Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Kassenkrieg

Die Situation in der ich mich befand war eine zufriedenstellende, Samstag Vormittag beim Einkaufen, draußen schien die herbstliche Sonne, ein freies Wochenende vor mir, freudig stand ich unter meinen Mitmenschen in der Kassenschlange, die Situation war derart zufriedenstellend, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, sie festzuhalten in Worten, im Gegenteil, es war ein angenehmer Fluss in mir, trotz des Wartens in der Kassenschlange, den ich nicht durch Festhalten unterbrechen wollte. Eine zweite Kasse wurde geöffnet, um die Schlange mehr ins Fließen zu bringen, ein zweiter Abfluss wurde geschaffen, und ich beschloss, den zweiten Abfluss zu benutzen, gerade als ich diesen Beschluss gefasst hatte, drängte sich ein hinter mir Wartender an mir vorbei, so war jedenfalls mein Eindruck seines Vorgehens, sein Vorgehen war ein Vordrängen. Nun empfand ich die Situation nicht mehr zufriedenstellend, eine leichte Unzufriedenheit stellte sich ein, weshalb ich nun beschloss, diese leichte Unzufriedenheit in leichte Worte zu fassen, und ich sagte zum Vordrängler: Sie haben es wohl sehr eilig?, woraufhin der Vordrängler sagte: Ich habe ja nicht viel!, eine Antwort, die mich erstaunte, erschien sie mir doch nicht logisch, denn nur weil man wenig Sachen zu bezahlen hat, erwirbt man doch nicht das Recht zum Vordrängeln, es war eine pure Dreistigkeit, sich vorzudrängen mit der Begründung, nicht viel zu haben. Erstaunte mich diese Antwort nur oder verärgerte sie mich? So genau kann ich das im Nachhinein nicht mehr sagen, ich denke es mischte sich bereits Ärger ins Erstaunen, doch dazu später, denn ich getraue mich zu behaupten, dass zu diesem Zeitpunkt das Erstaunen den Ärger überwog, antworte ich doch auf sein Ich hab ja nicht viel mit: Ich hab auch nicht viel, woraufhin er meinte: Ich war aber schneller!, und jetzt, das spüre ich ganz deutlich während ich erzähle, jetzt kam zum Erstaunen der Ärger, sein permanentes Rechtfertigen, das ich im Nachhinein als konsequente Kommunikationsverweigerung interpretiere, begann mich zu ärgern: sich vorzudrängen und anschließend zu versuchen, sich dafür zu rechtfertigen, mit despektierlichen Äußerungen – was soll das? Hätte er gesagt: Entschuldigung, ich habe es eilig, mein ursprünglicher Zustand der Zufriedenheit hätte sich nicht verändert, das traue ich mich zu behaupten, aber seine Aussagen Ich hab nicht viel und Ich war schneller erlebte ich als eine Respektlosigkeit, die mein Erstaunen in Ärger verwandelte, Krieg war nun unvermeidlich, das Schlachtfeld war eröffnet, ich sagte zu ihm, und ich höre mich mit zynischem Unterton sprechen: Das hier ist also ein Wettbewerb? Ein Gegeneinander? Wer schneller ist? Wer sich listiger am anderen vorbeidrängelt?Ich bin zwar älter als Sie aber schneller, das gibt’s, entgegnete er meinen Angriff, die Schlacht war in vollem Gange.

Ich blickte ihn reglos und durchdringend an, ich spürte meinen Ärger – und wahrscheinlich sah er ihn in meinen Augen – ich blieb aber äußerlich ruhig, wie ein Raubtier, das seine Beute zappeln lässt. In diese Spannung hinein sagte er: Haben Sie sonst keine Probleme?Nein, sonst habe ich keine Probleme. Sonst erlebe ich allgemeine Zufriedenheit. Nur mit Ihrem Vordrängeln, das Sie schlau und toll finden, habe ich ein Problem, weil ich es respektlos und dumm finde. Er winkte ab und vergaß dabei zu bezahlen, obwohl der Kassier ihm bereits den Preis genannt hatte.

Ich fühlte mich als Sieger dieses Wettbewerbs, und zur Kür sagte ich: Schnell! Schnell! Bezahlen Sie! Und packen Sie schnell Ihre Sachen! Zeigen Sie mir, wie schnell Sie sind! Er räumte das Feld, die Schlacht war vorüber.

Zwei Menschen auf Stühlen

Zwei Menschen sitzen auf Stühlen wie Menschen auf Stühlen sitzen, die Beine an den Hüften und Knien abgewinkelt, den Rumpf über der Hüfte aufrecht haltend beziehungsweise leicht an die Lehne gelehnt, mit dem Kopf darüber aufgehängt, eben in einer Haltung, die man als Sitzen bezeichnet, als einer der beiden Menschen, dessen grammatisches Geschlecht übrigens männlich ist und dessen natürliches Geschlecht uns nicht weiter zu interessieren braucht außer dass man es nicht automatisch als männlich annehmen sollte, als einer der beiden Menschen sagt:

„Ich sitze auf diesem Stuhl. Ich besitze ihn.“

Was den anderen Menschen, für den geschlechtstechnisch dasselbe gilt wie für den einen Menschen, was den anderen Menschen derart erbost, dass er von seinem Stuhl aufspringt und ruft:

„Stehen Sie auf von diesem Stuhl, Sie Besitzer! Ich bin sein Eigentümer, ich bestehe darauf! – Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, diesen Stuhl zu besitzen?“

„Weil ich auf ihm sitze.“

„Ich habe Ihnen den Stuhl nur freundlich überlassen, damit Sie darauf sitzen können, woraus Sie niemals ein Besitzrecht ableiten können!“

„Hat man, wenn man auf etwas sitzt, kein Besitzrecht auf das, worauf man sitzt?“

„Natürlich nicht!“

„Aber Ihre Frau, pardon: Ihr Partnermensch, saß doch vorher auf dem Stuhl, stand auf und bestand darauf, dass ich mich auf den Stuhl setze, sie beziehungsweise er überließ mir den Stuhl also zum Besitzen.“

„Sie meinen also, meine Frau, pardon: mein Partnermensch, ist mittelbarer Besitzer dieses Stuhles und hat Ihnen den Stuhl zum unmittelbaren Besitz überlassen?“

„Vermutlich meine ich das.“

„Bilden Sie sich ja nicht ein, mit dieser Meinung durchzukommen! Ich als Eigentümer dieses Stuhls werden Ihren unmittelbaren Besitzanspruch niemals anerkennen, genausowenig wie ich den Besitzanspruch meiner Frau, pardon: meines Partnermenschen, sei er mittelbar oder unmittelbar, niemals anerkennen werde!“

Zeitverdruss

Er war ein Zeitgenießer
weil er die Zeit
einst sehr genoss
jetzt ist er
ein Zeitgenosse
weil er die Zeit
nicht mehr genießt
weil ihn die Zeit
jetzt sehr verdrießt
ist er nicht nur
Zeitgenosse
sondern vor allem
Zeitverdrießer
In ferner Zukunft
wird man sagen
dass ihn die Zeit
einst sehr verdross
das er ist
ein Zeitverdrosse

Verlorene Geschichte

Ich erwachte in meinem Bett, es war schön behaglich warm, in diese Behaglichkeit kam die Geschichte zu mir, Ideen in Worte geschliffen, ich war sehr zufrieden, die Geschichte erhöhte die Behaglichkeit, sodass ich wieder eindöste, später erwachte ich dann und stand auf, ich ging auf den Balkon und reckte und streckte mich und begrüßte den Tag, dann ging ich ins Bad, unter der Dusche fiel mir die Geschichte wieder ein, die am frühen Morgen zu mir ins Bett gekommen war, was heißt sie fiel mir wieder ein: Ich dachte an sie, aber sie fiel mir nicht wieder ein. Die Ideen, in geschliffene Worte gebettet, waren weg. Ich legte mich zurück ins Bett, in der Hoffnung, dass sie noch da sei, aber sie war nicht mehr da, sie war offensichtlich mit mir aufgestanden, oder sie war vor mir aufgestanden, während ich wieder eingedöst war, jedenfalls hatte sie mich verlassen, ich spürte das jetzt schmerzlich, wo ich sie bei mir haben wollte und sie nicht mehr da war, ich spürte, dass ich krampfhaft nach ihr verlangte, sie nicht losließ, ich versuchte, sie loszulassen, um ihr zu ermöglichen, wieder zu mir zu kommen, aber sie kam nicht, bis heute nicht, und es ist ungewiss, ob sie jemals wieder kommt, genauso wie es ungewiss ist, ob sie jemals nicht wieder kommt, denn sie ist da, nichts geht verloren, auch wenn sie in meiner Wahrnehmung verloren ist.

Alfrederika

Alfred ist erfolgreicher Unternehmer. Sein Produkt ist eine Plastikkarte in Goldoptik, genannt Teuercard. Die Teuercard hat sich einen Namen als Wertanlage gemacht, deshalb wird sie auch Goldcard genannt, obwohl sie aus Plastik besteht und nur minimalste Spuren von Gold enthält, man vermutet, die angegebenen minimalsten Spuren von Gold sind ein reiner Marketing-Gag und die Teuercard enthält gar keine minimalsten Spuren von Gold. Es ist also davon auszugehen, dass die Teuercard nichts wert ist, dies wiederum ist eine Aussage ohne Wert, denn etwas hat genau den Wert, den man ihm beimisst. Für mich ist die Teuercard nichts wert, für andere ist sie soviel wert, dass sie alles dafür geben würden, oder, um es wirtschaftsspezifischer auszudrücken: Die Märkte zeigen große Phantasie, was den Wert der Teuercard betrifft.

Alfred hat sein Unternehmen mit dem Produkt Teuercard inzwischen teuer verkauft, um sich auf andere Dinge zu konzentrieren, zum Beispiel auf seine Familie, die aus seiner Frau Erika, seinen beiden kleinen Söhnen Manbert und Rofred und seit kurzem auch aus der Dackeldame Berta besteht. Alfred wollte eigentlich von Kind an aus dem Bert-Fred-Rhythmus seiner Familie ausbrechen – sein Vater heißt Albert, sein Großvater hieß Alfred, sein Urgroßvater hieß Albert, sein Ururgroßvater hieß Alfred, und so geht das zurück seit es Aufzeichnungen gibt. Doch selbst nach intensiven Diskussionen mit seiner Frau Erika kamen sie zu dem Entschluss, ihre Söhne Manbert und Rofred zu nennen, immerhin konnten sie sich dazu durchringen, sie nicht Manfred und Robert zu nennen, aber wieder findet sich Bert und Fred in beider Namen, was Alfred immer wieder niederschlägt. Wieso war er damals nicht fähig, seinen Söhnen andere Namen zu geben? Er schien dem Zwang unterlegen zu sein, seine Söhne Bert oder Fred zu nennen. Gibt es diesen Zwang? Oder bildet er sich diesen Zwang nur ein?

Trotz dieser zwanghaften Probleme in seiner Familie freute sich Alfred auf die Zeit ohne Teuercard, um mehr Zeit für Erika, Manbert, Rofred und auch für Dackeldame Berta zu haben. Aber just an der letzten Sitzung der Geschäftsleitung, an der er teilnahm, um die Dinge final zu übergeben, geschah etwas völlig Unvorhergesehenes: In dieser Sitzung wurde ein Mann namens Albert zum neuen Leiter des Marketings von Teuercard bestellt. Es war ungewöhnlich genug, dass dieser Mann ausgerechnet Albert hieß, aber Alfred verliebte sich in Albert, und zwar so heftig, dass er beschloss, sich von Erika scheiden zu lassen und Albert zu heiraten.

Mittlerweile tobt der Sorgerechtsstreit um Manbert und Rofred, Manbert und Rofred selbst lehnen Albert als ihre neue Mutter ab, Altmutter Erika sagt, Albert könne gar keine Mutter sein, Alfred sagt, man solle sich nicht in geschlechterspezifischen Begrifflichkeiten verlieren, wichtig sei die Geborgenheit, die Albert Manbert und Rofred vermittle und die Erika immer habe vermissen lassen.

Alfred hat jedoch, bei allem Glück mit Albert, nachdem seine erste Verliebtheit und die Flitterwochen nach der Hochzeit vorbei waren, psychologische Beratung aufgesucht, denn er wird den Gedanken nicht los, sich einmal mehr seiner familiären Zwanghaftigkeit unterworfen und ausgerechnet einen Mann namens Albert geheiratet zu haben.

Ungeachtet dieser ersten Eheprobleme bemühen sich Alfred und Albert gerade um die Adoption eines neugeborenen Mädchens, der sie den Namen Alfrederika geben wollen, um das Vakuum zu füllen, dass die verhaltensauffällige und nun im Tierheim weilende Dackeldame Berta hinterließ.

Am Abgrund

Ich hatte beschlossen, Grund zu erwerben und darauf eine Immobilie zu errichten, bevor Bodenversiegelung gänzlich außer Mode kommt oder sogar verboten wird. Ich stellte jedoch fest, dass mein Kapital in Form von Geld nur für die Errichtung einer bescheidenen Immobilie reicht. Der Grund, den es zu erwerben galt, musste besonders günstig sein, denn eine Kreditaufnahme kam nicht in Frage. Allein der Gedanke, Schulden zu haben, bereitet mir Kopfschmerzen, löst Angstzustände aus, Angstzustände, deren Intensivierung durch tatsächliche Kreditaufnahme ich nicht erleben möchte. Deshalb kam ich auf die Idee, statt einem Ebengrund einen Abgrund zu erwerben, also einen Grund, der sich nicht waagerecht in die Landschaft weitet, sondern senkrecht zu Boden fällt.

Einen solchen Grund hatte ich schnell gefunden, doch bereits die Annäherung an diesen Grund bereitete ernste Schwierigkeiten: Es musste nämlich entweder der Ebengrund unter oder der Ebengrund über dem Abgrund überschritten werden, um sich dem Abgrund zu nähern, doch die jeweiligen Eigentümer der Ebengründe über und unter dem Abgrund verweigerten mir das Betreten ihrer Ebengründe, weshalb ich einen Heißluftballon anmietete, um mich so dem Abgrund zu dessen genauerer Besichtigung zu nähern. Diese aufwändige Annäherung verringerte mein verfügbares Kapital außerordentlich, was mich besorgte, denn es machte den potentiell günstigen Erwerb des Abgrundes unnötig teuer.

Dennoch gab es kein Zurück: Ich begab mich mit einem Ingenieur in den Korb, der am Ballon befestigt war, blies heiße Luft in den Ballon, wir hoben ab und steuerten auf den Abgrund zu, der Ingenieur äußerte sich schon von Weitem skeptisch über die Beschaffenheit des Abgrundes, er bezweifelte, dass es möglich sei, an ihm ein stabiles Fundament zu errichten, an dem eine Immobilie hängen könnte, zugleich meinte er, er sei nicht sicher, ob an Abgründen Baurecht bestehe, hänge doch der errichtete Bau unter dem darüberliegenden Ebengrund, vor allem aber über dem darunterliegenden Ebengrund, dies müsse ich unbedingt juristisch klären, bevor an irgendeine Bautätigkeit zu denken sei. Ich hatte mir meinen Einstieg ins Immobiliengeschäft leichter vorgestellt. Mitten in unser Gespräch schrie plötzlich der Eigentümer des Ebengrundes unter uns: „He, Sie, verlassen Sie sofort den Luftraum über meinem Grundstück, sonst hole ich die Polizei!“ Ich begriff nun, dass ich neben dem Ingenieur auch einen Juristen in den Korb hätte nehmen sollen, es wäre zwar eng geworden im Korb, aber so hätte man die bereits jetzt akut auftretenden Rechtsschwierigkeiten unvermittelt klären können, andererseits hätte das Engagement eines Juristen mein knappes Kapital noch mehr belastet, sodass an einen Baubeginn am Abgrund nicht mehr zu denken gewesen wäre, ich sah mein Kapital zur Neige gehen, ohne Irgendetwas errichtet zu haben, aus lauter Verzweiflung wegen dieser Vorstellung vergaß ich, heiße Luft in den Ballon zu blasen, der Ballon sank am Abgrund entlang und näherte sich bedrohlich dem Dach des Hauses, dass der Eigentümer des Ebengrundstückes unter dem Abgrund errichtet hatte, als der Ballon plötzlich und abrupt zusammensackte und sämtliche heiße Luft aus ihm entwich, der Ingenieur und ich krachten daraufhin mit unserem Korb auf das Dach des Hauses am Ebengrundstück unter dem Abgrund. Bevor die zusammensackende Ballonhaut uns zudeckte, schaute ich nach oben, ich sah den Eigentümer des Ebengrundes über dem Abgrund mit einem Bogen in der Hand, es ist zu vermuten, dass er einen Pfeil auf den Ballon abgeschossen hatte, aber natürlich kann ich das nicht beweisen, es ist nur eine Vermutung, eher ist mir mein fahrlässiges Nichtheißeluftindenballonblasen zur Last zu legen, so ist zu vermuten, jedenfalls kamen der Ingenieur und ich in unserem Korb auf dem beschädigten Dach zu liegen, immerhin, wir kamen auf dem Dach zu liegen und schlitterten nicht am Gebäude entlang weiter, um krachend am Ebengrund zu landen, so blieben wir nahezu unverletzt, ich schob unter mühsamen Bewegungen die Ballonhaut zur Seite und sah den Eigentümer des beschädigten Daches unten auf dem Ebengrund stehen, mir lag die Frage auf der Zunge, ob sein Haus jetzt dachlos sei, hatte ich doch nicht den Mut, den Schaden selbst zu inspizieren, doch der Ingenieur hielt mich vor solchen Äußerungen zurück, der Eigentümer des Ebengrundes unter uns sprach heftig erregt in sein Mobiltelefon, vermutlich sprach er mit seinem Anwalt, die Polizei war längst unterwegs, ich sah heftige Kosten auf mich zukommen, die definitiv mein ganzes Kapital auffressen würden, mehr noch, ich würde wohl Schulden aufnehmen müssen, das Projekt Bau am Abgrund war gestorben, ich fühlte mich mittel- und wehrlos, quasi obdachlos, obwohl ich auf dem Dach saß, ich kauerte mich in den Korb, um der harten Realität kurz zu entfliehen, doch der Korb würde mir nicht lange Schutz bieten, ich begriff, dass nun, ohne Kapital, nichts half als die bedingungslose Kapitulation.

Klagelied an das (fehlende) Kapital

Confusion 3

Fortsetzung von Teil 2

Wir hörten stundenlang Confusion von ELO, mein Onkel und ich.

Jedesmal wenn der Song zu Ende ging, hob mein Onkel die Nadel, schwenkte sie zurück zum Anfang und ließ sie wieder auf die Platte gleiten, sehr darauf bedacht, genau den Anfang zu erwischen, um unnötiges Geschrei zu vermeiden, denn auf den ersten Song Shine a Little Love vor Confusion reagierte ich fast so allergisch wie auf Glasscheiben. Ich saß währenddessen da mit dem Plattencover in der Hand, das ich fasziniert betrachtete, es gab mir Geborgenheit, es gibt mir jetzt noch Geborgenheit, es zeigt den jungen Mann mit Turban, der das Raumschiff betrachtet, ich sitze jetzt genauso über ihm wie vor über vierzig Jahren, wie sollte es auch anders sein, ich bin noch immer derselbe Junge, ständig in Angst und Sorge, durch dicke Glasscheiben von der Liebe getrennt zu werden: You lost your love and you just can’t carry on, you feel there’s no one there for you to lean on.

Confusion

Irgendwann endete dieser wunderbare Confusion-Tag bei meinem Onkel. Meine Eltern kamen aus der Stadt zurück und holten mich ab, sie fuhren mit mir nachhause in den Chiemgau. Ich hatte mich beruhigt, so erzählt meine Mutter, ich summte während der Fahrt Confusion, so gut ich das mit drei Jahren konnte, zuhause machte ich Fortschritte beim Wiedererkennen meiner Eltern, und alles geriet in Vergessenheit. Nur meine Angst vor dicken Glasscheiben blieb. Ich hatte panische Angstattacken, vor allem wenn meine Mutter außer Haus ging und ich sie durch das Fenster fortgehen sah.

Als ich ins Schulalter kam, nahm mich meine Großmutter zur Seite und sagte mir eindringlich: „Bub, du musst funktionieren, jetzt kommst du in die Schule, wo kommen wir da hin, wenn du dich dauernd so aufführst? Willst ins Irrenhaus kommen?“ Ich bekam daraufhin panische Angst vor meinen Angstattacken. Wenn ich sie hochkommen spürte, rannte ich tief in den Wald neben unserem Haus, lief weinend zwischen den Bäumen herum, und als ich mich beruhigt hatte, schlich ich leise nachhause.

Als ich vierzehn war, träumte ich davon, zu meinem Onkel nach München zu ziehen. Er wohnte noch immer im Arabella-Hochhaus, und ich hoffte, die Pet Shop Boys, meine damaligen Idole, würden in den Musicland-Studios ein Album produzieren, wo ich sie dann treffen könnte. Doch mitten in diesen Traum platzte die Nachricht, dass mein Onkel verschwunden ist, spurlos, damals konnte man noch, ohne Handy, spurlos verschwinden, seine Wohnung fand man vollkommen leer vor, nur eine Schallplatte in der Hülle lag auf dem Boden, Discovery von ELO, mit einem beschriebenen Zettel darauf: Für meinen Neffen Emil. Niemand konnte mit dieser Nachricht etwas anfangen, auch ich nicht, ich wollte nichts mit ihr anfangen, ich nahm sie wahr, tief in meinen seelischen Tiefen, in die ich nicht hinabsteigen konnte, die Nachricht ging in der allgemeinen Trauer verloren, im Schluchzen meiner Mutter um ihren Bruder.

Bald darauf machten die Musicland-Studios zu. Meine Angstattacken kehrten heftig zurück, ich konnte sie nicht mehr kontrollieren. Nach ein paar Jahren, ich hatte unter anderem einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter mir, erklärte man meinen Onkel für tot. Discovery mit dem Zettel meines Onkels drauf ging bei irgend einem Umzug verloren. Ich habe viele Umzüge hinter mir. Denn ich flüchtete nun nicht mehr nur in den Wald vor meinen Angstattacken, sondern in andere Länder und Städte. Um wieder in München zu landen. Um hier langsam zu beginnen, meine Confusion anzusehen und zu sortieren.

Ich betrete die Wiese am Wasser mit den Bäumen. Die Sommersonne steht hoch am Himmel. Ein leiser Wind säuselt durch die sattgrünen Blätter der Bäume und begleitet das Rauschen des Baches. Mein Handy vibriert: Anna-Sophia fragt, ob wir uns treffen können. Darunter sehe ich noch einmal die Nachricht von Jeanne: Sie ist auf dem Rückweg aus Frankreich. Johanna winkt mir aus dem Gras: Bestanden! ruft sie. Weiter hinten sehe ich Nana und Boris, wie sie ein Bad nehmen.

Confusion 2

Fortsetzung von Teil 1

Als sich der Schwindel gelegt hat, richte ich mich auf, werfe eine Decke über meinen fröstelnden Rücken und beuge mich über das Plattencover. Vorsichtig, mit immer noch zitternden Händen, nehme ich die Platte aus der Hülle, lege sie auf den Spieler, A-Seite nach oben, und hebe die Nadel an den Anfang des zweiten Liedes:

Ich höre die ersten Klänge, ich spüre mein Herz schlagen, ein Schauer geht über meinen Rücken, Raum und Zeit heben sich auf, es katapultiert mich ins München des Jahres 1980, in die Wohnung meines Onkels im Arabella-Hochhaus in Bogenhausen:

Ich war damals gerade von einer mehrwöchigen Auszeit im Krankenhaus, die mir infektiöse Bakterien in meinem Darm ermöglicht hatten, zu meiner Familie zurückgekommen. Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr hatte man mich vollkommen isoliert. Knapp drei Jahre war ich alt, ich habe keine Erinnerungen an diese Zeit im Krankenhaus. Nur an die dicke Glasscheibe, die mich von meiner Umwelt trennte, auch von meinen Eltern, diese Scheibe erscheint mir heute noch in meinen Träumen. Die Isolation war so perfekt gewesen, dass ich nach meiner Heimkehr meine Eltern nicht mehr erkannte. Um meine Erkennungsfähigkeiten ihnen gegenüber wieder zu erlernen, wollten sie mich nicht allein mit meiner Schwester und meinen Großeltern lassen, als sie nach München fuhren um einige Dinge zu erledigen. So packten sie mich ins Auto und nahmen mich mit. Während der Hinfahrt, so erzählt meine Mutter, wobei sie sich selbst nicht mehr ganz sicher ist, es ist ja schon so lange her, doch sie ist sich ziemlich sicher, während der Hinfahrt kamen sie und mein Vater auf die Idee, mich nicht in die Stadt mitzunehmen, sondern mich zu meinem Onkel zu bringen, um ihre Erledigungen ohne mich schneller erledigen zu können.

Mein Onkel residierte im Arabella-Hochhaus in Bogenhausen, in der neu errichteten Vorstadt, ziemlich futuristisch muss das damals gewesen sein, ziemlich hoch oben im Hochhaus hatte er seine Wohnung. Mein Onkel war ein Musik-Freak, sagt meine Mutter, mit großem Stolz präsentierte er jedem seine Plattensammlung und erzählte von den Musicland-Studios, die sich im Keller des Hochhauses befanden, die Familienlegende sagt, dass er einst Freddie Mercury am Gebäude getroffen und sich mit ihm unterhalten hat. Und Jeff Lynne von Electric Light Orchestra sowieso, meine Mutter sagt, das war sein größter Held unter den Heroen, die sich im Keller des Arabella-Hochhauses einfanden, um ihre Platten aufzunehmen.

Meine Eltern jedenfalls, so erzählt meine Mutter, übergaben mich der Obhut meines Onkels, um in die Stadt zu fahren und dort ihre Erledigungen zu erledigen. Was sich danach in der Wohnung meines Onkels abspielte, lässt sich natürlich nicht mehr genau rekonstruieren, aufgrund meines damaligen Alters von nicht einmal drei Jahren kann ich es lediglich erspüren. Und jetzt, endlich, nach so vielen Jahren, jetzt, wo ich wieder Confusion von ELO höre, spüre ich sehr klar und sehe folgende Szenerie vor mir:

Mein Onkel geht mit mir auf dem Arm zur Fensterfront, um mir die Aussicht zur Stadt zu zeigen, wohin meine Eltern unterwegs sind. Er ahnt nichts von meiner Allergie gegenüber Glasscheiben, die sich während meines Krankenhausaufenthaltes akut ausgebildet hat, ich bekomme einen heftigen allergischen Anfall, der sich in fortdauernden Weinkrämpfen äußert, meine Eltern kann er nicht erreichen, das Mobilfunkzeitalter ist noch fern, in seiner Verzweiflung überlegt er, was mich beruhigen könnte, er denkt an Musik, die ihn selbst beruhigt. Ich glaube, ja ich bin mir sicher, ich sehe es vor mir, er legt Discovery von ELO auf, das Album, nicht die Single Confusion, er hatte nur Alben, keine Singles, dann drückt er mir das Cover in die Hand. Bei Confusion, dem zweiten Song auf der A-Seite beruhige ich mich, bei Need Her Love, dem dritten Song auf der A-Seite, fange ich wieder zu schreien an, also hebt er die Nadel wieder zurück zu Confusion. Das macht er so lange, bis meine Eltern aus der Stadt zurückkommen…

weiter zu Teil 3