Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Confusion 3

Fortsetzung von Teil 2

Wir hörten stundenlang Confusion von ELO, mein Onkel und ich.

Jedesmal wenn der Song zu Ende ging, hob mein Onkel die Nadel, schwenkte sie zurück zum Anfang und ließ sie wieder auf die Platte gleiten, sehr darauf bedacht, genau den Anfang zu erwischen, um unnötiges Geschrei zu vermeiden, denn auf den ersten Song Shine a Little Love vor Confusion reagierte ich fast so allergisch wie auf Glasscheiben. Ich saß währenddessen da mit dem Plattencover in der Hand, das ich fasziniert betrachtete, es gab mir Geborgenheit, es gibt mir jetzt noch Geborgenheit, es zeigt den jungen Mann mit Turban, der das Raumschiff betrachtet, ich sitze jetzt genauso über ihm wie vor über vierzig Jahren, wie sollte es auch anders sein, ich bin noch immer derselbe Junge, ständig in Angst und Sorge, durch dicke Glasscheiben von der Liebe getrennt zu werden: You lost your love and you just can’t carry on, you feel there’s no one there for you to lean on.

Confusion

Irgendwann endete dieser wunderbare Confusion-Tag bei meinem Onkel. Meine Eltern kamen aus der Stadt zurück und holten mich ab, sie fuhren mit mir nachhause in den Chiemgau. Ich hatte mich beruhigt, so erzählt meine Mutter, ich summte während der Fahrt Confusion, so gut ich das mit drei Jahren konnte, zuhause machte ich Fortschritte beim Wiedererkennen meiner Eltern, und alles geriet in Vergessenheit. Nur meine Angst vor dicken Glasscheiben blieb. Ich hatte panische Angstattacken, vor allem wenn meine Mutter außer Haus ging und ich sie durch das Fenster fortgehen sah.

Als ich ins Schulalter kam, nahm mich meine Großmutter zur Seite und sagte mir eindringlich: „Bub, du musst funktionieren, jetzt kommst du in die Schule, wo kommen wir da hin, wenn du dich dauernd so aufführst? Willst ins Irrenhaus kommen?“ Ich bekam daraufhin panische Angst vor meinen Angstattacken. Wenn ich sie hochkommen spürte, rannte ich tief in den Wald neben unserem Haus, lief weinend zwischen den Bäumen herum, und als ich mich beruhigt hatte, schlich ich leise nachhause.

Als ich vierzehn war, träumte ich davon, zu meinem Onkel nach München zu ziehen. Er wohnte noch immer im Arabella-Hochhaus, und ich hoffte, die Pet Shop Boys, meine damaligen Idole, würden in den Musicland-Studios ein Album produzieren, wo ich sie dann treffen könnte. Doch mitten in diesen Traum platzte die Nachricht, dass mein Onkel verschwunden ist, spurlos, damals konnte man noch, ohne Handy, spurlos verschwinden, seine Wohnung fand man vollkommen leer vor, nur eine Schallplatte in der Hülle lag auf dem Boden, Discovery von ELO, mit einem beschriebenen Zettel darauf: Für meinen Neffen Emil. Niemand konnte mit dieser Nachricht etwas anfangen, auch ich nicht, ich wollte nichts mit ihr anfangen, ich nahm sie wahr, tief in meinen seelischen Tiefen, in die ich nicht hinabsteigen konnte, die Nachricht ging in der allgemeinen Trauer verloren, im Schluchzen meiner Mutter um ihren Bruder.

Bald darauf machten die Musicland-Studios zu. Meine Angstattacken kehrten heftig zurück, ich konnte sie nicht mehr kontrollieren. Nach ein paar Jahren, ich hatte unter anderem einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter mir, erklärte man meinen Onkel für tot. Discovery mit dem Zettel meines Onkels drauf ging bei irgend einem Umzug verloren. Ich habe viele Umzüge hinter mir. Denn ich flüchtete nun nicht mehr nur in den Wald vor meinen Angstattacken, sondern in andere Länder und Städte. Um wieder in München zu landen. Um hier langsam zu beginnen, meine Confusion anzusehen und zu sortieren.

Ich betrete die Wiese am Wasser mit den Bäumen. Die Sommersonne steht hoch am Himmel. Ein leiser Wind säuselt durch die sattgrünen Blätter der Bäume und begleitet das Rauschen des Baches. Mein Handy vibriert: Anna-Sophia fragt, ob wir uns treffen können. Darunter sehe ich noch einmal die Nachricht von Jeanne: Sie ist auf dem Rückweg aus Frankreich. Johanna winkt mir aus dem Gras: Bestanden! ruft sie. Weiter hinten sehe ich Nana und Boris, wie sie ein Bad nehmen.

Confusion 2

Fortsetzung von Teil 1

Als sich der Schwindel gelegt hat, richte ich mich auf, werfe eine Decke über meinen fröstelnden Rücken und beuge mich über das Plattencover. Vorsichtig, mit immer noch zitternden Händen, nehme ich die Platte aus der Hülle, lege sie auf den Spieler, A-Seite nach oben, und hebe die Nadel an den Anfang des zweiten Liedes:

Ich höre die ersten Klänge, ich spüre mein Herz schlagen, ein Schauer geht über meinen Rücken, Raum und Zeit heben sich auf, es katapultiert mich ins München des Jahres 1980, in die Wohnung meines Onkels im Arabella-Hochhaus in Bogenhausen:

Ich war damals gerade von einer mehrwöchigen Auszeit im Krankenhaus, die mir infektiöse Bakterien in meinem Darm ermöglicht hatten, zu meiner Familie zurückgekommen. Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr hatte man mich vollkommen isoliert. Knapp drei Jahre war ich alt, ich habe keine Erinnerungen an diese Zeit im Krankenhaus. Nur an die dicke Glasscheibe, die mich von meiner Umwelt trennte, auch von meinen Eltern, diese Scheibe erscheint mir heute noch in meinen Träumen. Die Isolation war so perfekt gewesen, dass ich nach meiner Heimkehr meine Eltern nicht mehr erkannte. Um meine Erkennungsfähigkeiten ihnen gegenüber wieder zu erlernen, wollten sie mich nicht allein mit meiner Schwester und meinen Großeltern lassen, als sie nach München fuhren um einige Dinge zu erledigen. So packten sie mich ins Auto und nahmen mich mit. Während der Hinfahrt, so erzählt meine Mutter, wobei sie sich selbst nicht mehr ganz sicher ist, es ist ja schon so lange her, doch sie ist sich ziemlich sicher, während der Hinfahrt kamen sie und mein Vater auf die Idee, mich nicht in die Stadt mitzunehmen, sondern mich zu meinem Onkel zu bringen, um ihre Erledigungen ohne mich schneller erledigen zu können.

Mein Onkel residierte im Arabella-Hochhaus in Bogenhausen, in der neu errichteten Vorstadt, ziemlich futuristisch muss das damals gewesen sein, ziemlich hoch oben im Hochhaus hatte er seine Wohnung. Mein Onkel war ein Musik-Freak, sagt meine Mutter, mit großem Stolz präsentierte er jedem seine Plattensammlung und erzählte von den Musicland-Studios, die sich im Keller des Hochhauses befanden, die Familienlegende sagt, dass er einst Freddie Mercury am Gebäude getroffen und sich mit ihm unterhalten hat. Und Jeff Lynne von Electric Light Orchestra sowieso, meine Mutter sagt, das war sein größter Held unter den Heroen, die sich im Keller des Arabella-Hochhauses einfanden, um ihre Platten aufzunehmen.

Meine Eltern jedenfalls, so erzählt meine Mutter, übergaben mich der Obhut meines Onkels, um in die Stadt zu fahren und dort ihre Erledigungen zu erledigen. Was sich danach in der Wohnung meines Onkels abspielte, lässt sich natürlich nicht mehr genau rekonstruieren, aufgrund meines damaligen Alters von nicht einmal drei Jahren kann ich es lediglich erspüren. Und jetzt, endlich, nach so vielen Jahren, jetzt, wo ich wieder Confusion von ELO höre, spüre ich sehr klar und sehe folgende Szenerie vor mir:

Mein Onkel geht mit mir auf dem Arm zur Fensterfront, um mir die Aussicht zur Stadt zu zeigen, wohin meine Eltern unterwegs sind. Er ahnt nichts von meiner Allergie gegenüber Glasscheiben, die sich während meines Krankenhausaufenthaltes akut ausgebildet hat, ich bekomme einen heftigen allergischen Anfall, der sich in fortdauernden Weinkrämpfen äußert, meine Eltern kann er nicht erreichen, das Mobilfunkzeitalter ist noch fern, in seiner Verzweiflung überlegt er, was mich beruhigen könnte, er denkt an Musik, die ihn selbst beruhigt. Ich glaube, ja ich bin mir sicher, ich sehe es vor mir, er legt Discovery von ELO auf, das Album, nicht die Single Confusion, er hatte nur Alben, keine Singles, dann drückt er mir das Cover in die Hand. Bei Confusion, dem zweiten Song auf der A-Seite beruhige ich mich, bei Need Her Love, dem dritten Song auf der A-Seite, fange ich wieder zu schreien an, also hebt er die Nadel wieder zurück zu Confusion. Das macht er so lange, bis meine Eltern aus der Stadt zurückkommen…

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Confusion 1

Es war ein schöner milder Sommerabend, die Sonne schien, ich blieb bei den Bäumen, bis die Sonne hinter ihnen zu versinken begann, das Wasser plätscherte wenige Meter neben mir, im Gras sitzend mit dem Rücken an den Stamm gelehnt betrachtete ich den Himmel, durch den die Fledermäuse flogen, Jeanne war wieder nicht gekommen, sie war nach Frankreich aufgebrochen, das hatte sie mir geschrieben, das ist jetzt einige Wochen her, ich glaube sie ist noch immer in Frankreich, ich glaube es geht ihr gut in Frankreich, ich vermisse sie, Johanna ist auch nicht gekommen, sie muss lernen, sagte sie zu mir, vor über zwei Wochen war das, als sie das zu mir sagte, seitdem ist sie nicht mehr gekommen, ich glaube ich bin zu alt für Johanna, ich glaube, sie ist zu jung für mich, ich vermisse Johanna. Die Sonne ist hinter den Bäümen versunken, ich beginne zu frösteln, keine Jacke, keine Decke zur Hand, ich schließe die Augen und träume davon, hier am Baum mit Anna-Sophia, die ich gestern getroffen habe, einzuschlafen.

Ich stehe auf und mache mich auf den Heimweg in die Stadt, wo ich Nana und Boris treffe, und Nana fragt, ob ich von der Wiese am Wasser mit den Bäumen komme, sie schaut mich dabei an mit mütterlichem Blick, was mich freut und kränkt zugleich, Boris erzählt derweil von seinem Leben, ich mag Boris gern, zu Nana zieht es mich hin, wenn ich Nana mit Boris sehe, redet sie mit mir, wenn ich Nana ohne Boris sehe, weist sie mich ab, Nana gibt es nur mit Boris, bürgerlich-gesittet, weit weg von einer Ménage à trois, um die ich meinen Möglichkeitsraum erweitert habe, ohne daran zu glauben, jedenfalls fragt Nana, ob wir uns bald auf der Wiese am Wasser mit den Bäumen wiedersehen, eine Frage, die ich im Raum stehe lasse und gehe, dieses Gehen lässt mich mein Haustor erreichen, am Tor steht eine Box mit Geschenken für den der vorbeikommt und sich beschenken lassen will, jedenfalls steht Zu Verschenken auf der Box, womit, so nehme ich an, ihr Inhalt gemeint ist, die Box ist voller alter Schallplatten in ihren Hüllen, ich blättere durch sie und entdecke das Album Discovery von Electric Light Orchestra. Ergriffen ergreife ich die Hülle, der junge Mann mit Turban der das Raumschiff betrachtet darauf. Sanft streiche ich ihm über das Gesicht. Ich bin fassungslos, dass diese Platte hier auf der Straße herumliegt, zu verschenken. Ich drücke sie an mich, ungläubig, glücklich und unglücklich zugleich. Da ist wieder dieses Gefühl, das mich öfter befällt, dieses Gefühl, das ich früher als Angstattacke bezeichnete und neuerdings Confusion nenne, das ich sehr lange nicht ertragen konnte, gehasst und gemieden habe. Ich musste funktionieren.

Es ist ein intensiver Confusion-Anfall, einer, der den Weg vom Haustor zur Wohnungstür zu einem langen werden lässt. Mit zitternden Beinen gehe ich durch die Toreinfahrt, ich hetze die Treppe hoch, um die rettende Wohnung zu erreichen, zum Zittern kommt Schüttelfrost, an der Wohnungstür wird mir schwindelig, ich stolpere zum Sofa und lasse mich fallen, ich drücke die Platte fest an mich und atme tief durch…

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Brief vom Regen an die Ruhr

Ich bin in der Stadt Regen am Fluss Regen, Regen fiel in Regen, auch in den Regen, der trotzdem, oder besser wegen dem fallenden Regen weiterfloss, ich beschloss, mich im Regen von Regen zu regen, mich also ein wenig zu bewegen, jedenfalls mich nicht aufzuregen, eher abzuregen, da zog der Regen schon wieder ab aus Regen, ich folgte keinem von beiden, weder dem fallenden noch dem fließenden Regen, der bei Regensburg in die Donau fließt, sondern blieb in Regen, kam ich doch gerade von der Ruhr, dort hattest du mich berührt, ich hatte mich berühren lassen, ich bekam zwar nicht die Ruhr, nein, meinen nervösen Darm gleich als an der Ruhr leidend zu bezeichnen käme mir übertrieben vor, trotzdem zeigt mir mein nervöser Darm, dass ich nach wie vor in Ruhr bin von deinem Berühren, in eiligem Bewegen und Erregen, was sich nicht nur in meinem eiligen Bewegen von Ruhr zu Regen ausdrückt, sondern nach wie vor auch über meinen Darm, wenn auch nicht mehr so heftig wie bei dir an der Ruhr, ich kann mir immer noch nicht erklären, was mich so in Ruhr brachte bei deinem Berühren, vielleicht muss ich es spezifizieren und es statt Ruhr als Aufruhr bezeichnen was sich an und in mir abspielt, dein Berühren hat bei mir alles ins Bewegen gebracht, der Aufruhr ist gewaltig, was anderes hätte ich tun sollen als an den Regen zu flüchten? es ist müßig darüber nachzudenken, ich habe es ja gemacht, bin an den Regen geflüchtet, doch kaum war ich angekommen, quälte mich die Sehnsucht nach dir, nach deinem Berühren, wieso bin ich nicht bei dir an der Ruhr geblieben? war der Aufruhr in mir zu heftig, um an der Ruhr zu bleiben? ich kann es nicht glauben, dass ich nun am Regen und nicht an der Ruhr bin, trotzdem glaube ich, dass der Regen am Regen mir gut getan hat, ich bleibe wohl noch eine Weile in Regen, ohne Regen, obwohl, vielleicht fahre ich doch gleich wieder an die Ruhr, um mich von dir berühren zu lassen.

Ode an die Ruhr

Zweitgrößte Stadt Deutschlands

Die Gründe, die mich in die zweitgrößte Stadt Deutschlands führten, sind im Grunde nicht wichtig, es ging lediglich um die schnellstmögliche Beförderung eines Automobils, und das geht immer noch am schnellsten mit einem Fahrer am Steuer desselbigen, also setzte ich mich ans Steuer des besagten Automobils und fuhr nach Ingolstadt, der Motor generierte thermische Explosionen in hoher Dichte, das Getriebe übertrug diese explosive Energie auf die Räder, was mich schnell nach Ingolstadt beförderte, das auf der nördlichen Halbinsel Oberbayerns liegt, umgeben von Niederbayern, der Oberpfalz, Mittelfranken und Schwaben, die Grenzen Bayerns verschwimmen in Ingolstadt, der Freistaat in Anarchie, jedenfalls war ich schnell in Ingolstadt, im Norden Ingolstadts, um genau zu sein, doch kaum angekommen, musste es plötzlich nicht mehr schnell gehen, ich hatte das Automobil geparkt am geteerten Parkplatz in der knallenden Sonne, ich stand neben ihm und hörte das Knistern der Karosserie, das Erholen von der rasanten Fahrt, heiß, heiß, Abkühlung notwendig und nicht möglich, ich wartete und wartete, der Empfänger des Automobils kam nicht, ich stand zwischen hohen, abweisenden Gebäuden hinter Zäunen, hoch geheim schien alles, ich wagte nicht einmal, das Automobil zu fotografieren, aus Angst, dabei selbst fotografiert und belangt zu werden, ich dachte, wohl um mich abzulenken von dieser Drohkulisse, an die größte Stadt Deutschlands, an Darmstadt, größer als Ingolstadt, weshalb Ingolstadt nur die zweitgrößte Stadt ist, ich bin noch nie in Darmstadt gewesen, doch: einmal, doch ich habe Darmstadt nur durchfahren, mit einem Automobil, das zählt nicht, zumindest nicht in meiner Rechnung, endlich kam der Empfänger des Automobils, er nahm Schlüssel und Papiere entgegen, hektisch, konspirativ, jetzt ging plötzlich alles wieder schnell, ich grüßte und ging, der Gruß war grußlos, ein Wort ohne Wert, wir mochten uns nicht, wir hatten keinen Grund uns zu mögen, jeder in Eile zu anderen Dingen, ich zu meinem Zug, der mir trotz der Eile vor der Nase davonfuhr, er hatte mich zu lange warten lassen, der Empfänger des Automobils, natürlich konnte er nicht wissen, dass ich nach einer rasanten Fahrt immer noch in Eile war, dass er durch sein Michwartenlassen mich den Zug verpassen ließ, ich glaube, er fährt nur Automobil, nie Zug, er kennt nicht das Gefühl des Zugverpassens, ich verließ den Steig an den Schienen, was nun in dieser trostlosen Welt, da sah ich einen Bus, Fahren Sie zum Hauptbahnhof? – Ja, auch, ich stieg in den Bus, verließ das weite Industrieareal mit seinen hohen, abweisenden Gebäuden hinter Zäunen, die enge Innenstadt Ingolstadts, in die der Bus fuhr, wirkte wie eine Befreiung, erst recht die Überquerung der Donau, südlich der Donau liegt der Hauptbahnhof, dort angekommen stieg ich aus dem Bus, ich überlegte nun, ob es passend wäre, nach Darmstadt weiterzufahren, während dieser Überlegungen fuhr ein ICE nach Düsseldorf ein, im übrigen das größte Dorf Deutschlands, doch ich ließ diesen ICE ohne mich abfahren, ich verwarf auch die Idee, nach Darmstadt zu fahren, ich hatte genug von Städten und Dörfern, mögen sie auch noch so groß sein, ich setzte mich in einen Zug nach München, nach dorthin, von wo ich das Automobil nach Ingolstadt gefahren hatte.

Nachher zum Nachbarn

Ich wollte wie immer vorher zum Vorbarn und nachher zum Nachbarn gehen, als ich plötzlich auf die Idee kam, diesmal vorher zum Nach- und nachher zum Vorbarn zu gehen. „Unmöglich!“ sagte mir jemand, den ich auf der Straße traf: „Sie können nicht vorher zum Nach- und nachher zum Vorbarn gehen. Sie müssen vorher zum Vor- und nachher zum Nachbarn gehen!“ „Wieso?“ entgegnete ein anderer Jemand (Es war eine Jemande, das nur nebenbei.), die die Straße entlangkam: „Das Vor und Nach ist nicht zeitlich, sondern räumlich gemeint, der Vorbar wohnt vorne und der Nachbar wohnt…“ – „…hinten! Sehen Sie!“ entgegnete der eine Jemand (der tatsächlich ein Jemand war): „Der Nachbar heißt aber nicht Hintenbar, sondern Nachbar!“ Die Diskussion ging hitzig weiter, ich schlich unbemerkt davon, wollte aber nun keine Experimente mehr eingehen: Ich ging wie üblich vorher zum Vorbarn. Der Vorbar, dessen grammatisches Geschlecht männlich und dessen natürliches weiblich ist, grüßte mich euphorisch und meinte, sie hätte heute Lust zum Vögeln und fragte mich, ob ich auch Lust hätte, ich sagte spontan, dass ich auch Lust hätte, jedoch wandte ich ein – denn es ging mir zu schnell mit dem Vögeln – ob wir nicht vorher ein Vorspiel einbauen könnten, eine Massage etwa, die Vorbar hatte nichts dagegen, so machten wir uns bar und massierten uns, anfangs am Rücken, dann überall am Körper, es war sehr lustvoll, ich war der Vorbar dankbar für den Vorschlag zu vögeln, als sie plötzlich sagte: „Nimm mich von hinten!“ Ich dachte daraufhin wieder an die Diskussion auf der Straße zwischen den zwei Jemanden, ich kam ins Grübeln, ob man die Vorbar von hinten nehmen kann, tat es in meiner Lust dann trotzdem, bis ich plötzlich abbrach und sagte: „Ich muss dringend zum Nachbarn!“ „Wirklich?“ fragte die Vorbar. „Ja“, sagte ich, „beim Nachbarn mähe ich Rasen, und nachher zahlt er mich bar“, es erschien mir eigenartig, dass ich das Rasenmähen erwähnte und vor allem das Barzahlen in unserem baren Zustand, die Vorbar meinte nur: „Kommst du nachher wieder vorbei?“, eine locker in den Raum geschmissene Frage, die mich wieder ins Grübeln brachte: Ich dachte an die zwei Jemand auf der Straße, die es mir verbieten würden, nachher beim Vorbarn vorbeizukommen, zumindest einer davon, ich dachte daran, mich hintenrum zum Nachbarn zu schleichen, um diesem strengen Gericht zu entkommen, plötzlich hatte ich aber die viel kühnere Idee, den Vor- zum Nach- und den Nach- zum Vorbarn zu machen, um künftig nach dem Rasenmähen beim Vorbarn mit Barem zur Nachbarn zu kommen, um nicht nur ein Vorspiel vor dem Vögeln zu haben, sondern auch ein Nachspiel, etwa nach dem Vögeln gemütlich im Bett Essen zu bestellen und es mit dem Baren vom Vorbarn zu bezahlen.

Mit diesen Ideen im Kopf ging ich auf die Straße zum Nochnachbarn, um ihm zu eröffnen, ihn zum Vorbarn zu machen, und niemand, niemand würde mich davon abbringen, nicht mal die zwei Jemand.

Komm Isar Inn!

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Sven Handrek

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Flüsse sprechen können. Mehr noch, sie können die Sprache der Flüsse mit Hilfe modernster technischer Mittel sogar verstehen. Nun wurden folgende Gespräche zwischen Isar, Inn und Donau ins Deutsche übersetzt:

Die Donau ruft, bei Deggendorf, zur Isar:
Komm Isar!
Nein, ruft die Isar lapidar,
Fluss bin ich, nicht Kommissar.
Und dennoch kommt die Isar in die Donau,
als Fluss natürlich, nicht als Kommissar.

Weiter unten, bei Passau, sagt der Inn:
Ich glaub ich spinn, die Isar folgt der Donau,
sie ist ein Donaukommissar,
und ich, ich bin der große Inn.

Da ruft die Donau:
Komm wie die Isar, Inn!
Auch wenn ich, sogar mit Isar, kleiner als du bin,
will ich, dass ich als Donau weiterrinn.

Isarmündung
Innmündung

Die Sprache der Flüsse ist also männlich dominiert wie unsere Sprache. Sonst würde der Inn, der einzige männliche Fluss unter den hier besprochenen Inn, Isar und Donau, nicht von der Isar als Donaukommissar sprechen, sondern als DonaukommissarIn. Oder handelt es sich um einen Übersetzungsfehler ins Deutsche? Oder ist den Flüssen das Geschlecht nicht so wichtig wie uns Menschen?

Was zeigen uns diese Gespräche sonst noch? Wir wissen nun, wieso die Donau als Donau und nicht als Inn ab Passau durch Österreich fließt, wo sie, besonders in Wien, hoch verehrt wird:

Du Depp (Studie zur Vergangenheitsbewältigung)

Ich war wieder einmal mit einer Studie zur Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, ich hatte, wie immer für diese Studien, meinen Schreibtisch verlassen und mich ins Bett gelegt, im leichten Dämmerschlaf kommen mir die größten Erkenntnisse bei meinen Studien zur Vergangenheitsbewältigung, ich sah meinen Vater in der Kirche sitzen, in einer der harten Bänke, knieend, und er sprach die Worte der Schuld:

Ich habe gesündigt, in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld,

er bemerkte mich nicht, so versunken war er in sein andächtiges Schuldgeständnis, dann stand er auf, er verließ die harte Bank, ich meine er schaute kurz zu mir, oder wünsche ich mir das nur, jedenfalls ging er dann, ohne zu mir zu kommen, den steinigen Gang entlang aus der Kirche, vermutlich ins Wirtshaus, aber das weiß ich nicht, er war einfach verschwunden, ich war nun alleine, nur Julia huschte noch kurz um die Ecke, ja, Julia, nicht Maria, Maria würde besser in die Kirche passen, aber es war Julia, wir hatten uns abgeschleckt, zuerst an den Zungen, dann am ganzen Körper, wir waren ins Schwitzen gekommen bei unserem Abschlecken, ich möchte gerne, dass wir uns wieder abschlecken, aber ich traue mich nicht mehr, ist es denn eine Sünde, wenn Julia und ich uns abschlecken? Julia verschwand hinter dem Pfeiler, dann sah ich sie nicht mehr, ich bildete mir ein, sie war im Beichtstuhl verschwunden und sprach dort die Worte der Schuld:

Ich habe gesündigt, in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld,

Julia, du meinst doch nicht das Abschlecken? Abschlecken ist doch keine Sünde! Ist Abschlecken Sünde? Bitte sag dass es keine Sünde ist! Julia! Mein Ruf hallte durch die Kirche, obwohl ich ihn nicht rief, nein, ich verstummte, ich war nun wirklich alleine in der Kirche, es war nun an der Zeit, selbst Worte der Schuld zu sprechen, furchtlos schritt ich zum Altar, stellte mich auf ihn und begann zu singen:

Ich schaue auf mein Leben, mit einem Gefühl der Scham, ich bin der Schuldige, alles was ich tun will, egal wann, wo, mit wem, es ist immer dasselbe: Es ist Sünde!

Die Kirche füllte sich mit Menschen, mit vielen Menschen, sie wurde übervoll, wie in Trance setzte ich meinen Gesang fort:

Der Jubel der vielen Menschen setzte ein, sie zündeten ein Feuer an, das Feuer umtoste mich, mir wurde heiß, sehr heiß, ich rannte durch das Feuer über den steinigen Weg nach draußen, in mir brannte das Feuer für Julia, nun, draußen angelangt, beschloss ich, die Sünde zu leben, je mehr Sünde desto besser, das Feuer beherrschte mich, ich bekam wahnsinnige Lust auf Julia, ich wollte ihre Haut spüren, sie abschlecken, ich wollte ihre Haare zerzausen, ihre Körperöffnungen erkunden, der Leib Juliä, Amen, ich rannte und rannte um nicht wahnsinnig zu werden, Julia, nur du kannst mich retten vor dem Strudel der Sünde, nimm mich auf in deinen warmen Schoß, lass mich an dir riechen, betöre mich, ich rannte und rannte und…  blieb erschöpft stehen, mitten im Wald war ich gelandet, die Ekstase von Sünde und Lust verflüchtigte sich, ich nahm einen Zweig vom Boden und schlug mich damit, ich verfluchte meinen Leib der mich zu den Sünden verführt, ich geißelte mich ob meiner lächerlichen Begierden, ich geißelte mich ob meines Menschseins, ich hasste mich, ich beschloss, fortan die Sünde hinter mir zu lassen. Du Depp du! waren meine Worte zu mir: Lass diesen Unsinn!

Da kam einer des Weges, irgendeiner, ich hatte ihn noch nie gesehen, doch er hatte mich durchschaut und lachte über mich, er hatte mich sagen hören: Du Depp du, er wusste auch von mir und Julia und machte sich lustig über meinen Kopf in ihrem Schoß, ich wurde wütend, ich werd’s dir zeigen, dachte ich mir, er aber ging einfach weiter, ich machte ein paar Schritte, bemerkte meine Erschöpfung und verfolgte ihn nicht weiter, rief ihm aber hinterher, was ich von ihm halte:

Er aber ging weiter und weiter ohne sich einmal umzudrehen, zähneknirschend ging ich daraufhin in die Stadt zurück, es kamen mir lauter Deppen entgegen, wirklich, lauter Deppen, ich hatte auch keine Lust mehr auf Julia, soll sie sich doch zum Teufel scheren, ich wusste nicht wohin, alles ist Sünde, meine Studie zur Vergangenheitsbewältigung schien erfolglos ihrem Ende entgegenzustraucheln, mitten in diesem Straucheln stieg ich aus dem Bett und trank ein Glas Wasser. Und dachte an Julia.

Oben über Trieben

Etwas trieb mich nach Trieben, Vorderbrandner fand es übertrieben, aber ich ließ mich nicht aufhalten, nicht einmal, als er mir hinterherrief: „Warum nicht wenigstens Leoben?“, sein Hinterherrufen irritierte mich ein wenig, denn ich verstand das erste E in Leoben wie ein Ö, ich dachte an den französischen Artikel Le, Le Oben klang es in meinen Ohren, Le Haut, das Oben oder besser der Oben, und ich dachte: Es ist eine gute Idee, in Trieben nach oben zu gehen, auf einen der umliegenden Berge, diese Idee setzte ich, in Trieben angekommen, in die Tat um, ich stieg auf einen der umliegenden Berge, den Triebenstein, und befand mich nach erfolgreichem Aufstieg oben über Trieben.

Leoben von oben
Oben über Trieben

Wolfgang Acquodios Tierreich

Als Kind saß ich wie gebannt vor dem Radio und lauschte der Stimme Wolfgang Acquodios, wenn er seine Geschichten aus dem Tierreich erzählte. Er erzählte von den Tieren im Wald, wenn sich Fuchs und Dachs nach ihrem Tagwerk abends in ihrer gemeinsamen Höhle treffen, oder wenn sich die Rehe unter dem dichten Tann zum Schlafen zusammenkuscheln. Ich lag anschließend in meinem Bett und stellte mir vor, bei Fuchs und Dachs oder bei den Rehen zu sein, und schlief mit einem Gefühl großer Geborgenheit ein.

Jedenfalls hat sich die Stimme Wolfgang Acquodios so in mir eingebrannt, dass ich sie neulich – nach all den Jahren seit meiner Kindheit vor dem Radio – erkannte, als ich im Park unterwegs war. Da redete ein älterer Herr mit einer älteren Dame, anfangs war ich irritiert ob der Vertrautheit der Stimme die da sprach, einer Vertrautheit, die wie aus einer fernen Zeit klang, bis sich in mir alles zusammenfügte, und ich sie als die Stimme Wolfgang Acquodios erkannte.

Ergriffen blieb ich stehen, gab mich schließlich zu erkennen und fragte: Sind Sie Wolfgang Acquodio? Acquodio verzog fast keine Miene, ich glaube, er fühlte sich gestört und geschmeichelt zugleich, ich hatte Zeit, ihn und die Dame zu betrachten, wie sie dastanden am Teich mit ihren Pelzmänteln und strengen Frisuren, die Dame gezeichnet von mehreren Schönheitsoperationen. Ich konnte mir ein ausführliches Bild machen, doch bevor ich begann, es zu interpretieren, antwortete Wolfgang Acquodio auf meine Frage mit einem Ja. Szenen meiner Kindheit spielten sich daraufhin in meinem Kopf ab, die Geborgenheit des Waldes, bei Dachs, Fuchs und Rehen, Bilder, die so gar nicht zu dem Bild passten, das gerade vor mir war: Zwei harte alte Menschen, die mir unerbittlich erschienen, es war schwer zu ertragen, das Bild schrie nach Auflösung, wahrscheinlich deshalb sagte ich: Der Teich hier ist schön.

Acquodio wandte sich daraufhin zum Teich, in der seitlichen Silhouette sah sein Gesicht noch strenger aus, und sprach: Das Tierreich im Teich ist vom Wasser ganz weich! Dann nahm er die Dame mit dem starren Schönheitsgesicht beim Arm und schritt mit ihr davon.

Erstarrt starrte ich auf den Teich, einerseits ergriffen vom poetischen Satz der Stimme meiner Kindheit über das Tierreich im Teich, anderseits entsetzt über meine unbedachte Äußerung über den Teich: Acquodio hat immer Geschichten über den Wald, nie welche über das Wasser erzählt. Wie konnte ich nur den Teich erwähnen! Dazu noch sein Name – Acquodio – was soviel bedeutet wie: Wasser hasse ich. Doch was steht er auch am Teich, dieser Wasserhasser, dieser Boscamo, dieser Waldlieber!

Ich zog meine Schuhe aus und hielt meine Füße in das Wasser des Teichs. Mit der Gewissheit, meine Kindheit nun endgültig hinter mir gelassen zu haben.