Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Stehen auf dem Gehsteig

Ich stehe auf dem Gehsteig und stelle mir vor, dass ich auf dem Gehsteig liege. Die ernsten Dichter werfen schwere Worte auf mich. Die Surrealisten schütteln ihre Wortkalauer durch die Gegend. Die Wortkalauer schweben unreflektiert davon und bleiben an den Häuserfassaden hängen.

Ich liege nicht auf dem Gehsteig, denn auf dem Gehsteig geht man. Ich stehe auf dem Gehsteig. Da kommt einer vorbei und sagt zu mir: „Geh doch, das ist doch kein Stehsteig!“ Ich gehe einen Schritt zur Seite und sage: „Ich mache dir Platz, dann kannst du gehen auf deinem Gehsteig. Und ich bleibe stehen auf meinem Stehsteig.“

„Da legst dich nieder, bei dem was du daherredest!“ sagt der Geher im Vorbeigehen. Der Bayer sagt das gerne, dass du dich niederlegst. Er verlangt nach so einer Aussage jedoch nicht von seinem Gegenüber, dass er sich niederlegt noch legt er sich selber nieder, sondern drückt dadurch sein Erstaunen aus. Trotzdem greife ich seine Worte gerne auf:

„Das wollte ich machen, mich niederlegen, aber Niederlegen, dachte ich mir, wäre doch eine grobe Nutzentfremdung eines Gehsteigs.“ Ich überlege kurz, ob ich Dichter und Surrealisten erwähnen sollte. Ich erwähne sie nicht.

Der Geher legt sich, wie zu erwarten war, nicht nieder, bleibt aber stehen. Ich stelle fest: Wir stehen beide auf dem Gehsteig. Oder ist es jetzt ein Stehsteig? Die schweren Worte der ernsten Dichter liegen unter uns. Beim Blick auf die Häuser fällt mir auf, dass die Kalauer der Surrealisten lustig an deren Fassaden hängen. Es gefällt mir, wie wir beide so auf dem Gehsteig stehen.

Fest im Fluss

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, sagt Karl Valentin. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich nur in der Fremde bin, wenn ich nachts in meine Träume versinke.

Ich habe mir als Kind die Gewissheit erworben, dass ein Fluss etwas Trennendes ist. Auf der einen Seite des Flusses ist dieses Land, auf der anderen Seite jenes Land. Obwohl die Länder auf beiden Seiten des Flusses sich sehr ähneln, hat der Fluss irgendwann entschieden, das Land in zwei Hälften zu teilen. Die Menschen auf beiden Seiten des Flusses akzeptieren diese Entscheidung. Sie akzeptieren diese Entscheidung nicht nur, sie sind dem Fluss sehr dankbar dafür. Warum sollten sie sonst an den Brücken über den Fluss bewaffnete Männer aufstellen, um dem Fluss bei seiner Trennung hilfreich beizustehen?

In meinem Traum stand ich am Ufer des Flusses. Am anderen Ufer stand mir eine ganze Heerschar von Menschen gegenüber. Diese Heerschar rief laut im Chor: „Wir wollen nichts mit dir zu tun haben!“ Der Fluss hat gut entschieden, dass er uns trennt, die Heerschar und mich. Denn ich möchte sagen, dass die Heerschar am anderen Ufer einen recht wütenden Eindruck auf mich macht. Der Fluss ist quasi ein gottgegebenes Sperrgebiet, das Trennung und Distanz aufrechterhält. Ich könnte doch jetzt meinen Traum beenden und beruhigt weiterschlafen.

Doch dann steige ich in den Fluss. Zuerst mit den Beinen, dann bis zur Hüfte und schließlich mit dem ganzen Körper. Das Wasser trägt mich. Wo sind sie, die am anderen Ufer? Habe ich den Kopf über oder unter Wasser? In der Mitte des Flusses liegt ein Stein, ein großer Stein, ein Felsen. Ich komme auf ihm zum Stehen. Ich stehe auf dem Stein und sehe sie wieder, die Heerschar am anderen Ufer. Vielleicht erinnere ich mich falsch, doch ich habe ihre Gesichter starr in Erinnerung. Diese Starre hält an, bis ein schriller Ruf ertönt, der so gar nicht in diese Starre passen will.  Der schrille Ruf bringt Unruhe in die Heerschar am Ufer. Ratlose Blicke. Hat einer von ihnen diesen Schrei ausgestoßen?

Ich stehe auf dem Stein. Das Wasser des Flusses umtost mich, aber reißt mich nicht fort. Das ist nicht logisch, dass ich so fest im Fluss stehe, obwohl mich das Wasser umtost. Doch muss es logisch sein? Ich habe ohnehin den Eindruck, dass sich das Leben konsequent jeder Logik entzieht und trotzdem verstanden werden kann. Träume ich? Bewegung am Ufer. Ist das die Suche nach dem schrillen Schreier? Wieso suchen sie den schrillen Schreier? Suchen sie den schrillen Schreier? Sie bewegen sich, stolpern über Wurzeln und Gras. Viele verschwinden hinter den Büschen am Ufer. Plötzlich springt einer von ihnen mit einer heftigen Bewegung aus den Büschen und steht am Wasser. Ein paar hinter ihm, die sich gerade davonmachen wollten, bleiben auch stehen. Was passiert jetzt? Dann, plötzlich, überraschend, wie sein Sprung soeben aus den Büschen, nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, stürzt er sich ins Wasser des Flusses. Die anderen hinter ihm, die sich davonmachen wollten, bleiben wie angewurzelt stehen ob der Unvorhersehbarkeit und Undenkbarkeit dieses Moments. Er strampelt und rudert im Wasser, er findet keinen Halt. Vielleicht will er keinen Halt, denn es sieht so aus, als ob er es genießt, sein Strampeln und Rudern. Ein wahres Fest im Fluss scheint er zu feiern. Die anderen am Ufer wollen ihm folgen und stolpern dabei über Wurzeln und Gräser und über sich selbst. „Entsetzlich, entsetzlich!“ rufen sie, während sie so dahinstolpern, und sind gleichzeitig fasziniert von dem, der sich da im Fluss treiben lässt. Hat der Fluss entschieden, das Land nicht mehr in zwei Hälften zu teilen? Darf der Fluss denn das, mir diese Gewissheit nehmen? Oder hat er sie mir gar nie gegeben und ich habe sie mir nur genommen?

Plötzlich, wieder nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, baut sich eine Brücke auf über dem Fluss. Ein Bewaffneter steht auf dieser Brücke und zielt mit seinem Gewehr auf den Rudernden und Strampelnden im Fluss. Laute Entsetzensschreie der Ufergesellschaft. Ein Fallen und Stolpern, ein Stöhnen und Ächzen im Gebüsch. Der feste Stein unter mir löst sich und ich falle. Plötzlich ist auch der Fluss mit seinem Wasser unter mir weg und ich falle und falle und… jetzt bin ich aufgewacht.

Bin ich jetzt zurückgekehrt aus der Fremde meiner Träume in mein wirkliches Leben?

Es gibt viel zu erzählen (Geschichte eines Sommerabends)

Es gibt viel zu erzählen, doch zunächst nur Folgendes:

An einem großen Sommerabend sitze ich klein im Gras. Ich sitze unter einer alten Linde, die ihre Blätter schützend über mich hält. Die alte Linde bildet freistehend das Zentrum der Wiese, auf der ich mich befinde. Rechts von mir, etwa vierzig Meter entfernt, oder auch fünfzig, ist eine Allee. Rechts von mir, das ist westlich, denn ich sitze mit dem Kopf nach Süden gerichtet. Ich drehe meinen Kopf nach rechts und sehe auf die Allee. Von der Entfernung kann ich Lärchen, Kiefern und auch Laubbäume erkennen. Die Bäume stehen in unregelmäßigen Abständen. An einer Stelle, neben zwei Kiefern, ist ein Loch in der Allee, und ich sehe eine weitere Wiese dahinter. Ist es etwa keine Allee, wegen diesem Loch? Und dann noch die unregelmäßigen Abstände zwischen den Bäumen? Ich bleibe dabei, es ist eine Allee. Sie begrenzt in gewisser Weise meinen Erlebnisradius.

18:23 Uhr. Die Sonne steht schon tief über den Bäumen der Allee. Vor den Bäumen der Allee will ein Junge Volleyballspielen lernen, doch sein Vater, der bei ihm ist, will es nicht. Er sagt immer wieder zu seinem Sohn, was er alles falsch macht. Der Sohn verzagt. Was will der Vater von seinem Sohn? Ist denn dieser Mann der Vater dieses Jungen? Der Schatten der Bäume der Allee erreicht mich bald. Die Sonne wird bald hinter den Bäumen der Allee versinken.

Etwa vierzig Meter links von mir, oder auch fünfzig, in jedem Fall östlich von mir, sehe ich eine prächtige alte Esche im Sonnenlicht. Der Schatten wird die Esche später erreichen als die Linde, unter der ich sitze. Soll ich zur Esche gehen und mich unter ihre Blätter setzen?

18:36 Uhr. Der Schatten schreitet voran. Zwei merkwürdige Männer mit dunklen Sonnenbrillen fahren kurz nacheinander mit Fahrrädern im Slalom über die Wiese. Was suchen diese Männer? Sie fahren ganz nah an einer Frau vorbei, die vor mir, also südlich von mir, im Gras sitzt. Diese Frau sitzt, von mir aus gesehen, hinter ihrem Fahrrad. Ihr Fahrrad liegt vor ihr im Gras und auf den Lenker des Fahrrads hat sie ein Handtuch gehängt. Sie hält sich ihr Handy ans Ohr. Ihr Mund ist dabei von dem Handtuch verdeckt, das über dem Lenker hängt. Ich höre sie nicht sprechen und wegen des Handtuchs sehe ich auch keine Bewegungen ihrer Lippen. Spricht sie? Ich vermute es, doch aussehen tut es für mich, als hätte sie Ohrenschmerzen und hielte sich zur Linderung derselben das Handy ans Ohr. Gibt es vielleicht eine App gegen Ohrenschmerzen? Wie funktioniert so eine App? Ich beschließe, dass es so etwas nicht gibt, eine App gegen etwas, sondern nur eine App für etwas. Ich finde das sehr vernünftig, dass Apps nur für und nicht gegen etwas sein können, weiß aber nicht, ob das stimmt. Das Handtuch hat sich mittlerweile verschoben oder die Frau hat ihre Position um einige Zentimeter geändert, so genau konnte ich das nicht beobachten. Ich sehe jedoch jetzt die Bewegungen ihrer Lippen und kann annehmen, dass sie in ihr Handy spricht und keine Ohrenschmerzen hat. Obwohl ich sie immer noch nicht höre.

Links hinter der Frau mit dem Handy am Ohr, also, um genau zu sein, süd-süd-östlich von ihr, sehe ich ein junges Pärchen. Es ist ein heterosexuelles Pärchen, also ein junger Mann und eine junge Frau. Er liegt auf dem Bauch mit dem Gesicht in meine Richtung. Wenn ich ein Brasilianer wäre, würde ich die beiden nicht als Pärchen identifizieren, denn ich habe gehört, dass ein Brasilianer, wenn er einen Mann auf dem Bauch liegen sieht, ihn als homosexuell identifiziert. Ich weiß aber nicht, ob das stimmt. Ich bin jedenfalls kein Brasilianer und identifiziere deshalb den jungen Mann als männlichen Teil eines heterosexuellen Pärchens. Der junge Mann, der auf dem Bauch liegt, futtert schon seit geraumer Zeit Diverses in sich hinein, während die junge Frau, die neben ihm sitzt und mutmaßlich seine Partnerin ist, nur sehr selten einen Happen zu sich nimmt und ansonsten gelangweilt neben ihm sitzt. Die beiden sehen aus – für mich, nicht für einen Brasilianer – wie ein Pärchen, dass ein Pärchen ist, weil es ein Pärchen ist. Jetzt zieht sie ihr Oberteil an, während er ungerührt weiterfuttert, mit Kaubewegungen wie eine Kuh beim Wiederkäuen. Doch es war untrüglich ein Zeichen von ihr, das Anziehen des Oberteils. Ein Zeichen, dass sie gehen will. Ihr Blick ist jetzt strenger ob seiner Ignoranz. Zur weiteren Recherche ihrer Beziehung wäre es das beste, aufzustehen, zu ihnen hinüber zu gehen und sie darüber zu befragen. Doch das erscheint mir unangebracht.

19:00 Uhr. Der Versuch des Volleyballspielens wurde bereits seit geraumer Zeit eingestellt. Die Frau hat das Handy nicht mehr am Ohr und packt ihre Sachen. Ich sitze längst im Schatten. Der Schatten wird bald die Esche weiter östlich erreichen. Ich werde nicht mehr zur Esche gehen und mich nicht mehr unter ihre Blätter setzen. Wenn ich doch zur Esche ginge – in welche Richtung würde ich mich setzen, wenn ich mich unter die Esche setzen würde? Würde ich mich wieder mit dem Gesicht Richtung Süden setzen, wie jetzt unter der Linde, oder Richtung Westen, um zu warten, bis die Sonne das Loch in der Allee neben den zwei Kiefern erreicht, oder Richtung Osten, um die Baumwipfel zu betrachten, die noch von der Sonne bestrahlt werden? Es würde eine völlig neue Erzählung erfordern, weil sich meine Perspektive völlig geändert hätte. Vorne, links und rechts wären etwas völlig Anderes als bisher. Ich würde die Regungen und Bewegungen der Leute um mich herum völlig anders wahrnehmen.

Ich werde nicht mehr zur Esche gehen und mich nicht mehr unter ihre Blätter setzen. 19:06 Uhr. Der Schatten hat den Stamm der Esche erreicht. Ein sanfter Wind fährt in die Blätter der Linde über mir. Eine Krähe flattert im Geäst. Es gibt viel zu erzählen…

Der Duschkopf

Am Meer gibt es oft Duschen am Strand, damit man sich das Salz vom Körper waschen kann. Auch ich gehöre zu denjenigen, die solche Duschen gerne benutzen, weil mich das Salz sonst juckt, wenn ich es mir nicht vom Körper wasche.

An schönen Sommertagen kann es nun vorkommen, dass sich vor einer solchen Dusche eine kleine Schlange bildet. In solch einer kleinen Schlange befinde ich mich gerade, als plötzlich ein Herr, der unter der Dusche steht, einen lauten Schrei von sich gibt. Alle in der Schlange und sonstige Umstehende schauen daraufhin zu ihm, während er, seinen Rücken mir und den anderen Wartenden zugewandt, wie angewurzelt stehen bleibt. Zögernd dreht er seinen Kopf über die Schulter. Alle warten auf eine Erklärung für seinen Schrei. Ist etwas passiert? Ist alles in Ordnung? Der Herr scheint sich zu sammeln und sagt, immer wieder unterbrochen von einem verlegenen Lächeln: „Diese Dusche ist eine tolle Sache. Um sich das Salz vom Körper zu waschen. Einfach herrlich. Nicht? Wobei ich das Meer an sich, obwohl es voller Salz ist, ja schon sehr mag. Ich meine nicht nur das Baden im Meer. Sondern das Meer an sich. Betrachtet man zum Beispiel die Geschichte der Seefahrt…“

Er setzt gerade an zu erklären, wie die Portugiesen die Hoheit über die Meere erobert haben, als der erste der Wartenden in der Schlange seinen Vortrag unterbricht und ihn fragt, ob er denn nicht neben der Dusche weitererzählen könne, denn er wolle jetzt selbst gerne duschen. Der Mann tritt verlegen zur Seite, als ob er bei etwas sehr Widerwärtigem ertappt worden sei. Er mustert die umstehenden Leute. Hat er Angst, ein Geheimnis von sich preiszugeben? Sein Schrei von vorhin liegt in der Luft.

Unsere Blicke treffen sich. Es ist ein kurzer, aber intensiver Moment. Der Mann zögert. Welche Konsequenzen zieht er aus diesem Moment? Dann stürmt er auf mich zu, packt mich und reißt mich nieder, sodass wir beide auf dem Boden zu liegen kommen.
„Hören Sie!“, sagt er äußerst erregt zu mir. „Das, das geht niemanden etwas an! Niemanden!“
„Was denn?“ frage ich kleinlaut.
„Der Duschkopf!“
Fragende Blicke meinerseits.
„Der Duschkopf machte eben ein sehr komisches Geräusch. Haben Sie es gehört? – Sie müssen es gehört haben!“
Ich getraute mich nicht zu widersprechen.
„Als ich ein kleiner Junge war, hat sich bei einem ähnlichen Geräusch der Duschkopf gelöst und ist mir auf den Kopf gefallen. Es tat höllisch weh. Meine Eltern hatten es nicht gehört, sind erst sehr spät zu mir gekommen. Ich fühlte mich so alleine, so im Stich gelassen.“
Er fängt zu schluchzen an.
Plötzlich wird er wieder ernst, packt mich am Kragen und sagt: „Aber das geht niemanden etwas an. Niemanden!“
Er schaut sich um, richtet sich vorsichtig auf und schleicht davon. Das geht niemanden etwas an! hallt es nach in meinen Ohren.
„Niemanden? Nicht einmal Sie?“ sage ich, aber er ist längst davongegangen und hört mich nicht mehr.

Ich blicke zur Dusche und sehe, dass sie gerade frei ist. Erst einmal abduschen, was ich ohnehin wollte, das ist eine gute Idee, denke ich. Ich stelle mich unter die Dusche und betrachte den Duschkopf. Alles scheint normal. Ich mache das Wasser an. Keinerlei Geräusche. Während das Wasser auf mich prasselt, denke ich: Dem Mann muss geholfen werden! Er muss an die Duschköpfe der Welt wieder herangeführt werden. Und es ist am besten, mit diesem zu beginnen. Ich gehe am Strand umher und suche den Mann. Ich gehe nach hinten, nach vorne, blicke durch alle Reihen. Schließlich finde ich ihn tatsächlich, in einer der versteckteren Ecken. Er blättert in einem Buch über die Geschichte der Seefahrt.
„Kommen Sie!“ sage ich, „ich will Ihnen etwas zeigen.“

Er weigert sich. Ich bleibe hartnäckig, und schließlich kommt er mit. Ich gehe mit ihm zur Dusche. Sie ist frei, keine Schlange davor. Ich stelle mich darunter, mache das Wasser an. Es prasselt auf meinen Körper. Der Mann steht daneben und starrt wie gelähmt auf den Duschkopf. Sein Blick hat etwas Irres, so als sehe er alle Duschköpfe der Welt vor sich, die auf seinen und auf die Köpfe aller seefahrenden Portugiesen knallen. Dann beginnt er, in Schleifen um die Dusche herumzurennen und ruft dabei wie verrückt:
„Duschköpfe beherrschen die Weltmeere! Sie haben die Portugiesen besiegt!“
Er ruft es immer wieder, während er seine Schleifen um die Dusche dreht. Ich spüre Zorn in mir, wahrscheinlich weil mir das alles zu viel wird und ich rufe in seine Schreie hinein:
„Lassen Sie doch die Portugiesen in Frieden! Die geht das nichts an! Es geht um Sie und den kleinen Jungen in Ihnen, der mit den Duschköpfen dieser Welt Frieden schließen soll!“

Er hört mich nicht. Er läuft wie in Trance seine Schleifen. Als ein kleiner Junge seinen Weg kreuzt, stößt er ihn einfach um. Der kleine Junge fängt fürchterlich zu brüllen an. Die Situation scheint völlig zu eskalieren. Dann packen ihn zwei andere Männer und halten ihn fest. Kurz wehrt er sich. Dann fängt er hemmungslos zu weinen an. Dieses Weinen, finde ich, ist das Beste an dieser Geschichte, denn ich hatte das Gefühl, durch die Tränen schien er zu begreifen, dass es ihn sehr wohl etwas angeht, sein Verhältnis zu den Duschköpfen dieser Welt, und dass weder Portugiesen noch sonst wer ihm das abnehmen werden.

Das Wasser prasselt noch immer auf meinen Körper ohne dass ich es merke. So gefesselt bin ich von dieser Szene vor mir. Da berührt mich jemand leicht am Arm und gibt mir zu verstehen, dass er duschen wolle. Für einen kurzen Moment schaue ich die Person verständnislos an über diese banale Bitte in diesem Moment. Dann trete ich zur Seite und sage: „Vorsicht. Duschkopf!“

Was geht mich das jetzt an?

Gedanke und Gedenke

Danke, danke, danke sehr, höre ich die Person sagen. Die Dankesbekundungen nehmen kein Ende, im Gegenteil:

Was für ein nerviges Gedanke, denke ich mir. Doch dies ist offensichtlich ein falscher Gedanke. Denn das Wort Gedanke bezeichnet kein übermäßiges Bedanken (was ich eben für mich als Gedanke bezeichnet hatte), sondern bezeichnet einen, nun ja, einen Gedanken.

Was ist ein Gedanke? (Nein, verschwinde jetzt, Gedanke: Ein Gedanke ist kein übermäßiges Bedanken!) Laut Google ist ein Gedanke ein bestimmter geistiger Inhalt, der als zusammenhängende Einheit gedacht wird. Danke Google, ich danke dir sehr – doch halt: Ich will in kein Gedanke verfallen, das mich bei dieser Person eben so genervt hat.

Ich lese weiter, dass ein Gedanke im Gegensatz zu Wahrnehmung und Intuition als begrifflich aufgefasst wird. Begrifflich! Das ist es ja gerade: Der Begriff Gedanke ist bei mir bereits besetzt, nämlich von übermäßigem Bedanken. Ich brauche einen neuen Begriff für das, was Google als bestimmten geistigen Inhalt bezeichnet.

Allmählich vergeht mir die Lust am Denken, und ich denke: Was soll dieses ganze Gedenke, das dieses Gedanke bei mir ausgelöst hat?

Fakten-Gedicht

Fakten-Gedicht kurrent

Oben liegt der Berg,
unten liegt der See.
Im Winter fällt der Schnee.

Im Sommer scheint die Sonne.
Ohne Sex lebt stets die Nonne.
Doch wenn sie diese Regel bricht –
ist sie dann Nonne oder nicht?

Konsumerlebnis

Ich bin in einer Konsumgesellschaft. Das wurde mir schon oft gesagt. Ich weiß gar nicht von wem, aber von vielen.

Ich bin im Park. Bin ich jetzt in der Konsumgesellschaft? Es gibt keine Geschäfte im Park. Zumindest sehe ich keine, nicht einmal ein fahrendes. Ich sehe und höre keinen Straßenmusiker, dessen Musik ich konsumieren könnte. Im Park bin ich nicht in der Konsumgesellschaft. Wobei – ich konsumiere die Luft, die ich atme. Ich konsumiere die Landschaft mit meinen Augen, meinen Ohren, meiner Nase, meinem ganzen Körper. Fast möchte ich sagen: Man kann nicht nicht konsumieren. Das klingt platt. Ich sage es lieber nicht.

Der Hund jagt die Ente. Fängt er sie, gibt es einen leckeren Happen für ihn und mich. Doch ich bin in einer zivilisierten (Konsum-)Gesellschaft. Es herrscht Jagdverbot. Raus aus dem Park, rein in den Laden. Wenn ich schon nicht nicht konsumieren kann, dann richtig konsumieren. Abgepackte Ente. Fleischstücke unter Plastik. Ich versuche mir das Tier vorzustellen, das einmal war, bevor diese Fleischstücke unter Plastik daraus geworden sind: Die Ente aus dem Park landet im Laden-Hinterhof und wird zu Fleischstücken unter Plastik gemacht. Zu einfach. Die Ente aus der Entenfarm in Niedersachsen fliegt nach München, um hier… nein, zu weit – die Ente aus Niedersachsen wird mit dem LKW nach München transportiert. Tot oder lebendig?

Will ich Ente? Der Hund sieht mich erwartungsvoll an. Ich gehe nachhause und steige dort in mein Auto. Die Idee: Ich fahre zum Bio-Entenhof auf dem Land, um dort eine glückliche Ente zu sehen, die für mich und den Hund geschlachtet wird. Doch bevor ich den Motor starte, fällt mir auf, wieviel ich konsumiere, nur um das Schlachten einer Bio-Ente zu sehen. Ich benutze ein mit viel Energieaufwand hergestelltes Metallgestell auf vier Rädern, dessen Motor mit Treibstoff betrieben wird, der aus Erdöl hergestellt wird, das tief aus der Erde gepumpt werden muss. Ich sitze im Auto, blicke mich um zum Hund und frage ihn, was wir machen sollen. Er blickt erwartungsvoll zurück.

Da fällt mir Rettendes ein: Ich wollte schon lange mal wieder Essen gehen. Ich werde den Abend im Restaurant konsumieren und keine weiteren Fragen stellen. Ich habe Hunger.

Wortlos im Wald (Gegenteile)

Mein Kopf ist voll von Worten. Oder soll ich es einfach nur Buchstabengewirr nennen? Um dem Gewirr zu entrinnen, schnappe ich mir den Hund, stecke uns beide ins Auto und fahre raus. Dorthin, wo sich der Wald kilometerweit erstreckt und die Pfade ihn so kreuz und quer durchziehen, dass man sich leicht verlaufen kann wenn man will.

Wir gehen wortlos durch den Wald. Selbst meine Gedanken will ich wortlos denken, doch ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich geht. Wortlose Gedanken? Zwei, drei Stunden begegnen wir keinem Menschen, der mich zwänge, Worte des Grußes auszusprechen. Nicht einmal einem Schild mit Aufschrift begegnen wir, das ich, unfähig es zu ignorieren, lesen müsste.

Dann sehe ich in einiger Entfernung einen Mann, der unseren Weg kreuzt. Um eine wortreiche Begegnung zu vermeiden, rufe ich Paul, den Hund. Ich rufe: „Hier!“, und während ich dieses Wort rufe, wird mir bewusst, dass ich ein Wort rufe. Ich habe das Wort hier gerufen, das aus vier Buchstaben besteht und zweifelsohne ein Wort ist. Für Paul ist es ein akustisches Symbol herzukommen, doch das soll nicht ablenken von der Tatsache, dass ich meinen Vorsatz des wortlosen Nachmittags im Wald gebrochen habe.

Ich bin plötzlich wieder mittendrin in der Welt der Worte, mit dem Ausruf des Wortes hier. Mir fällt auf, dass man dort als das Gegenteil von hier betrachten kann, und dass beide Wörter aus vier Buchstaben bestehen und so in meinem Kopf eine angenehme Symmetrie bilden. Dann fällt mir das Wort Dortmund ein, und es wundert mich, dass dieses Wort der Name einer Stadt im Ruhrgebiet ist, und dass Dortmund aus vier + vier = acht Buchstaben besteht. Gibt es ein Gegenteil zum Wort Mund? Mir fällt spontan der Anus ein. Das Gegenteil von Dortmund ist somit, nach logischer Schlussfolgerung, Hieranus.

Werden die Anhänger des Fußballvereins Borussia Dortmund, wenn sie dies hier lesen, ihren Konkurrenzverein FC Schalke 04, der ja so etwas wie das Gegenteil ihres Vereins darstellt, fortan FC Hieranus 04 nennen? Mich fasziniert die Zahl 4 im Vereinsnamen von Schalke, denn das bringt mich zurück zu den Wörtern dort, hier, Mund und Anus, die allesamt aus vier Buchstaben bestehen.

„Du Pappnase“, sagt jetzt mein kritisches Eltern-Ich zu mir, „was hast du nur für Gedanken im Kopf?“
„Danke“, sage ich zu meinem kritischen Eltern-Ich, „danke für das Wort Pappnase!“ Es besteht aus vier + vier = acht Buchstaben und reiht sich perfekt in meine bisherigen Überlegungen ein.

Der Mann, den ich gerade gesehen habe, ist weitergegangen und aus meinem Blickfeld verschwunden. „Lauf Paul!“ sage ich, und spüre plötzlich einen Zwang in mir, nur noch Worte mit vier Buchstaben auszusprechen. Dabei wollte ich doch wortlos durch den Wald gehen.

Weiter im Wald: Ich höre Vogelgezwitscher. Das Vogelbuch verrät mir, dass ich einen Stieglitz höre, der als Lockruf ein zweisilbiges, helles Didlitt ertönen lässt. Das ist ein schönes Wort, obwohl es aus sieben und nicht aus vier Buchstaben besteht.

Appe-ndix

Hier soll sehr viel Ruhe sein,
sagt Emil also zuse inem Hund.
Doch wenn derV ogel ruft
dann kann eswe rden laut,
sagt dann sein Hund.