir den Kopf nicht mehr auf.

Der Sohn geht ein paar Schritte.

Vater: Wo gehst du hin?

Sohn: In den Garten.

Vater: In welchen Garten?

Sohn: In den Obstgarten.

Vater: Nein! Bitte nicht! Der Obstgarten liegt direkt neben der Straße. Wenn wieder ein Auto von der Straße abkommt, wird es dich zu Tode fahren.

Sohn: Die Autos kommen nicht von der Straße ab. Sie bleiben auf der Straße. Außerdem haben sie jetzt eine Leitplanke montiert, die ein Auto nicht mehr von der Straße abkommen lässt.

Vater: Ach, Leitplanke! Neulich wurde ein Auto von der Leitplanke ausgehoben und kopfüber in den Garten geworfen. Normalerweise wäre der Fahrer gestorben. Wie durch ein Wunder hat er überlebt. – Du warst nicht da, als dieser Unfall passierte.

Sohn: (genervt) Nein, ich war auf Landschulwoche. – Ich gehe jetzt in den Garten!

Vater: In den Obstgarten?

Sohn: Ja, in den Obstgarten!

Vater: Wieso musst du jetzt in den Obstgarten gehen? Es ist zu gefährlich!

Sohn: Ich will jetzt in den Obstgarten gehen! Ich will sehen, ob es schon rote Äpfel gibt.

Vater: Die Äpfel! Die Äpfel! Ich bin der Meinung, man sollte den Apfelbaum fällen. Es ist viel zu gefährlich, sich dort aufzuhalten, direkt neben der Straße, wo jederzeit ein Unfall passieren…

Sohn: (unterbricht den Vater) Es ist wunderschön im Schatten des Apfelbaums.

Vater: Immer diese Sturheit! Wenn ich etwas sage, sagst du genau das Gegenteil. Wieso hört mir eigentlich nie jemand zu?

Sohn: Ich will einfach nur in den Obstgarten gehen.

Vater: Es ist zu gefährlich! Lass dir das sagen! Ich weiß, was gefährlich ist. Ich weiß es noch genau, damals, als die Amerikaner Salzburg bombardierten…

Sohn: Was haben die Bomben auf Salzburg damit zu tun, dass ich in den Obstgarten gehen will? Immer entwickelst du aus Lappalien deine Horrorgeschichten! Hör endlich auf damit! Niemanden interessiert das!

Vater: Aber es war ein flammendes Inferno damals. Die Nacht war hellerleuchtet…

Sohn: (stürmt auf den Vater zu und schlägt auf ihn ein) Hör endlich auf mit dieser damit! Es interessiert mich nicht!

Der Vater holt mit der Hand aus, gefriert dann aber in seiner Bewegung und fängt zu weinen an.

Der Sohn geht in den Obstgarten, steigt auf die Leitplanke und lässt die Autos nah an sich vorbeirauschen.

Sohn: Frei! Ich bin frei!

Wie eine Brücke über stürmisches Wasser…

Da war er also, der kleine Garten, und in ihm ein Teich, so klein, dass er kaum als solcher bezeichnet werden kann. Liebevoll eingebettet in den kleinen Garten liegt er da, der kleine Teich, der wirklich kleine Teich. Ein winziger Teich, ja, das ist der richtige Ausdruck: ein winziger Teich. Das besondere an diesem winzigen Teich ist nun, dass über ihn eine Holzbrücke führt, sodass er fast gänzlich unter der Holzbrücke verschwindet, obwohl die Holzbrücke auch winzig ist. Eine winzige Holzbrücke über einen winzigen Teich. Eine Brücke ohne Funktion, so möchte man meinen, und trotzdem oder deswegen notierte ich sie als Brücke über stürmisches Wasser, ihre Winzigkeit durch Überhöhung doppelt betonend.

Ich war noch ganz in diesen Gedanken vertieft, als wir weitergingen zur großen Wiese. Dort legte ich mich ins Gras, um weitere Gedanken der winzigen Brücke über stürmisches Wasser zu widmen. Paul und Lia, meine beiden Begleiter, krabbelten und kletterten auf mir herum, und es bedarf vermutlich der zusätzlichen Information, dass Paul und Lia gerade zwei Jahre alt geworden sind, um den Leser dieser Zeilen nicht zu irritieren mit der Aussage, dass Paul und Lia auf mir herumkrabbelten und -kletterten. Kinder krabbeln und klettern auf Erwachsenen herum wie Erwachsene auf einer Brücke über stürmisches Wasser, dachte ich, diesen Gedanken jedoch nicht weiterdenkend, denn nun kamen Max und Isa auf die große Wiese, und ich dachte: Wahnsinn, Max und Isa, die sind jetzt beide schon acht Jahre alt, wobei mich Isa gestern, ja es war erst gestern, korrigiert hatte und gesagt hatte, Max wäre gerade erst acht geworden, während sie bald neun werden würde.

Bevor ich zu tief in diese Altersdebatten einsteige, ist zu erwähnen, dass Isa, als sie Paul und Lia auf mir herumkrabbeln und -klettern sah, fragte, was das sei, was Paul und Lia und ich machen würden. Sie verlangte also nach einer Bezeichnung für dieses Spiel, woraufhin ich sagte, ich sei die Brücke über stürmisches Wasser, auf der Paul und Lia gerade einen reißenden Fluss überqueren.
„Aber du bist doch ein Mensch und liegst im Gras und nicht auf einem reißenden Fluss!“ entgegnete Isa.
„Die Wiese ist ein reißender Fluss“, sagte ich:
„Siehst du, wie die Grashalme im Wind hohe Wellen schlagen! Siehst du die Menschen um uns, wie sie kämpfen mit den Wellen, um sich aus dem tosenden Wasser ans Ufer zu retten, ans Ufer dort drüben bei den Bäumen!“
In Maxes Augen sah ich nun, dass er all das sah, was ich gesagt hatte: die hohen Wellen und die kämpfenden Menschen und das tosende Wasser und das rettende Ufer bei den Bäumen und er stieg in ein Boot und begann zu rudern. Isa begann mitzurudern, und gemeinsam versuchten sie, zu den Bäumen ans rettende Ufer zu gelangen. Paul und Lia saßen unterdessen still auf der Brücke und schauten dem dramatischen Schauspiel aufmerksam zu.

So lag ich also in der Wiese als Brücke über stürmisches Wasser, als Max und Isa mit dem Boot in einer dramatischen Aktion das rettende Ufer bei den Bäumen erreicht hatten. Max sagte zu Isa: „Jetzt hat sich der Sturm beruhigt. Gottseidank saßen Paul und Lia während des Sturms auf der sicheren Brücke und nicht bei uns im Boot im tosenden Wasser! Dazu sind sie noch viel zu klein!“ Paul und Lia verließen nun die Brücke und liefen zu den beiden unter die Bäume, während ich mein Brückendasein beendete, aufstand und Max und Isa für die tolle Aufführung applaudierte. „Bravo!“ rief ich und summte, quasi als Epilog: Wie eine Brücke über stürmisches Wasser werde ich mich ausbreiten…

Empfohlen

Eine Pferdegeschichte

In einer Stadt namens Emp werden schon seit langer Zeit Fohlen gezüchtet. Diese Fohlen sind so bekannt, dass man von den Empfohlen spricht. Es gab eine Zeit, da wollte jeder, der was auf sich hielt, ein Empfohlen haben, und den wenigen, die ein Fohlen haben wollten und noch nie in Emp gewesen waren, wurde ein Empfohlen empfohlen.

Altjahrestag

Altjahrestag nannte mein Vater den 31. Dezember. Am Altjahrestag des Jahres 1984 – ich war sieben Jahre alt – streifte er mit mir durch die weiße Natur. Die ganze Landschaft war unter einer tiefen Schneedecke begraben. Wir stapften durch Wälder und über Wiesen. Der Schnee knirschte unter unseren Tritten. Sonst war es still. Alles schien zu ruhen. Später dann, zuhause, war es warm und gemütlich. Das Holz im Ofen knisterte. Es gab Warmes zu essen und zu trinken. Meine Mutter brachte mich ins Bett, und als sie mir den Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte, fragte ich die eine, in der Folge alles bestimmende Frage: „Wird jetzt nie mehr 1984 sein?“

Mutter dachte an George Orwell. Es lag ihr auf den Lippen zu sagen: 1984 fängt gerade erst an, und wer weiß, ob es jemals enden wird! Aber weil sie wusste, dass ich nicht an George Orwell denke, sagte sie: „Nein, denn morgen wird 1985 sein.“ Ich war zufrieden mit dieser Antwort. Ich spürte, dass ich das Jahr 1984 gut beendet hatte und schlief zufrieden ein. Seitdem ist es mir wichtig, Dinge gut zu beenden. Nicht nur ein Jahr. Sondern auch – einen Tag, zum Beispiel.

Einen Tag beende ich gerne mit der Wettervorhersage in den Tagesthemen. Am liebsten, wenn Sven Plöger sie moderiert. Nachdem er gesprochen und die Wetterkarten erläutert hat, gehe ich beruhigt ins Bett. Ich stelle mir vor, wie die Sterne über mir wachen und über allen die mir nahe sind und schlafe zufrieden ein.

Heute ist wieder Altjahrestag. Dieses Jahr will ich etwas Besonderes machen: Ich will das Jahr mit seinen Tagen beenden. Ich habe mir zu diesem Zweck alle Wettervorhersagen der Tagesthemen vom 1. Januar bis zum 30. Dezember besorgt. Folgende Rechnung wird meinen Tag bestimmen: Eine Vorhersage dauert ungefähr zwei Minuten. Es dauert folglich 364 mal zwei Minuten, um alle bisherigen Vorhersagen des Jahres anzusehen, also zwölf Stunden und acht Minuten.

Ich bin früh aufgestanden und setze mich um acht Uhr früh vor den Bildschirm, um die Videos der Wettervorhersagen anzusehen, Tag für Tag. So habe ich genügend Zeit, tagsüber ein paar Pausen zu machen. Krönender Abschluss soll am Abend die aktuelle Vorhersage des 31. Dezember sein.

Der Januar ist kein Problem. Schon im Februar aber fällt mir auf, dass es nicht dasselbe ist, eine alte Wettervorhersage anzusehen statt der tagesaktuellen. Die Dringlichkeit ist weg. Im März bemerke ich, dass Sven Plöger in Dauerschleife etwas nervig wird. Trotzdem halte ich tapfer durch. Ab April werden meine Pausen häufiger, immerhin habe ich schon über drei Stunden auf dem Buckel, und ich sehne die Mittagspause herbei, die ich mir nach dem Mai gönnen will.

Mitte April beschließe ich, die Mittagspause vorzuverlegen. Nach etwa einer Stunde steige ich wieder ein, bis ich Mitte Juni, während der Vorhersage für den 14. des Monats, beschließe, das Experiment abzubrechen. Es wird zu anstrengend. Ein Jahr lässt sich nicht zum Tag machen.

Was nun? Draußen wird es noch etwa eine Stunde hell sein. Ich ziehe mich warm an und gehe nach draußen. Dort angelangt, bemerke ich zu meiner Freude, dass der Boden und die Bäume mit Schnee bedeckt sind, wie einst am Altjahrestag 1984, als ich sieben Jahre alt war. Ich stapfe zufrieden durch die weiße Natur. Der Schnee knirscht unter meinen Tritten. Sonst ist es still. Alles scheint zu ruhen. Als es zu dämmern beginnt, summe ich das Wiegenlied von Brahms, zu dem ich als kleiner Junge, daran erinnere ich mich jetzt, gerne eingeschlafen bin. Ich mache mich auf den Heimweg und sage zum alten Jahr: Gute Nacht, altes Jahr, es war sehr schön mit dir!

 

Münchner Fürstenwege, Teil 1

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, saß in seinem Bett und las ein Buch über einen anderen Hagestolz: über Otto, den unglücklichsten König Bayerns. Otto war dreißig Jahre lang König von Bayern, vom Tod seines berühmten Bruders Ludwig II. bis zu seinem eigenen Tod. Otto wurde im Alter von 25 Jahren geisteskrank und wurde 68 Jahre alt. Wenn der Zweck des Lebens die Ausdehnung von Glück ist, dachte Oskar, hat das Leben Ottos keinen Zweck gehabt.

Sophia hatte angerufen. Das hatte Oskar in Aufruhr gebracht, weil es einen Hagestolz immer in Aufruhr bringt, wenn er mit Frauen Kontakt hat. Sophia hatte gesagt: „Oskar, lass uns morgen etwas Schönes machen! Zeige mir etwas Schönes!“ Oskar hatte schließlich eingewilligt, dass sie sich am Max-Joseph-Platz vor der Münchner Residenz treffen. Oskar legte das Buch über König Otto von Bayern zur Seite und versuchte einzuschlafen. Aber es ging nicht. Ständig dachte er an Sophias Worte: „Zeige mir etwas Schönes!“ Diese Aufforderung überforderte ihn. Was meint sie damit?

Nach einer mehr oder weniger schlaflosen Nacht traf sich Oskar am nächsten Morgen mit Sophia am Max-Joseph-Platz. Sie betrachteten das Denkmal für König Max I. Joseph in der Mitte des Platzes. Sie betrachteten die Fassaden von Oper und Residenz. Sie schlenderten durch die zahlreichen Innenhöfe der Residenz, von wo sie in den Hofgarten gelangten. Die Bäume zeigten sich in kahlem Braun, der Himmel in tristem Grau. Bei Oskar wollte sich kein Gefühl von Schönheit einstellen, was ihn unter Stress setzte. Schließlich hatte Sophia gesagt: „Zeige mir etwas Schönes!“

Da kam ihm die rettende Idee: „Lass uns den alten Fürstenweg entlang zu Schloß Nymphenburg gehen, dem Sommersitz der bayerischen Fürsten und Könige. Dort werden uns vor weitem Himmel anmutige Herbstwinde umwehen!“ Ein Gefühl von Leichtigkeit, von Schönheit wird sich in Nymphenburg einstellen, dachte Oskar weiter für sich. Sophia goutierte seinen Vorschlag mit einem Lächeln, was ihn sehr erleichterte. Ich möchte sagen: Die Schönheit von Sophias Lächeln erleichterte Oskar, aber ich weiß nicht, ob er selbiges dachte. Die Schönheit scheint Oskar überall zu suchen, aber nicht bei Sophia. Was hat ein Hagestolz schon bei Frauen zu suchen?

Sie gingen den alten Fürstenweg entlang. Zunächst die Brienner Straße mit ihren prachtvollen Plätzen: Odeonsplatz, Wittelsbacher Platz, Karolinenplatz, Königsplatz. Königlich, dachte Oskar, königlich! Ab dem Stiglmaierplatz ging es weiter die Nymphenburger Straße entlang. „Hier fuhren die Könige noch über Wiesen und Felder, dem Bauerndorf Neuhausen entgegen“, sagte Oskar.
„Wieso heißt der Weg dann Fürstenweg, wenn hier die Könige fuhren?“ fragte Sophia.
„Weil die bayerischen Herrscher erst unter Napoleons Gnaden Könige wurden. Vorher waren sie Fürsten, und schon als Fürsten fuhren sie diesen Weg entlang.“

Schließlich, nach einigem Fußmarsch, erreichten sie den Nymphenburger Kanal. Sie gingen auf die Brücke über den Kanal. Von dort sahen sie das Schloß in der Ferne. Wieder war ein Lächeln in Sophias Gesicht.
„Ich sollte eine Gondel rufen“, sagte Oskar, „die uns über das Wasser zum Schloss bringt. Das wäre königlich. Dafür wurde der Kanal ursprünglich angelegt.“
„Ach, zu Fuß gehen ist doch auch schön!“ sagte Sophia.
„Ich bin erleichtert über deine Gehfreude – ich hätte nicht gewusst, wo eine Gondel hernehmen! Nehmen wir die Auffahrtsallee südlich oder nördlich des Kanals?“
„Die nördliche. Dann sehen wir nach Süden. Ich sehe gern nach Süden!“

So schlenderten sie auf der nördlichen Auffahrtsallee, am Kanal entlang, dem Schloss entgegen. Als sie am Ende der Allee das Schlossrondell erreichten, öffnete sich der Himmel, von dem sich Oskar so viel erhofft hatte. Von diesem weiten Himmel über Nymphenburg. Aber er war mit Wolken bedeckt. Es war absolut nichts Schönes an ihm. Zumindest nicht für Oskar.

Der Himmel über Nymphenburg

„Schau – der blaue Fleck am Himmel, hoch über dem Schloss – ist das nicht schön!“ meinte Sophia begeistert.
Oskar rümpfte die Nase und ließ sich nur widerwillig überreden, die Parkanlagen zu besuchen.

Fortsetzung folgt.

Sekt in der Trambahnschleife

Menschen bieten mir Sekt an, aber ich will keinen Sekt! Ich habe Sekt noch nie gemocht! Ich will weg von hier, hinaus an die frische Luft, und gerade als sich alle mit den Sektgläsern zuprosten, bahne ich mir den Weg nach draußen. Die Gläser klirren, aber nicht aneinander, sondern weil sie am Boden aufschlagen. Tizia, das sehe ich im Vorbeigehen, sieht mich vorwurfsvoll an. Sie hat allen Grund dazu, schließlich ist es ihre Galerie, die gerade eröffnet wird, die ich so stürmisch verlasse, dass Gläser auf den Boden klirren und in Scherben zerbrechen. Während meines stürmischen Abgangs fällt mir ein, dass ich früher dachte, eine Sekte sei eine Versammlung von Menschen, die gerne Sekt trinken. „Ihr Sektierer ihr!“ rufe ich in meinem Zorn, als ich endlich den Ausgang erreicht habe.

Draußen endlich Ruhe! Ich gehe die Straße entlang. Ich atme tief ein. Keine Leute um mich, die mich nerven. Ich bemerke aber jemanden hinter mir. Nicht optisch, denn weder habe ich hinten Augen noch drehe ich mich um, sondern akustisch. Es tut sich mir in Form einer lauten männlichen Stimme kund. Ich vermute Folgendes: Entweder der Mann spricht mit einem schwerhörigen Menschen, oder, und das erscheint mir die plausiblere Variante, er spricht über sein Mobiltelefon zu einem anderen Menschen. Ich drehe mich um, und finde meine Vermutung bestätigt: Der Mann spricht über sein Mobiltelefon mit einem anderen Menschen, und zwar in einer Lautstärke, die für einen Schwerhörigen angenehm, für mich, der direkt vor ihm geht, äußerst unangenehm ist.

Ich will es so sehen: Das Mobiltelefon ist ein Segen für die Menschheit. Früher telefonierten die Menschen hinter verschlossenen Wänden, zuhause in ihren Wohnungen oder in einer Zelle, und niemand anderer konnte teilhaben an ihren Gesprächen. Jetzt gehen sie während ihrer Telefonate mit ihren Mobilgeräten in der Gegend herum, um möglichst viele andere Menschen an ihren Gesprächen teilhaben zu lassen. Von diesem Blickwinkel aus gesehen ist mir das Gespräch meines Kompagnons – ja, so will ich ihn nennen: meinen Kompagnon, um das Soziale unserer Begegnung zu betonen – auf der Straße nicht mehr unangenehm. Ich fühle mich nicht mehr gezwungen, mitzuhören, habe nicht mehr den Eindruck, ein Gespräch wird mir aufgedrängt, nein, ich höre interessiert zu. Ich fühle mich als Teil einer intensiven Begegnung.

Die Diskussion meines Kompagnon hinter mir mit seinem schwerhörigen Gesprächspartner am anderen Ende der Funkverbindung dreht sich darum, wer Bier, wer Wein und wer Kippen mitbringt. Hauptsache kein Sekt, denke ich, denn das würde mich zornig machen. Sekt ist das Reizthema dieses Abends, das Reizthema meines Lebens, das bei mir das Fass zum Überlaufen bringt. Reift Sekt in Fässern? Egal. Hauptsache kein Sekt, nur Bier, Wein und Kippen. Gut. Sie vereinbaren, sich auf der Grüninsel in der Trambahnschleife zu treffen, dort seien sie ungestört und können in Ruhe feiern. Eines verstehe ich nicht: Sie wollen ungestört sein, andererseits bekommt gerade die ganze Straße mit, wo sie sich treffen werden, inklusive der Schwerhörigen. Und inklusive mir. Was machen sie, wenn die ganze Straße kommt? Haben sie genug Bier, Wein und Kippen dafür?

Mein Verständnisproblem ist mir egal: Ich will diese Begegnung nutzen, will mich einklinken in die soziale Komponente dieses offenen Mobilgesprächs. Ich drehe mich wieder um zu meinem Kompagnon und sage erfreut: „Ich komme auch!“ Offenbar irritiert verstummt er plötzlich. Sein Blick erinnert mich an den von Tizia, als ich die Galerie der sich mit Sekt Zuprostenden verließ. Mein Hirn assoziiert die Ähnlichkeit der vorwurfsvollen Blicke Tizias und meines Kompagnons sofort mit Sekt: Er wird doch wohl nicht Sekt mitbringen zur Feier in der Trambahnschleife! Streng schaue ich ihn an: Kein Sekt, sondern nur Bier, Wein und Kippen! Ich hoffe er versteht.

Trotzdem habe ich mein Vertrauen in diese Veranstaltung in der Trambahnschleife verloren. Ich biege ab in die nächste Querstraße, während mein Kompagnon, noch immer mit seinem Mobiltelefon am Ohr und das Gespräch wieder aufnehmend, geradeaus weitergeht. Zuhause angekommen, hocke ich mich betrübt in den Sessel. Ich kann Tizias Blick und den Blick meines Kompagnons nicht vergessen. Diese Blicke ähnelten sich so sehr, dass ein Zusammenhang mit Sekt zwangsläufig bestehen muss! Warum nur Sekt, warum nur immer Sekt, obwohl ich Sekt nicht ausstehen kann! Bin ich wirklich nur von Sektierern umgeben? Ich bekomme Angst. Ich bekomme Angst, dass die Partytiger der Trambahnschleife herausfinden wo ich wohne, mich abholen und gewaltsam zur Trambahnschleife schleifen, wo sie mir dann Sekt einflößen. Unruhig und voller Angst gehe ich ins Bett und schlafe erst ein, als meine Valium-Tablette endlich wirkt.

Nächster Morgen: Ich wache auf, noch benommen. Doch die Neugier treibt mich zur Trambahnschleife. Vorsichtig nähere ich mich dem Ort des Geschehens. Er ist verlassen. Ich finde leere Bier- und Weinflaschen und Zigarettenstümmel. Keine Sektflaschen, nirgends, soviel ich auch danach suche. Meine Angst war unbegründet. Da waren keine Sektierer am Werk. Die Einladung, die mein mobiltelefonierender Kompagnon an seine Umwelt ausgesprochen hat, war von ehrenhaftem Charakter, war ein Geschenk für die Welt. Um Buße zu tun und meine Gedanken zu ordnen, sammle ich Kronkorken und Zigarettenstümmel ein, die verstreut herumliegen, und gebe sie in leere Becher und Flaschen, um diesem großen Fest an der Trambahnschleife, das ich leider verpasst habe, ein Denkmal zu setzen.

Fleischgedicht

Es soll Leute geben, die sich von Licht ernähren, die also das photosynthetische Leben einer Pflanze leben. Mir ist diese Gabe nicht gegeben: Im Abstand von jeweils ein paar Stunden meldet mein Körper das Bedürfnis nach Organischem an. Momentan versuche ich, mich von Pflanzlichem zu ernähren, also auf Fleisch zu verzichten. Vielleicht steckt dahinter der unbewusste Wunsch, photosynthetische Fähigkeiten einer Pflanze zu entwickeln. Aber ich muss zugeben: Das fleischlose Leben fällt mir schwer!

Letzte Nacht hatte ich einen Traum: Ich durchwanderte eine idyllische Berglandschaft, als ich auf einer Almwiese eine junge Kuh erblickte. Friedlich riss die Kuh Grashalme aus dem Boden und fraß sie, während ich mich ihr näherte. Ich streichelte sie an den Flanken.

Unversehens zückte ich mein Schwert. Ich war sehr überrascht, wenn nicht gar erschrocken, dass ich ein Schwert bei mir trug, weil ich das im Leben außerhalb meiner Träume nicht tue. Aber in meinem Traum zückte ich es mit großer Selbstverständlichkeit und versetzte der Kuh einen gezielten Stich in ihre Brust. Ich hatte sie getötet. Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Erstaunlich, wie mühelos ich das hinbekommen hatte, das Töten, das ohne größeren Widerstand der Kuh abgelaufen war, so sicher saß der Stich, und im Nachhinein muss ich sagen, dass mir das so wohl nur im Traum gelingen konnte. Dann machte ich mich daran, an das Fleisch der Kuh zu gelangen. Das gelang mir ebenfalls mit Fertigkeiten, die ich im Alltag von mir nicht kenne. Der Jäger in mir erwachte in diesem Traum, und meine unendlich große Lust auf Fleisch trieb mich zu Höchstleistungen.

Ich verzichtete darauf, die Kuh in ihre Teile zu zerlegen und sie in eine Küche zu verfrachten. Ich begann am Ort der Tötung vom Fleisch zu essen, solchen Hunger hatte ich. Das Fleisch war noch schön warm und von Blut getränkt. Einige Artgenossen von mir kamen den Weg entlang, wohl vom Geruch angelockt, gesellten sich zu mir und begannen ebenfalls zu essen. Es war genug Fleisch für alle da. Ich freute mich, den Hunger von so vielen stillen zu können.

Als wir uns begierig über das Fleisch hermachten, bemerkte ich Josefine neben mir. Es war ungewohnt, wie wir beide am Leib der getöteten Kuh knieten, mit blutverschmierten Mündern, aber ich freute mich, dass Josefine da war. Erst jetzt war das Festmahl ein richtiges Festmahl. Später, als wir alle satt waren, wusch ich mir das Blut von Gesicht und Händen, nahm meine Gitarre und spielte ein paar Lieder. Die Lieder handelten vom Kommen und Gehen, vom Leben und vom Tod. Neben uns machten sich währenddessen die Geier an die Reste der Kuh.

Als ich heute morgen erwachte, war mir dieser Traum noch sehr präsent. Er hatte etwas Wahrhaftiges an sich. Josefine lag neben mir und schlief selig. Ich hatte unglaublichen Appetit auf Fleisch. Doch ich widerstand meiner Fleischeslust und bereite mir kein Fleischgericht. Stattdessen schrieb ich folgendes kritisches Fleischgedicht:

Ich hatte, wie gesagt,
mir Würste in den Bauch gejagt.
Und die Würste lagen
mir dann sehr im Magen.

Vermutlich war’n sie viel zu fett!
Was Mageres soll’s sein:
Vielleicht etwas vom Schwein –
ein saftig brutzelndes Kotelett?

Qual der Wahl

Ich gehe die Straße entlang, weil ich es zuhause nicht aushalte. Der Entscheidungsdruck wird unerträglich. Soll ich wie üblich SPD wählen, obwohl ich Martin Schulz gar nicht leiden kann? Ich kann meine Entscheidung doch nicht von einer Person abhängig machen, oder Sigmar? Soll ich grün wählen, als Alternative? Um ehrlich zu sein, sind mir da mittlerweile zu viele schwarze Sprenkel drin in diesem Grün. Da kann ich gleich Union wählen. Ich höre oft den feschen Christian reden, aber ich habe das Gefühl, der spricht nur zu den Männern, deren Frauen mit ihren SUVs die Straßen der Stadt verstopfen. Weiß der Kuckuck was die aneinander so toll finden! Ich fühle mich jedenfalls außen vor.

Ich wollte good old Heiner um Rat bitten, wen ich wählen soll, aber der wollte sich das auch nicht mehr antun und hat sich davor aus dem Staub gemacht. Soll ich diesmal also wirklich über meinen Schatten springen und good old Angi wählen, damit alles so bleibt wie es ist?

Ich gehe an einem Mülleimer vorbei, bei dem zwei ältere Männer darüber streiten, wer zuerst die Pfandflasche entdeckt hat, die darin steckt. Da kommt mir eine neue Idee: Ich wähle AfD, um sicherzugehen, dass ich, wenn ich selbst einmal ein älterer Mann bin, mich nicht mit Afghanen und Syrern um wertvolle Pfandflaschen streiten muss.

Ich gehe weiter, und als hätte eine höhere Macht meine Gedanken mitbekommen, sehe ich folgendes Plakat:

Jetzt weiß ich endlich, welche Partei ich wähle bei der Bundestagswahl am Sonntag: Ich wähle die Partei DIE PARTEI – denn sie ist sehr gut!

 

Ein Foto für die Welt

Ich habe mich lange gegen die sogenannte Digitalisierung gewehrt, wollte meine Privatsphäre achten, wollte der Instagramisierung trotzen. Doch nun haben mich all die netten Menschen von Google, Facebook etc. bekehrt.

Ich weiß jetzt, dass es notwendig ist, sich zu zeigen, ja mehr noch, dass es glücklich macht. Darum teile ich heute voller Freude ein Foto mit der Welt, dessen Motiv aus meinem tiefsten Herzen kommt:

Ich bin sehr froh, dass ich diesen Schritt getan habe, fühle mich sehr erleichtert und warte auf die spannenden Kommentare der Welt. :—)

König Arthurs Leben in Liedern

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, denn da alles mit allem zusammenhängt, ist es nicht leicht, einen Anfang zu finden. Ich weiß nicht einmal, ob es irgendetwas zu erklären gibt. Ich kann nur soviel sagen: Musik gefiel ihm. Musik gefiel ihm sehr. Mit Liedern wandelte er durchs Leben. Und er hieß Arthur, das weiß ich auch, und da er Arthur hieß, hielt er sich für einen König.

Seine bevorzugten Launen waren Größenwahn und Melancholie. Es ist nirgends festgehalten, dass es so war, es ist eine Vermutung, die auf Erzählungen beruht und mittlerweile vielleicht zu einem Mythos verklärt wurde, vor allem von mir, von seinem Sohn.

Je nach Laune hielt er sich unterschiedliche Ritter in seiner Tafelrunde. In seinem Größenwahn war Marc Bolan sein Lancelot, in seiner Melancholie war es Nick Drake. Später, als ihm seine Launenhaftigkeit zu anstrengend wurde, fand er in Bryan Ferry einen Kompromiss-Lancelot an seiner Seite, der für ihn glaubhaft sowohl Größenwahn als auch Melancholie verkörperte.

Doch dann war er nicht mehr da, mein König Arthur. Ich vermisste die Musik, die er mir vorgespielt hatte. Es war einsam zuhause, auf Camelot, wie ich es nannte. Als mich meine Mutter eines Abends ins Bett brachte, fragte ich, ob Vater jetzt auf Avalon sei. Gut möglich, sagte sie und machte ein trauriges Gesicht.

Sie sagte, dass er dort wahrscheinlich das Superweib suche, dass es aber schwierig sein könnte für ihn, ein solches zu finden, denn er sei nicht Supermann, und wie soll jemand ein Superweib finden, wenn er nicht Supermann ist. Ich las große Enttäuschung im Gesicht meiner Mutter. Ich verstand die Geschichte von Superweib und Supermann nicht. Ich verstand nur eines: Mein Vater würde immer König Arthur für mich bleiben, mit all den Musikern in seiner Tafelrunde.

In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Avalon, und wie mein Vater sich dort mit seinem Superweib herumtreibt. Das Superweib sah meiner Mutter erstaunlich ähnlich.

Bilder meines Traums

Camelot - Hof des König Arthur
Avalon - mystischer Aufenthaltsort von König Arthur
Marc Bolan
Nick Drake
Bryan Ferry