Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Was ich werden wollte

Als ich zehn Jahre alt war, fragte mich eine ältere Dame – ich glaube es ware eine Schwester meiner Großmutter: „Was willst du werden?“

Ich sagte: „Ich will Hofnarr werden.“

Der entgeisterte Blick der älteren Dame sagte mir, dass ich in diesem Moment Hofnarr geworden war.

Die Erreiche in Eichendorf (vormals Buchendorf)

Erwin Err war ein Baumforscher, der sich vorwiegend mit Eichen beschäftigte. Er gilt als Begründer der Eichologie bzw. Quercusologie. Sein Geburtsort Buchendorf wurde nach seinem Tod ihm zu Ehren in Eichendorf umbenannt. Außerdem wurde eine Eiche gepflanzt, die als Erreiche Bekanntheit erlangte. Über viele Jahre pilgerten Anhänger der Lehre Erwin Errs, sogenannte Quercusianer, zu dieser Eiche.

Mit der Zeit jedoch geriet Erwin Err in Vergessenheit, auch die Erreiche war nur mehr eine gewöhnliche Eiche. Sie fällt dennoch noch immer auf, stehen doch in Eichendorf außer der Erreiche kaum Eichen, sondern fast ausschließlich Buchen. Im Gemeinderat Eichendorfs wurde deshalb der Antrag eingebracht, die Gemeinde von Eichendorf wieder in Buchendorf rückzubenennen, und jeder dachte, dieser Antrag würde ohne großes Aufsehen angenommen werden, bis sich der Verein zur Förderung der Eichologie nach Erwin Err, kurz VzFdEnEE, meldete, den Antrag schärfstens verurteilte und vorschlug, um die Erreiche weitere Eichen zu pflanzen, sozusagen einen kleinen Erreichenwald zu errichten. Sofort regte sich jedoch Widerstand gegen diesen Vorschlag: Das Gebiet um die Erreiche sei bebaut, es müssten mehrere Häuser abgerissen werden, um den Erreichenwald zu errichten. Der VzFdEnEE teilte daraufhin in einem schriftlichen Kommuniqué mit, man sei es dem berühmten Sohn Eichendorfs (vormals Buchendorf) Erwin Err schuldig, ihm zu Ehren einen Erreichenwald zu errichten. Es sei eine Schande, dass dies nicht schon längst geschehen sei, sei doch damit auch die Chance verbunden, Eichendorf als einen internationalen Forschungsplatz für Eichologie beziehungsweise Quercusologie zu etablieren.

Ein Gemeinderat meinte daraufhin, es sei besser, Eichendorf wieder in Buchendorf rückzubenennen, seien doch Eichen eine Pflanzengattung in der Familie der Buchengewächse und somit die Eichologie ein Teilgebiet der viel größeren Buchologie, und es sei Eichendorf doch viel besser gedient, wenn es sich statt eines Spezialforschungsplatzes für Eichologie beziehungsweise Quercusiologie als ein allgemeiner Forschungsplatz für Buchologie beziehungsweise Fagaceaeologie etablieren würde. Außerdem wüchsen seit Jahrhunderten vorwiegend Buchen in Eichendorf. Es sei widersinnig, Häuser abzureissen, um Eichen zu pflanzen und den natürlichen Buchenreichtum zu ignorieren.

Schließlich schaltete sich auch der in Eichendorf (vormals Buchendorf) gebürtige Literaturtheoretiker Norbert Naseweis in die Diskussion ein und behauptete, Josef von Eichendorff hätte 1807 auf seiner Reise nach Heidelberg im damaligen Buchendorf Halt gemacht, was doch ein noch viel gewichtigerer Grund sei, den Namen Eichendorf beizubehalten als die wissenschaftliche Tätigkeit des in Eichendorf (damals Buchendorf) gebürtigen Eichologen Erwin Err, auch wenn man den Dichter Eichendorff mit zwei F schreibe.

Die Hauseigentümer, deren Häuser für die Errichtung des Erreichenwaldes abgerissen werden müssten, hatten währenddessen gegen den Abriss ihrer Häuser geklagt, sodass die Zukunft des Erreichenwaldes nun vom gerichtlichen Urteil abhängig ist. Der VzFdEnEE kritisiert die klagenden Hauseigentümer aufs schärfste, würden doch hier private Interessen vor öffentliche gestellt und meint zur Idee des Gemeinderates, Eichendorf als einen Standort für Buchologie beziehungsweise Fagaceaeologie zu etablieren, damit würde sich Eichendorf infrastrukturell überfordern, eine Spezialisierung in Eichologie beziehungsweise Quercusiologie als Teilgebiet der Fagaceaeologie sei mehr als ausreichend. Außerdem lehnt der Verein eine Rückbenennung Eichendorfs in Buchendorf nach wie vor ab, während der Gemeinderat aktuell dazu tendiert, den Erreichenwald nicht zu errichten und Eichendorf in Buchendorf rückzubenennen.

Ich hatte Angst

Ich hatte Angst. Wovor? Angst, mich zu verlieren. Dabei konnte ich mich noch gar nicht gefunden haben. Ich war noch viel zu jung dazu. Wie sollte ich mich da verlieren? Ich lag unter der Bettdecke und hatte Angst, meine Organe würden mich im Stich lassen und so den Lebenshauch von mir nehmen. Vor allem meinem Darm traute ich nicht. Ich spürte das Gluckern in ihm, wie die Flüssigkeiten gärten und brodelten, und die Sorge trieb mich um, er, der Darm, könnte sich übernehmen in seiner feuchten Aktivität, sich hyperaktiv überall herumwinden und schlingen und dabei alles in seinen Würgegriff nehmen und sich schließlich durch seine Hyperaktivität selbst zugrunde richten. Ich hatte Angst vor diesem schlingenden, schleimigen, keine Grenzen kennenden Ungeheuer.

Ängstlich fasste ich unter die Bettdecke auf meinen Bauch. Doch auch dieser Griff gab mir keine Sicherheit: Mein Bauch fühlte sich rund und weich an, ohne Konturen und Kanten. Ich spürte meine Haut, und sie erschien mir plötzlich ebenso als unersättliches, schlingendes Ungeheuer, das sich maßlos alles einverleibt, das es kriegen kann und an dieser Maßlosigkeit zugrunde geht.

Mich dem Tode nahe fühlend kroch ich aus dem Bett. Mein Kopf war erhitzt von den Ungeheuerphantasien bezüglich Darm und Haut. Ich brauchte Abkühlung. Ich ging zum Wasserhahn. Als ich ihn aufdrehte und frisches, kühles Wasser aus ihm floss, spürte ich die Maßlosigkeit des Wassers, das alles und jedes auf seinem Weg zur Erde umfließt, ein noch viel schrecklicheres, keine Grenzen kennendes Ungeheuer, ich hatte Angst, dass es in seiner Maßlosigkeit Darm und Haut und meinen ganzen restlichen Körper mitreißen würde und damit alles, was ich bin mitreißen würde. Mich vernichten würde. Panikartig rannte ich aus dem Bad ins Bett meiner Mutter.

Später, als ich dem Kindsein entwachsen war, lernte ich Josefine kennen. Josefine liebt Flüssigkeiten. Sie springt ins Wasser und plantscht darin vergnügt herum wie ein kleines Kind. Sie sagt: Wie gut, dass wir Menschen aus so viel Wasser bestehen! Als wir uns das erste Mal nah waren, leckte Josefine meinen ganzen Körper mit ihrer Zunge ab. Sie spuckte mir ihren Speichel auf die Brust und rieb sie damit ein, und flüsterte mir mit ihren feuchten Lippen ins Ohr: Mein Ritter, wann legst du deine Rüstung ab? Sie traf mich damit ins Mark, denn ich fühlte mich während ihrer feuchten Berührungen trocken und hart wie eine Ritterrüstung, so als wollte ich es tunlichst vermeiden, irgendeine ihrer Körperflüssigkeiten an mich heranzulassen und schon gar keine meiner Körperflüssigkeiten an sie zu überlassen. Alles ächzte und stöhnte in und an meinem Körper vor Trockenheit und Härte. Mein Penis war das einzige weiche Teil an ihm, so als wollte er gegen diese Trockenheit und Härte Protest einlegen. Dennoch war er am weitesten davon entfernt, Körperflüssigkeiten abzugeben, verweigerte ihm doch alles an mir diese Möglichkeit. Josefine rieb ihre feuchten Lippen an ihm, spreizte sie mit ihren Händen und presste den Eingang ihrer warmen feuchten Höhle an ihn. Der Arme war rettungslos verloren in diesem gierigen Schlund.

Ich war in Panik. Doch ein Davonrennen war nicht möglich, schon gar nicht in das Bett meiner Mutter. So erlebte ich in leidvollen Qualen Josefine als wasserspeiendes Ungeheuer. Ich war noch viel zu jung um zu begreifen, dass sie meine Rettung war.

So stehen die Dinge

So stehen die Dinge also, dachte es in meinem Kopf, aber natürlich war das falsch gedacht, denn die Dinge stehen nicht, niemals, sie gehen auch nicht, was naheliegend wäre wenn sie nicht stehen, aber das ist zu sehr von den Beinen gedacht. Sie bewegen sich, sind immer im Fluss, wie ich gelesen habe, aber ich habe es nicht nur gelesen, ich spüre es auch an meinem Leib, wie es auf meiner Haut kribbelt und krabbelt, wie es in meinem Bauch gluckert und blubbert, und wenn ich mir Zeit und Ruhe nehme, spüre ich, wie das Blut durch mein Fleisch rauscht.

Wie kommt mein Kopf also auf die Idee, dass die Dinge stehen? Es scheint eine fixe Idee zu sein, von der ich nicht loskomme, so fix, dass ich glaube, dass du mich nicht liebst, obwohl mir deine Augen jedesmal, wenn sie in meine schauen, das Gegenteil sagen, sie sagen mir: Ich bin deine Frau, sei du mein Mann, und wir lieben uns!, aber in dem Moment, in dem mir deine Augen das sagen, schrecke ich zurück, ich fessle mich selbst an das Bett, an das ich gefesselt war, mein Blick wird trüb und ich sehe dich nur noch durch eine dicke Scheibe. In mir weint es, weil ich mir die Liebe nehme, die mir einst genommen wurde. Ich traue der Liebe nicht. Auch deiner nicht.

Traust du deiner? Ich sehe den Chor der gefangenen Frauen, gefoltert durch die Jahrhunderte, und ich weiß nicht: Singst du mit dem Chor, oder trittst du aus ihm heraus? In meiner Gefesseltheit singst du mit ihm im ewigen Trauergesang. In meinen freien Momenten, in denen ich die Fesseln zerreisse und mein Blick klar wird, trittst du aus dem Chor heraus, stehst da, schutzlos und nackt, anmutig und voller Liebe, und obwohl du stehst, bewegt sich alles an dir und um dich, und auch bei mir bewegt sich alles, ich komme zu dir, schutzlos und nackt und voller Vertrauen, und wir tanzen den Tanz der Liebe.

Dokum, Frieseninsel

Das Friesland liegt an der Nordseeküste. Dem Festland sind Inseln vorgelagert, die in die westfriesischen und in die ostfriesischen Inseln unterteilt werden. Die westfriesischen Inseln gehören zu den Niederlanden, die ostfriesischen zu Deutschland. Die fünf bewohnten westfriesischen Inseln heißen, von West nach Ost: Texel, Vlieland, Terschelling, Ameland und Schiermonnikoog. Sie sind alle größer als die sieben bewohnten ostfriesischen Inseln Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog, Baltrum, Norderney, Juist und Borkum (von Ost nach West).

Borkum ist die westlichste und größte der ostfriesischen Inseln, während die unbewohnte Insel Rottum die östlichste und kleinste der westfriesischen Inseln ist. Das Durcheinander aus West und Ost und groß und klein ist also gar kein Durcheinander, wenn man, wie eben versucht, etwas Systematik in die Inselgruppe bringt. Doch diese Systematik wird durch neueste Forschungen ins Wanken gebracht:

Genau zwischen Borkum, der westlichsten der ostfriesischen, und Rottum, der östlichsten der westfriesischen Inseln, soll sich früher eine weitere Insel namens Dokum befunden haben. Dokum kann keine große Insel gewesen sein, beträgt der Abstand zwischen den heutigen Borkum und Rottum doch nur etwa fünf Kilometer. Und obwohl keineswegs bewiesen ist, dass es dieses kleine Eiland jemals gegeben hat, wird bereits groß darüber gestritten, ob Dokum eine west- oder ostfriesische Insel sei. Die Niederlande sagen, Dokum sei eine westfriesische Insel, da doch Borkum eigentlich auch eine westfriesische Insel sei, weil sie westlich der Emsmündung liege, die die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland darstelle. Deutschland sagt, Borkum sei nur eigentlich eine westfriesische, tatsächlich aber eine ostfriesische Insel, woraus zu folgern sei, dass Dokum eine ostfriesische Insel sei, schließlich könne sie aufgrund ihrer Lage zwischen Rottum und Borkum kaum westlich, sondern eher südlich von Borkum gelegen haben.

Es wurde ein Expertenrat zur Lösung des Konflikts eingesetzt. Nach langen Beratungen kam der Rat zum Schluss, dass es keinen Konflikt gibt, da die Existenz des Konfliktobjekts, der Insel Dokum, nicht erwiesen sei, und man könne nicht über etwas streiten, dessen Existenz nicht erwiesen sei. Doch just bei der Urteilsverkündung des Rates meldete sich ein Ornithologe und meinte, es sei davon auszugehen, dass Dokum existiert hat, da es Anlass zur Vermutung gibt, dass auf Dokum eine einzigartige Entenart lebte, die sogenannte Dokumente, deren Exemplare nach dem Untergang Dokums auf Rottum und Borkum geflüchtet seien. Es gelte nun, Dokumente zu finden, die diese Annahme bestätigen.

Große Suchtrupps sind mittlerweile unabhängig voneinander auf Borkum und Rottum unterwegs, auf Borkum unter deutscher, auf Rottum unter niederländischer Führung, die sich einen Wettbewerb darin liefern, Dokumente für die Existenz der Dokumente zu finden. Einer der Suchtrupps auf Borkum fand Kotspuren, die man so noch nie gesehen hatte, und behauptet, dies könnten nur Hinterlassenschaften der Dokumente sein und ihre Existenz dokumentieren. Man versäumte es jedoch, die Kotspuren zur gentechnischen Analyse sofort einzusammeln, und als man mit entsprechenden Sammelbehältnissen zurückkam, waren die Kotspuren verschwunden. Ein Suchtrupp auf Rottum hingegen behauptet, einen noch nie gesehenen, entenähnlichen Vogel im Watt gesehen zu haben, doch bevor man den Vogel stellen konnte, kam die Flut und er war verschwunden.

So sucht man weiterhin fieberhaft nach Dokumenten, die die Existenz der Dokumente dokumentieren, die ja in Folge auch die frühere Existenz der Insel Dokum dokumentierten.

Die sinnliche Bedeutung der Lippenbewegung

Auf der Suche nach Worten ging ich zu ihr, doch sie nahm mir die Worte. Nein, nicht doch und auch nicht nehmen: Sie gab mir viel, keine Worte, nein, viel mehr, sie sprach Worte, die nichts bedeuteten, nicht für mich, aber natürlich bedeuteten sie etwas, denn was für einen Sinn haben Worte, die nichts bedeuten? Es war sinnlich wie sie sprach, weniger die Worte als viel mehr die Bewegung ihrer Lippen. Sie beschwerte sich mit ihren Worten, ich hatte das Gefühl, dass sie mit ihrem Sprechen nach etwas verlangte, das ihr fehlte, mir war nur nicht klar was, ich spürte den Drang, sie aus der Beschwernis zu holen, was mich auf die Idee brachte, meine Lippen an ihre zu pressen, doch ich hatte nicht den Mut dazu. Vielleicht bedeutete sie mir mit ihren Worten, dass ihr meine Lippen an ihren Lippen fehlten, dass sie nach mir verlangte, dass ich meine Lippen an ihre pressen soll, an ihre sinnlichen Lippen, die sich so sinnlich bewegten. Wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, dass ihre Worte, durch die sie ihre Lippen so sinnlich bewegte, mir bedeuteten, meine Lippen an ihre zu pressen, es ist so heiß hier, sagte sie, diese Worte vernahm ich ganz deutlich, denn sie ergaben Sinn für mich, bemerkte ich doch in diesem Moment, wie heiß mir war. Jetzt hielt mich nichts mehr zurück, ich presste meine Lippen an ihre, oder presste sie ihre an meine?, das brachte keine Abkühlung, es wurde noch heißer, es fielen keine Worte mehr, unsere Zungen waren damit beschäftigt, sich zu züngeln, meine Hand glitt an ihrem Rücken hinauf bis ich ihre Haare erreichte, von dort strich ich ihr ins Gesicht, dass ich mit Händen und Augen genau erforschte, bei den Forschungen wurde mir nochmal heißer, ich glitt hinab über Brust und Bauch zu ihrer feuchten warmen Höhle, wo ich meine genauen Forschungen fortsetzte, sie sprach mit ihrem Körper, sie bebte und strahlte unter meinen Berührungen, von ihren Lippen kamen keine Worte, zumindest nicht solche, die ich als sprachfixierter Mensch so bezeichnen würde, es waren sinnliche Laute, die ich vernahm, wohlig-warme Schauer liefen mir über den Rücken, ich gab meine Suche nach Worten auf, weil sie mir nichts mehr bedeuteten.

Ksaver Tsints

Xenia Zechner war erstaunlicherweise nicht die Letzte, die aufgerufen wurde, denn nach ihr kam Xaver Zinz. Sie war das letzte Mädchen, aber nicht die letzte Person. Die war immer Xaver Zinz, da half es ihm auch nichts, wenn er sagte: Beim Vornamen aufgerufen wäre ich nicht der Letzte, denn da kommt Xaver vor Xenia, denn der Lehrer blieb stur und rief immer nach Nachnamen auf, und zwar bei A beginnend und bei Z endend, bei Zinz eben. Rief der Lehrer Zinz, kam ein leises, verächtliches Brummen aus der hintersten Ecke des Klassenzimmers, wo Xaver in jedem Jahrgang, meist alleine, saß, und so seinen Ruf zementierte, der Letzte zu sein.

Xenia Zechner arbeitete gegen das Stigma, die Letzte zu sein, an: Sie saß immer ganz vorne, hob ständig die Hand, wenn es die Hand zu heben galt, um eine gestellte Frage des Lehrers zu beantworten. Außerdem heiratete sie später einen Klassenkameraden, der immer als Erster aufgerufen wurde, Armin Achleitner nämlich, und sie versäumte es nicht, im Zuge ihrer Heirat ihren Namen von Zechner zu Achleitner zu ändern. Für Xaver Zinz wäre es nun naheliegend gewesen, sich Andrea Artl anzunähern. Die saß meistens in der Mitte der Klasse, wurde aber nach Armin Achleitner als Zweite aufgerufen. Beim Vornamen wäre sie sogar als Erste aufgerufen worden, aber dies blieb nur eine phantastische Vorstellung, denn es wurde ja immer beim Nachnamen aufgerufen. Außerdem schien es Andrea Artl egal zu sein, ob sie als Erste, Zweite, Mittlere oder Letzte aufgerufen wurde. Sie ließ sich nicht anstecken vom Aufrufirrsinn des Lehrers, der im Lauf der Jahre eine wahre Obsession im Aufrufen entwickelte. Nein, Andrea Artl war die Gleichmut in Person, wordurch sie sich auch nicht für Xaver Zinz interessierte, in der Schule sowieso nicht und später im heiratsfähigen Alter auch nicht. Daher blieb auch eine Person namens Xaver Artl eine Phantasiegestalt. Außerdem interessierte sich Xaver Zinz überhaupt nicht für Andrea Artl. Er saß stattdessen in seiner hintersten Ecke und brütete darüber, wie er seinen Namen verändern könnte, um vom Lehrer nicht mehr als Letzter aufgerufen zu werden. Er schichtete Buchstaben hin und her, und so wie beim Lehrer das Aufrufen, wurden bei ihm Buchstaben eine Obsession.

In der letzten Klasse, vor dem Übertritt in Gesamtschule oder Gymnasium, hatte er dann endlich die zündende Idee, durch die er beim Aufrufen in vordere Ränge katapultiert werden würde. Ohne aufgerufen zu werden, erhob er sich aus seiner hintersten Ecke und trug mit laut fordernder Stimme vor: Die Buchstaben X und Z sollen aus dem Alphabet gestrichen und durch die Buchstabenfolgen KS und TS ersetzt werden! Sein Vorschlag ließ Andrea Artl in Gleichmut erstarren, in der restlichen Klasse jedoch Unruhe aufkommen: Als Ksaver Tsints würde er zwar immer noch nach Ksenia Tsechner aufgerufen, doch Valentin Vorderbrandner und Veronika Wagner würden nach ihm aufgerufen werden. Jeder redete und debattierte kreuz und quer, bis Armin Achleitner die Stimme über alle erhob und meinte, es sei doch lächerlich, so einen Aufwand zu betreiben, um sich im Alphabet lediglich von Z nach T vorzuarbeiten. Xenia Zechner pflichtete ihm bei. Der Lehrer, bisher ungewohnt ruhig geblieben, pflichtete Armin Achleitner ebenfalls bei und rief nun zur Ruhe auf, woraufhin Ksaver, der kurz überlegte einzuwenden, dass er sich als Ksaver im Alphabet von X nach K verbessern würde, aber sogleich die Sinnlosigkeit dieses Einwands erkannte, seine Idee fallen ließ und sich als Xaver schmollend in seine Ecke setzte.

Xaver Zinz, der, wie wir bereits wissen, nicht Andrea Artl heiratete, arbeitet heute in einer Bibliothek. Dort sitzt er meist in einer hinteren Ecke und arbeitet an seinem Werk zur Reform des Alphabets, das nicht nur die fundiert erläuterte Forderung enthält, die Buchstaben X und Z zu streichen und durch die Buchstabenfolgen KS und TS zu ersetzen, sondern auch, die Vokale zu erweitern, um die Lautvielfalt, gerade im süddeutschen Raum, schriftlich akkurater erfassen zu können.

Reh bell!

Schon früh wusste ich, dass ich dagegen sein musste. Dass ich nicht dafür sein konnte. Das, was ist, dient den Mächtigen, oder denen, die sich dafür halten, die sich Vasallen und Schergen halten, um das zu erhalten, was ist. Aber nichts kann sein wie es ist. Es muss anders sein.

Nur wenn ich im Wald bin, allein mit den Bäumen, dann kann es sein, wie es ist. Das ist so, weil mich mein Vater als Kind auf seinen Streifzügen durch die Wälder mitnahm. Und weil ich damals schon, obwohl noch kaum des Lesens mächtig, wusste: Ich bin so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über mich hat (Nietzsche). Aber auch im Wald konnte ich die Dinge nicht immer so nehmen, wie sie sind. Als wir ein Reh erblickten, erzählt mein Vater, rief ich, obwohl noch kaum der Sprache mächtig, plötzlich aus: Reh bell!

Und siehe da: Das Reh bellte!

 

Flo und Mu Skel

Morten Skel ist ein dänisch klingender Name, und der Träger dieses Namens, von dem ich schreibe, ist dänischer Herkunft. Er ist geboren und aufgewachsen in Padborg, zu deutsch Pattburg, an der dänischen Grenze zu Deutschland, gegenüber von Flensburg, was passend erscheint, bedeutet Skel doch soviel wie Grenze. Doch Skel hielt es nicht an der Grenze, nein, Umstände, die hier nicht näher erläutert werden können, ließen ihn nach München geraten, wo er eine Frau names Birte Olsen kennenlernte, deren dänische Mutter sie in München gebar, woraufhin ihr dänischer Vater nach Dänemark zurückkehrte. Doch das nur nebenbei.

Birte Olsen hatte trotz ihres dänischen Namens einen deutschen Pass, weshalb sie Morten Skel riet, sie zu heiraten, damit er auch einen deutschen Pass bekäme. Morten Skel nahm den Rat an: Die beiden heirateten, und er konnte Birte dazu überreden, als seine künftige Frau nicht mehr Olsen, sondern Skel zu heißen.

So lebten die beiden, man könnte es so beschreiben, in München ein dänisches Leben. Als sie jedoch Kinder bekamen, beschlossen sie, dass die Kinder ein deutsches Leben leben sollten, und so gaben sie ihnen deutscher klingende Namen als die ihren: Ihren Jungen nannten sie Florian, ihr Mädchen Muriel. Doch als sie die Kinder so genannt hatten und es amtlich hatten eintragen lassen, waren ihnen die Namen plötzlich zu deutsch, und so riefen sie Florian fortan Rian und Muriel fortan Riel, weil ihnen das dänischer erschien. Andere jedoch, vor allem die Kinder in ihrem Umfeld, scherten sich nicht um diese scheinbar dänisch klingenden Rufnamen – es waren ja meist deutsche Kinder, denen dänischer Klang nicht so wichtig ist – und riefen Florian Flo und Muriel Mu.

Soweit, so nicht schlimm, also gut, doch speziell Florians Heranwachsen war nicht bedenkenlos: Ab einem gewissen Alter, als sein Sprechvermögen ausreichend entwickelt war, stellte sich heraus, dass er nur hohles Zeug redete. Er plapperte irgendetwas, ohne ihm Bedeutung geben zu können. Morten und Birte gingen deshalb mit Flo zum Psychiater, und der konzedierte: Ihr Sohn redet in Floskeln.
Er heißt ja auch Flo Skel! rief Morten Skel entsetzt, und Birte Skel schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Tief geknickt verließen sie die ärztliche Praxis und machten sich bittere Vorwürfe, die Entwicklung von Flo durch ihre Namensgebung verursacht zu haben: Sie hatten einen Jungen namens Flo Skel, der nur in Floskeln redete.

Ihre ganzen Hoffnungen ruhten nun auf Muriel. Doch als Muriel etwa zehn war, begann sie, intensiv ihre Muskeln zu trainieren und äußerte bald den Wunsch, professionelle Bodybuilderin werden zu wollen. Morten und Birte sahen dem taten- und fassungslos zu. Als Muriel in die Pubertät kam, hatte sie durch ihr Training bereits imposante Muskeln entwickelt, natürlich auch an der Brust, sodass man nicht erkennen konnte, ob sich an ihr eine weibliche Brust entwickelte. Morten und Birte brauchten mit Muriel nicht zum Psychiater gehen, sie erkannten selbst, dass ihr Mädchen namens Muriel Skel, das Mu gerufen wurde, nur noch aus Muskeln bestand. Und erneut machten sie sich bittere Vorwürfe, auch bei Mu durch ihre Namensgebung deren Entwicklung verursacht zu haben.

Flo wird mittlerweile von anderen Die Floskel und Mu Der Muskel genannt, wodurch ihre geschlechtlichen Identitäten ins Wanken gerieten. Mutter Birte grämt sich darüber immer noch sehr, läuft mit den beiden von Therapeut zu Therapeut, während Vater Morten es nicht mehr aushielt und Birte bat, ihn freizulassen.

Mittlerweile lebt Morten Skel mit einer Senegalesin finnischen Ursprungs in Freilassing an der Grenze zu Österreich, gegenüber von Salzburg.

Geburts- und aktueller Wohnort des Morten Skel, beide an der Grenze:
Padborg
Freilassing