Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Hannibal und Kannibal

eine Ballgeschichte

Hannibal und Kannibal lebten in einem etwas abgeschiedenen Landstrich. Um das Leben der beiden zu verstehen, muss man wissen, dass in diesem Landstrich ein anderes Deutsch gesprochen wurde. Das Wort ich existierte nicht, es wurde lediglich durch den Buchstaben i ausgedrückt. Das Verb haben wurde so konjugiert: I han, du hascht. Weitere Besonderheiten der Sprache in dieser Gegend: Die Bildung von Doppelkonsonanten wich von der im Standarddeutschen ab. Außerdem wurde das Prädikat immer vor das Satzsubjekt gestellt, Artikel und Präpositionen wurden weggelassen. Ein Beispiel: Wollte jemand sagen Ich gehe in das Haus, so sagte er: Geh i Haus.

Die Namen von Hannibal und Kannibal bedeuteten in dieser Sprache also soviel wie Ich habe den Ball und Ich kann mit dem Ball. Kannibal zeigte aus diesem Grund ständig, was er mit dem Ball kann, indem er ihn an Füßen, Schultern und Kopf jonglierte. Hannibal wollte den Ball jedoch haben, sodass er ihn, wenn er während Kannibals Jonglieren in der Luft war, mit seinen Händen schnappte und ihn fest an seinen Körper presste. Kannibal musste sich den Ball also wieder zurückerobern, um zu zeigen, was er mit dem Ball kann. Dabei halfen ihm in der Regel seine subtilen Jonglierfähigkeiten nicht, nein, es half nur rohe Kraft und Gewalt, um Hannibal den Ball wieder zu entreißen.

Eines Morgens, als Hannibal Kannibal den Ball wieder einmal weggeschnappt hatte, während jener mit ihm jongliert hatte, eskalierte der anschließende Kampf um den Ball. Hannibal wollte ihn unbedingt haben und ihn auf keinen Fall mehr hergeben, während Kannibal ihn mit Vehemenz zurückhaben wollte, um zu zeigen, was er mit ihm kann. Zwei Egos prallten unerbittlich aufeinander. Kannibal verfolgte Hannibal, während dieser mit dem Ball davonlief und ihn mit seinen Händen und Armen fest an seinen Körper presste. Als Kannibal Hannibal eingeholt hatte, wälzten sie sich im Staub, aber Hannibal, anders als manches andere Mal, ließ nicht locker und hielt den Ball fest umklammert. Kannibal war sehr zornig darüber, dass er nicht zeigen kann, was er mit dem Ball kann, weil Hannibal ihn nicht hergab. In einer Kurzschlusshandlung biss er Hannibal in die Kehle. Sein Biss war so stark wie sein Zorn (Sein Zorn manifestierte sich also in seinem Biss.): Er tötete Hannibal mit diesem Biss.

Hannibal bäumte sich noch einmal auf und fiel dann leblos zu Boden. Sein Lebenszweck Ich habe den Ball war dem Tod gewichen, und so ließen seine Hände den Ball endlich frei. Kannibal schnappte sich daraufhin den Ball und jonglierte ihn mit Füßen, Schultern und Kopf. Doch dann bemerkte er, dass es ihm gar nicht so viel Spaß macht, zu zeigen, was er mit dem Ball kann, wenn da kein Hannibal ist, der ihm den Ball wegnehmen will. Resigniert setzte er sich auf den Boden neben den leblosen Leib Hannibals. Der Ball kullerte davon. Kannibal langweilte sich. Wer hätte gedacht, dass sein Lebenszweck – zu zeigen, was er mit dem Ball kann – ihn ausgerechnet mit dem Tod Hannibals nicht mehr erfüllen würde. Aus dieser Langeweile heraus begann er, vom Leib des toten Hannibal zu essen. Seitdem ist Kannibal als Menschenfresser in Erinnerung geblieben, dabei ist er doch vor allem der gewesen, der mit dem Ball kann.

Pilip und Filif Otto

Ein ehemaliger Schulkamerad von mir heißt Pilip Otto. Seine Zwillingsschwester war auch in meiner Klasse, sie heißt Filif Otto. Während meiner ganzen Schulzeit fand ich die Namen der beiden etwas eigenartig. Ich habe sie aber nie gefragt, warum sie heißen wie sie heißen, sondern habe es einfach so hingenommen.

Neulich habe ich Pilip getroffen und ihn endlich gefragt, warum er und seine Schwester denn so heißen, wie sie heißen. Pilip redete gleich bereitwillig drauf los, meinte, das sei eine gute Frage. Er habe sich das selbst schon früh gefragt, als Teenager, und seine Eltern darauf angesprochen. Sie hätten lange gezögert, mit der Wahrheit über seinen und dem Namen seiner Schwester herauszurücken, so als schämten sie sich dafür, aber er blieb hartnäckig. Nun wisse er alles darüber, warum er und seine Schwester heißen, wie sie heißen.

„Also, das war so“, begann er: „Meine Eltern, so haben sie es mir erzählt, hatten beide schon früh, unabhängig voneinander, ein großes Faible für den Namen Philipp. Als sie sich kennenlernten und ihre gemeinsame Vorliebe entdeckten, wurde daraus eine Leidenschaft. Sie haben sich stundenlang damit unterhalten, sich gegenseitig den Namen Philipp zuzurufen. Sogar beim Sex, sagten sie, hätten sie ihre Lust gesteigert, indem sie immer wieder Philipp zueinander sagten. Sie wünschten sich folglich nichts sehnlicher als einen Sohn, den sie Philipp nennen können. Als meine Mutter schwanger wurde, waren sie sehr aufgeregt und hofften innigst, sie würde einen Sohn gebären, den sie dann Philipp nennen könnten. Mit Fortschreiten der Schwangerschaft stellte sich heraus, dass nicht ein Kind im Leib meiner Mutter heranwächst, sondern zwei. Meine Eltern waren – nun ja – nicht enttäuscht, aber doch geknickt. Wenn eines der Kinder ein Junge werden würde, den sie Philipp nennen, wie sollten sie das zweite Kind nennen? Jeder andere Name als Philipp wäre nur ein Abklatsch, so groß war die Leidenschaft meiner Eltern für den Namen Philipp. Das zweite Kind, das nicht Philipp heißen würde, wäre auf ewig der Außenseiter, der weniger Geliebte. Als sich herausstellte, dass höchstwahrscheinlich ein Mädchen und ein Junge im Leib meiner Mutter heranwachsen, nämlich meine Schwester und ich, überlegten meine Eltern kurzzeitig, uns Philipp und Philippine zu nennen. Diese Idee haben sie aber schnell verworfen, denn, so sagte mein Vater, Freunde von ihnen hatten damals ihre gemischten Zwillinge Clemens und Clementine genannt, was sowohl ihm als auch meiner Mutter nicht gefiel.

Was also tun? Sie verfielen in zunehmende Ratlosigkeit, je größer der Bauch meiner Mutter wurde. Als sie eines Abends wieder zusammensaßen und darüber sinnierten, wie sie denn ihre Kinder nun nennen könnten, fiel ihnen auf, dass ihre eigenen Vornamen beide Palindrome sind, also Wörter, die vorwärts wie rückwärts gelesen identisch sind: Meine Mutter heißt Anna und mein Vater Otto. Sie waren begeistert von dieser Tatsache und fanden beide, dass es schön wäre, die Tradition der Palindrome in der Familie aufrechtzuerhalten.

Nun standen sie jedoch vor einem neuen Problem. Sie fanden keine Palindrome für Namen außer Anna und Otto. Meine Schwester und mich wieder Anna und Otto zu nennen kam vor allem für meinen Vater nicht in Frage. Unser Familienname ist Otto, also heißt mein Vater Otto Otto, was ihn schon sein ganzes Leben lang sehr belastet, so sehr, dass er ständig auf psychologische Hilfe angewiesen ist. Diese Belastung wollte er mir, seinem Sohn, nicht weitergeben. Meine Eltern kamen also nicht weiter bei der Namensfindung.

Als meine Mutter einige Tage später erneut bitterlich darüber klagte, dass sie nicht einen Sohn gebären würde, den sie dann Philipp nennen könnte, sondern auch eine Tochter, hatte mein Vater eine Idee: Philipp sei ja, vom Schriftbild her, beinahe ein Palindrom – Philipp rückwärts ist Ppilihp. Da müsste doch was zu machen sein. Nach längerem Herumtüfteln beschlossen sie, mich palindromgerecht Pilip zu nennen. Was für eine Freude!

Blieb immer noch das Problem, wie sie meine Schwester nennen sollten. Da hatte meine Mutter die rettende Idee: Den Jungen werden wir rufen, wie man ihn schreibt, also zweimal mit P – Pilip. Damit das gesprochene F aus Philipp nicht verloren geht, nennen wir das Mädchen Filif – so haben wir es doppelt verankert.

Und genauso haben es meine Eltern dann gemacht, als meine Schwester und ich auf die Welt kamen.“

Pilip Otto schaute mich an und ich schaute ihn an. Wir schwiegen. Er hatte mir erklärt, warum er und seine Schwester so heißen wie sie heißen, nämlich Pilip und Filif Otto, und das war es ja, was ich ihn gefragt hatte. Es gab nichts mehr zu besprechen, alles war gesagt.

Die Liebe unter der alten Linde

Ich zögerte in zweierlei Hinsicht. Zuerst zögerte ich, die Geschichte Vorderbrandners zu meiner Geschichte zu machen. Dann, als ich die Geschichte Vorderbrandners zu meiner gemacht hatte, zögerte ich, sie noch einmal – als meine Geschichte – zu erzählen. Da mein Zögern jeweils der Aktion wich, hier eine Zusammenfassung der Ereignisse:

Es war der Vormittag nach einer sehr stürmischen Nacht. Der Wind hatte sich gelegt, der Regen war abgezogen. Es herrschte Ruhe nach dem Sturm. Die Sonne bestrahlte diese Ruhe. Ein Freund hatte mir geschrieben, dass der Maibaum in seinem Garten, nach einem langen, erfüllten Leben von über fünf Maibaum-Jahren, nach kurzer schwerer Morschheit, wie er sagte, einer Sturmböe zum Opfer gefallen ist und nicht mehr unter uns weilt. Sehr in Sorge fuhr ich daraufhin in den Park, um der alten Linde einen Besuch abzustatten. Würde sie noch dastehen, stolz wie eh und je, allein auf weiter Flur, oder hatte der Sturm einige ihrer weit ausladenden Äste von ihr gerupft? Hatte sie gar ein ähnliches Schicksal wie den Maibaum ereilt, und sie weilt auch nicht mehr unter uns? Musste ich mich darauf vorbereiten, auch von ihr Abschied zu nehmen? Unter schlimmsten Befürchtungen und mit zittrigen Beinen trat ich in die Pedale meines Fahrrads, das mich zur Lindenwiese führte.

Als ich auf die Wiese kam, stand sie da, die alte Linde, stolz wie eh und je, ihre Blätter im Sonnenschein wiegend. Erleichtert und erfreut lief ich unter ihren Schatten. Ich lehnte mich an ihren Stamm, fühlte mich glücklich und zufrieden wie einst Perserkönig Serse unter der Platane und breitete meine Arme aus. Ich sah zu den Blättern hoch, die wie zartklingende Saiten von Violinen im Wind säuselten, und begann zu singen:

Ombra mai fu
di vegetabile
cara ed amabile
soave più.

(Nie war der Schatten
einer Pflanze
lieblicher angenehmer
süßer.)

Ich war in einer Hochstimmung. Ich wusste nicht, ob ich jemals etwas anderes auf dieser Welt würde lieben können als die alte Linde.

Doch ich wurde jäh aus meiner Hochstimmung gerissen – vom Gekläffe eines kleinen Hundes. Ich wurde so dermaßen aus meiner Hochstimmung gerissen, dass ich in meiner Verzweiflung das Gekläffe des kleinen Hundes zu imitieren begann.

„Hören Sie auf, Sie Spinner!“ rief der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes zu mir herüber, während der kleine Hund ohne Pause weiterkläffte.

„Wieso soll ich aufhören?“ rief ich zurück: „Ihr Hund macht genauso. Zu ihm sagen Sie auch nicht, er soll aufhören!“

Mit einer abfälligen Handbewegung wandte sich der Hundebesitzer von mir ab. Da fiel mir die Geschichte Vorderbrandners ein, die ich vor einigen Wochen erzählt habe. Ich zögerte kurz – und beschloss dann, sie zu meiner zu machen: Ich ging zum Besitzer des kleinen kläffenden Hundes und fragte, ob er einen Kotbeutel für mich hätte. Mit seinem bereits arg strapazierten Nervenkostüm verneinte er dies. Ich fragte ihn, ob er, wenn sein Hund sein Geschäft macht, das einfach liegenlassen würde? Ich vernahm nur ein Brummen von ihm, sodass ich beschloss, zur Dramaturgie der Vorderbrandner-Geschichte zurückzukehren:

„Wissen Sie“, sagte ich weiter, bereits in die heiße Phase der Geschichte kommend, „ich müsste dringend mal, und da dachte ich, ich könnte den Kot, den ich dabei ausscheide, mit Ihrer Tüte aufsammeln. So könnten Sie ihn gleich mitnehmen.“

„Sie spinnen ja, Sie spinnen ja!“ rief der Mann agitiert, nervös den Stock werfend, um seinen kläffenden Hund für ein paar Sekunden zu sedieren. Da kam eine Frau mit ihrem Hund den Weg entlang. Kurzerhand fragte ich sie, ob sie einen Kotbeutel für mich hätte. Der Besitzer des Kläffers funkte sofort dazwischen und sagte: „Geben’S ihm nix! Der spinnt! Der möchte hier hinmachen!“ Mit Bemühungen, die ich als manisch wahrnahm, zerrte er die Frau auf seine Seite. Ich konnte aus seinem Verhalten nur schließen, dass er in mir das Böse und Bedrohliche der Welt komprimiert sah, gegen das er sich und die Frau schützen musste. Er steigerte sich in einen regelrechten Wahn, sodass ich erkennen musste, dass meine ursprüngliche Anfrage, nämlich einen Kotbeutel zu erhalten, wohl bis auf weiteres unbeantwortet bleiben würde. Ich sagte also, dass ich mein Bedürfnis noch ein Weilchen unterdrücken kann und etwas später wieder komme, um nach einem Kotbeutel zu fragen. Meine Aussage ging in den Agitationen des Mannes unter, der nach wie vor wie besessen auf die Frau einredete. Bahnte sich hier eine Liebesgeschichte an nach dem Motto: Hunderlherrln geselln sich gern? Sogar seinen Hund vergaß der Mann in seinem Liebeswerben, der laut kläffend nach seinem Stock verlangte.

Ich zog mich währenddessen wieder unter den Schatten der Linde zurück, wo gerade ein anderer Hund deren Stamm markierte. Spontan wollte ich selbiges tun, zögerte aber und widerstand der Aktion, meine Blase zu entleeren, mit folgender Überlegung: Wenn ich den Stamm der Linde markiere, werden dadurch sicher viele andere Menschenmännchen angelockt und markieren ebenfalls. Das will ich dem alten Baum nicht antun. Hohe Nitratbelastungen sind im fortgeschrittenen Baumalter nicht gut. Und ich will gut zur Linde sein, liebe ich sie doch über alles!

Ich lehnte mich wieder an ihren den Stamm und sah, dass sich etwas entfernt eine ganze Traube von Hundebesitzern gebildet hatte, mitten unter ihnen der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes. Aus seinen wilden Handbewegungen folgerte ich, dass er einen Vortrag über das Böse und Bedrohliche der Welt hielt. Ich war indessen froh über die alte Linde, die den Sturm so prächtig überstanden hatte, und sang nochmals ein Lied für sie, was den Besitzer des kleinen kläffenden Hundes, so sah ich im Augenwinkel, aber nicht besänftigte, im Gegenteil: Er redete noch eindringlicher auf die um ihn versammelte Schar ein.

Damit sollte die Geschichte erzählt sein, all meinem Zögern zum Trotz.

Deutschland, 2039 – ein Bericht

Die Bevölkerung leidet an akuter Erschöpfung. Auch neue Konsumimpulse, noch von der alten Regierung verordnet, reissen die Bevölkerung nicht aus ihrer Lethargie. Das Wirtschaftssystem ist am Zusammenbrechen, weil nur mehr das Nötige gekauft wird, nicht aber das Unnötige, was aber so dringend nötig wäre für eine Konjunkturbelebung.

Das noch größere Problem ist jedoch, dass die Leute offensichtlich auch die Lust am Sex verloren haben. Es werden kaum mehr Kinder geboren. Zentren künstlicher Befruchtung, die mit ihren Angeboten ebenfalls einen Teil zur Konjunkturbelebung beitragen sollen, melden stark rückläufige Klientenzahlen.

Mittlerweile haben militante Sozialaktivisten die Macht übernommen. Sie versprechen, die Menschen wieder in ihre Energie zu führen. Da die sexuelle Energie die stärkste Energie ist, wird als erstes an diesem Hebel angesetzt. Wir bedauern, dass wir die Menschen zum gemeinsamen Sex zwingen müssen, aber wir sehen keine andere Möglichkeit als Zwang auszuüben, denn die Menschen haben verlernt, gemeinsam Sex zu haben, sich aufeinander einzulassen. Sie haben nur mehr alleine Sex, mit technischen Hilfsmitteln, so eine Sprecherin der neuen Machthaber.

Als erstes wurde das sogenannte Sexualitätssozialkontrollgesetz verabschiedet. Das Gesetz schreibt unter anderem vor, dass in keiner Wohnung mehr die Vorhänge geschlossen werden dürfen. So soll ermöglicht werden, eine bessere soziale Kontrolle über sexuelle Aktivitäten zu erhalten. Sexuelle Aktivitäten an öffentlichen Plätzen sind nach diesem Gesetz ausdrücklich erwünscht, mit der Einschränkung, dass dadurch das öffentliche Leben in seinem Ablauf nicht empfindlich gestört werden darf. Ein Beispiel für eine solche empfindliche Störung sei, Sex mitten auf der Straße zu haben, sodass der Verkehr nicht mehr fließen kann, erläuterte die Sprecherin der neuen Regierung der Sozialaktivisten.

Die katholische Kirche, mittlerweile eine gesellschaftliche Randgruppe aus dem konservativen Spektrum, protestiert aufs heftigste gegen dieses neue Gesetz. Jahrhundertelang erkämpfte Werte des Abendlandes würden dadurch endgültig ausgelöscht, ein Verfall der Sitten halte Einzug. Die katholische Kirche proklamiert traditionell eine Verbannung sexuellen Lebens aus dem öffentlichen Raum. Ihre männlichen Eliten praktizieren stattdessen Sex mit jungen Knaben hinter verschlossenen Türen. Sie ist deshalb naturgemäß einer der schärfsten Kritiker des neuen Regierungskurses und des neuen Sexualitätssozialkontrollgesetzes.

Die neue Gesetzgebung stellt einen drastischen Einschnitt in das bisherige Leben der Menschen dar. Gespannt wartete man daher auf erste Erfahrungsberichte aus der Bevölkerung. Ein junges Paar, das vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes nur über das Internet gelegentlich sexuellen Austausch hatte, also eine übliche virtuelle Partnerschaft unserer Tage unterhielt, berichtet, dass es aufgrund des Sexualitätssozialkontrollgesetzes beschlossen habe, sich physisch zu treffen. Anfangs war es komisch, nebeneinander dazuliegen bei offenem Fenster oder auch im Park, berichten sie. Sie hatten das Gefühl, das befördere eher die Lethargie. Sie konnten nichts anfangen mit der Nähe ihrer Körper. Sie wollten sich Alkohol reinziehen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos. Doch dann haben sie irgendwann angefangen, sich zu berühren, sich zu spüren. Es war schön, sagen sie, auch, weil sie nicht aufhören mussten, obwohl sie mitten im Park waren. Das Gesetz gab ihnen guten Rückhalt. Sie konnten sich ihrer Lust hingeben, hier und jetzt. Sie mussten nicht nachhause gehen, wie früher, wo die Lust dann oft verflogen war in den engen vier Wänden und sie sich Alkohol reinzogen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos, um wieder Lust zu bekommen.

Von Regierungsseite heißt es, man hoffe, dass das Beispiel dieses Paares Schule macht und solche Berichte andere Menschen aus ihrer Erschöpfung und Lethargie reissen. Während die Hersteller von Alkoholika und Pornos aufs schärfste vor diesen Entwicklungen warnen.

Mister von Beruf

Als Entwicklungsingenieur für Verbrennungsmotoren, Fachbereich Dieselaggregate, habe ich gestern noch im Betriebschor – zur Hebung der Arbeitsmoral – Danke für meine Arbeitsstelle gesungen. Heute bin ich mit einem eigens bereitgestellten Bus unterwegs zur Agentur für Arbeit, da eine Restrukturierung leider die Kündigung einer ganzen Busladung von Personen notwendig gemacht hat.

Um bald wieder dankend im Chor der Beschäftigten singen zu können, blättere ich in der Agentur eine Broschüre durch, in der es um alternative Berufsfelder geht. Dabei fällt mir der Beruf des Misters auf. Es steht geschrieben:

Mister sind überwiegend in landwirtschaftlichen Betrieben tätig und auf die Beschäftigung mit Mist spezialisiert. Meist beschäftigt sich ein Mister mit Mistlogistik, also mit Fragen wie: Wo wird der Mist erzeugt? Wo soll er kompostiert werden? Wie wird seine Weiterverwendung garantiert und effizient ermöglicht? Bei diesen Fragestellungen reicht das Aufgabengebiet eines Misters heutzutage weit über den traditionellen Misthaufen hinaus.

Neueste Entwicklungen haben das Aufgabenfeld eines Misters über logistische Fragestellungen hinaus erweitert. Der Mister ist heute oft auch an der Gesundheits- und Nahrungssteuerung der misterzeugenden Tiere beteiligt, indem er den Mist untersucht und daraus wertvolle Rückschlüsse auf die Gesundheit der Tiere zieht. Er kann über den Mist feststellen, wie sich die Tiere ernährt haben und wertvolle Hinweise geben, ob die Ernährung beibehalten oder eventuell geändert werden soll.

In sehr großen landwirtschaftlichen Betrieben gibt es innerhalb des Berufsfelds des Misters noch weitere Spezialisierungen, wie etwa den Schweinemister oder den Kuhmister. Äußerst begehrt sind Stellen als Rossmister in Reitställen, da der Rossmist traditionell als hochwertigster Mist gilt. Der Umgang mit ihm geht daher mit einer entsprechenden Reputation einher.

Da der Beruf des Misters gegenwärtig ungemein populär ist, bezeichnen städtische Verwaltungen, die Mitarbeiter für Kanalisation und Abfallentsorgung suchen, diese neuerdings als Menschenmister. So vereint der Beruf des Misters Tradition und Moderne und bietet viele Entwicklungsmöglichkeiten.

Lostopfavorit

„Bitte keine Wortwiederholungen im Text!“ predigte der Deutschlehrer im Unterricht.

Felix begann daraufhin seinen Text vorzulesen: Aus dem Lostopf wurde der Gefäßavorit gezogen…

„Stopp Felix!“ rief der Lehrer: „Was ist denn ein Gefäßavorit?“

„Weiß ich nicht.“

„Wieso verwendest du dieses Wort dann in deinem Text?“

„Weil Sie gesagt haben, wir sollen Wortwiederholungen vermeiden.“

„Was hat denn das damit zu tun?“

„Ich wollte nicht zweimal Topf schreiben. Aber wenn Ihnen das lieber ist, bitte schön!“ Felix begann erneut, seinen Text vorzulesen: Aus dem Lostopf wurde der Topfavorit gezogen…

Kommst du mit in den Alltag?

Auf einmal hat sie gesagt: Ich verlasse diese Stadt. Dieser Satz überschritt meinen Möglichkeitsraum. Ich bin daraufhin auf mein Fahrrad gesprungen und kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Diese Stadt verlassen? Ich habe bitterlich geweint auf meinem Fahrrad, weil ich mir das nicht vorstellen konnte. Verlassen! Verlassen! Das war alles, was ich dachte. Ich bin immer kräftiger in die Pedale getreten. Ich spürte Nässe, ja natürlich, ich erinnere mich, es begann zu regnen. Ich bin weitergefahren, immer schneller, durch die Nässe. Muss ich diese Stadt jetzt auch verlassen wollen, um nicht von ihr verlassen zu werden? Ich will diese Stadt nicht verlassen!

Weißt du noch, rief ich, als wir auf der Wiese unter der alten Linde saßen, am anderen Ende die weidenden Schafe. Der Wind bewegte die grünen Blätter an den Bäumen und die weißen Wolken am Himmel. Im Hintergrund war das Brummen der Stadt zu hören. Weißt du das noch? rief ich durch den Regen.

Erschöpft kam ich in der Straße an und sah ihr Fahrrad im Regen stehen. Ich stellte mir vor, wie sie zufrieden mit ihrem Fahrrad durch diese Stadt fährt, durch unsere Stadt. Hier im Regen, bei ihrem Fahrrad, hier spielen also meine Träume. Wo ihre spielen weiß ich nicht. Haben wir zuviel geträumt? Morgen wird ein neuer Tag sein, die Sonne wird aufgehen, das Wunder wird von neuem beginnen, wie immer, ganz banal, ohne Träumerei.

Ich hörte die Musik nach draußen dringen. Ich ging hinein. Es war angenehm, im Trockenen zu sein, nach all dem Regen. Zu meinem Erstaunen viele Leute um mich. Zu meinem Erstaunen mein Blick zielsicher in die Ecke streifend, in der sie stand. Ich ging zu ihr und wir sahen uns tief in die Augen. Weißt du noch, wollte ich sagen, als wir auf der Wiese… – aber ich sagte nichts. Wir gehören doch zusammen! dachte ich sehr laut und ungestüm, aber auch das sagte ich nicht.

Sie sagte auch nichts, und sagte mir damit: Meine Träume sind woanders, wo auch immer, aber nicht hier. Sie schob mich beiseite und ging. Ich sank zu Boden, bis ich ausgestreckt auf dem Boden lag. Stille. Dann stimmten die Musiker auf der Bühne ein neues Lied an. Ich spürte plötzlich Hände an mir, Hände, die mich in die Höhe hoben. Ich wogte auf den Händen durch den Raum, im Rhythmus der Musik, und träumte von einem Alltag mit ihr.

Ist das alles was das Leben fragt: Kommst du mit in den Alltag?

Das Erzeugen des Erzengel Eugen

Michael, Gabriel und Raphael hatten sich längere Zeit nicht gesehen. Es war so ungewohnt für sie, sich wieder zu sehen, dass sie nicht wussten, was sie sagen sollten und schweigend am Tisch saßen.

Michael dachte an Erzengel. Er sprach diesen Gedanken aus und unterbrach damit das Schweigen.

„Wieso denkst du an Erzengel?“ fragte Gabriel.

„Weiß nicht… Ich glaube, die sind auch zu dritt – wie wir.“

„Stimmt!“ sagte Gabriel: „Michael, Gabriel und Raphael – die heißen auch noch wie wir!“

„Falsch: Es sind vier!“ sagte Raphael. „Ihr habt Uriel vergessen!“

„Moment!“, sagte Michael: „Ich habe ganz falsch gedacht. Es gibt nicht nur drei oder vier Erzengel. Es gibt noch mehr Erzengel als Michael, Gabriel, Raphael und Uriel. Jetzt erinnere ich mich, dass ich mal gelesen habe, dass es zwölf Erzengel gibt!“

„Schade, nur zwölf. Gibt es nicht noch einen? Meine Lieblingszahl ist nämlich die Dreizehn!“ meinte Raphael.

„Wir können einfach noch einen erzeugen“, schlug Gabriel vor, „und nennen ihn den Erzengel Eugen.“

So hatte sich aus dem anfänglichen Schweigen bei ihrem Wiedersehen eine muntere Konversation zwischen Michael, Gabriel und Raphael entwickelt, die einen ersten Höhepunkt mit dem Erzeugen des Erzengel Eugen erlebte.

Endgültige, fundierte Klärung der Anzahl der Erzengel

Von Hunden, Besitzern und Bedürfnissen

Manchmal habe ich das Gefühl, Vorderbrandner besser zu kennen als mich selbst. Das kommt wahrscheinlich daher, dass ich durch Vorderbrandner mich selbst besser kennen lerne. Vorderbrandner trägt eine Art heiligen Zorn in sich, der sich von Zeit zu Zeit in Provokationen gegenüber Menschen entlädt, die gerade in seiner Nähe sind.

Wir waren im Park. Ich erzählte Vorderbrandner von meinem Entschluss, künftig keine Sonnencremes unter Lichtschutzfaktor 30 mehr zu verwenden. Vermutlich langweilten Vorderbrandner meine Ausführungen, denn ich spürte, wie ich seine Aufmerksamkeit verlor. Jedenfalls sprach Vorderbrandner unvermittelt einen uns entgegenkommenden Hundebesitzer an und fragte ihn, ob er Kotbeutel für seinen Hund dabei hat und ob er ihm einen abgeben könne. Der Hundebesitzer bejahte, gab Vorderbrandner einen Beutel und wollte weitergehen.

„Nein, warten Sie!“ sagte Vorderbrandner. „Ich werde gleich kacken und Ihnen den gefüllten Beutel wieder mitgeben!“ Der Hundebesitzer blickte irritiert, während Vorderbrandner seine Hosen runterzog und sich in Hockstellung begab.

„Sie werden doch nicht allen Ernstes hier hinmachen!“ rief der Hundebesitzer empört.

„Wieso denn nicht? Ihr Hund macht das doch auch! Seien Sie unbesorgt. Ich habe ausgewogen gegessen und fühle mich gut. Es wird keine Durchfallsauerei geben!“ Vorderbrandner drückte eine Wurst von mittelfester Konsistenz aus seinem Darm, die ins Gras fiel. Ein Stuhl, den jeder Arzt wohlwollend betrachten würde, weil er von gutem Stoffwechsel und Gesundheit zeugt.

Der Hundebesitzer wandte sich ab, rief seinen Hund und wollte weitergehen. Doch sein Hund kam nicht, was ihn zum Verweilen zwang. Auf der Wiese neben uns scheuchte ein großer Afghanischer Windhund in flottem Tempo Krähen aus dem Gras. An der Gestik des Hundebesitzers konnte ich erkennen, dass es sein Hund war.

Afghane beim Krähenscheuchen

Als der Windhund endlich auf die Rufe seines Besitzers hörte und zu diesem kam, hatte Vorderbrandner sein produziertes Häufchen in den Beutel eingetütet, das Taschentuch, mit dem er sich abgewischt hatte, dazugeworfen, und den Beutel mit einem Knoten verschlossen. Der Hundebesitzer hatte sich bereits einige Schritte entfernt. Vorderbrandner lief ihm nach und wollte ihm den Beutel überreichen. Der Hundebesitzer ignorierte Vorderbrandner, doch Vorderbrandner ließ nicht locker, sodass der Hundebesitzer schließlich entnervt stehenblieb, sich zu ihm wandte und sagte: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihre Scheiße entsorge!“

„Doch, das glaube ich! Sie entsorgen doch die Scheiße Ihres Hundes auch. So groß wie der ist, glaube ich nicht, dass seine Scheiße leichter und weniger geruchsintensiv ist als meine.“

„Lassen Sie mich in Frieden!“ rief der Hundebesitzer, während sein Afghane schon wieder in vollem Tempo die Krähen im Gras scheuchte. In diesem Moment schlug Vorderbrandners Provokationslust in Zorn um, und er schrie erbost: „Du elender, hundebesitzender, tierquälender Stadtneurotiker, der seinen Hund mit seinen Neurosen zuscheißt und als Dank dessen Scheiße im Beutel herumträgt! Glaub ja nicht, dass ich dir jemals einen Beutel leihe, wenn du dringend kacken musst! Gib deinen entarteten, ungehaltenen, neurotisierten Köter sofort an die Leine, sonst ruf ich die Polizei!“

Während der Hundebesitzer unbeirrt, ohne sich noch einmal umzudrehen, sich von uns entfernte, sein Afghane es aufgab, die erbosten Krähen zu scheuchen und ihm nachlief, ritten in unserer Nähe zwei Polizisten auf Pferden vorbei. Vorderbrandner rief sie entgegen seiner Ankündigung nicht. Stattdessen ging er mit seinem Beutel in der Hand zum Bach, um sich dort zu waschen. Ich folgte ihm. Als ich ihn erreicht hatte, drehte er sich um und sagte: „Ich verwende gar keine Sonnencremes. Ich habe das Gefühl, dass ich mit diesem Zeug nur meine Haut malträtiere.“

João Baptista und der Krieg am See

Dass ich mir diesen Wunsch erfülle, wieder einmal an den See zu fahren, darüber bin ich glücklich. Ich gehe den Weg am Waldrand entlang, der mich zum See führen wird. Nach einer kleinen Biegung um Gesträuch herum blicke ich nach vorn – und sehe am Weg, ganz eindeutig: Henriette. Henriette! Dass ich bei meinem Ausflug an den See ausgerechnet Henriette treffe, darüber bin ich nicht so glücklich.

Ich sollte erklären, warum ich so gern an den See fahre: Ich fahre an den See, um meinen inneren Frieden zu finden, und hoffe, dabei auf Gleichgesinnte zu treffen. Henriette habe ich als eine Person in Erinnerung, die ihren inneren Krieg in die Welt projiziert und dieser Welt ihren Unmut darüber kundtut. Also als eine Andersgesinnte.

Sie gehen sehr langsam vor mir, Henriette und ihr dunkelhaariger Begleiter. Meine Schritte werden ebenfalls langsamer und ich überlege, ob ich umkehren soll; ob ich im Wald verschwinden soll. Ob ich irgendetwas tun soll, um ein Treffen zu vermeiden. In diesem Moment dreht sich Henriette um, unsere Blicke treffen sich. Zu spät für eine Flucht. Sie und ihr Begleiter bleiben stehen. Ich schreite dem Unentrinnbaren entgegen. Während mein Körper sehr steif wird und meine Beine sehr schwer, spüre ich, wie mein innerer Frieden in eine heftige Schieflage gerät, ja mehr noch, wie sich Krieg in mir ausbreitet.

„Emil, grüß dich!“ sagt Henriette. Ich kenne die Süße in dieser Stimme, die die darunterliegende Aggression verbergen soll, ohne es zu schaffen. Sie zeigt auf ihren Begleiter: „Das ist João Baptista, mein Freund“. João Baptista ist sehr muskulös, wirkt gleichzeitig aber sehr eingeschüchtert. Ohne nachzufragen und weiter darüber nachzudenken, ordne ich ihn als Brasilianer ein.

Ich gehe mit Henriette und João Baptista weiter den Waldpfad entlang zum See. Henriettes Erscheinung ist die einer militanten Grünen, die ihre Umwelt vergewaltigen will. Ihre sackigen Gewänder, mit denen sie sich kleidet, wirken wie eine Waffe, die jederzeit den Tod durch Ersticken herbeiführen kann. João Baptista scheint sich dieser Gewalt widerstandslos zu unterwerfen und sich devot seiner schleichenden Erstickung hinzugeben. Ich stelle mir seine Wirklichkeit so vor: Alle Frauen sind Huren, seine Mutter ist eine Heilige. Da seine Mutter weit weg in Brasilien ist, ist Henriette seine deutsche Ersatzmutter. Ich spüre, wie der Krieg in mir tobt. Dabei bin ich an den See gefahren, um meinen inneren Frieden zu finden.

An der Wiese am See angekommen, breitet Henriette eine Decke aus, auf die sie und ich mich setzen, während João Baptista neben uns im Gras stehen bleibt. Ich bin irritiert und frage Henriette, warum er stehenbleibt und sich nicht zu uns setzt.

„In Brasilien stehen die Männer am Strand immer. Sich zu setzen ist ein Zeichen von Schwäche, von Weichheit.“

„Erstens sind wir nicht in Brasilien, zweitens will ich nicht als Schwächling gelten, nur weil ich mich ins Gras setze!“ sage ich etwas ungehalten. Der Krieg in mir wird heftiger. Mir wird heiß. Ich ziehe mein Shirt aus und lege mich auf den Bauch, um mich zu beruhigen. Als ich auf dem Bauch liegend zu João Baptista aufschaue, bemerke ich Entsetzen in seinen Augen. Er geht hastig einige Meter weg von uns, bleibt dann wie angewurzelt stehen und blickt demonstrativ in die andere Richtung.

„Was hat er denn jetzt?“ frage ich genervt.

Henriette beugt sich zu mir: „Wenn sich in Brasilien ein Mann öffentlich auf den Bauch legt, ist das ein eindeutiges Zeichen, dass er schwul ist. Deshalb ist er irritiert.“

Ich spüre plötzlich eine starke Solidarität mit den Schwächlingen und Schwulen dieser Welt, obwohl ich bis eben noch nicht wusste, dass ich mich diesen Gruppen besonders zugeneigt fühle. Der Krieg ist jetzt endgültig in mir ausgebrochen und bahnt sich einen Weg nach draußen. Ich stehe auf, reisse mir die Hose vom Leib und renne zu João Baptista. Ich tanze nackt um ihn herum, mit heftigen Hüftbewegungen. Dazwischen werfe ich mich vor ihm auf den Boden. Ich strenge mich an bis aufs äußerste, um ihm ein schwuler Schwächling zu sein. João Bapista bleibt während meiner Performance wie angewurzelt stehen, mit starrem Blick. Schickt er Stoßgebete zu seiner Mama nach Brasilien, während die männliche Hure schlimmer als in seinen Albträumen um ihn tanzt?

Ich remple ihn an, rufe: „Sag was, du verklemmter Kraftprotz!“ Er bleibt stoisch stehen. Ich pralle an seinen Muskeln ab. Ich spüre, dass ich diesen Krieg nicht gewinnen kann. Es bedarf einer Abkühlung der Fronten. Ich laufe zur Decke, zu Henriette, sage: „Henriette, zieh dich aus, geh baden mit mir!“

„Aber doch nicht nackt!“

„Doch, nackt! Entblöße dich, zeige dich der Welt, und die Welt wird sich dir zeigen, schöner als du es dir jemals vorstellen konntest!“ Ich laufe mit Freudengeschrei zum Wasser und tauche ein ins kühle Nass. Ich stelle mir vor, wie Henriette ihr sackiges Kriegsgewand über ihren Kopf stülpt und mir nachläuft.

Beim Auftauchen rufe ich: „Der Krieg ist aus, es lebe der Friede!“ und sehe, wie Henriette hastig die Decke zusammenfaltet, um mit João Baptista die Wiese zu verlassen.