Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Von Hunden, Besitzern und Bedürfnissen

Manchmal habe ich das Gefühl, Vorderbrandner besser zu kennen als mich selbst. Das kommt wahrscheinlich daher, dass ich durch Vorderbrandner mich selbst besser kennen lerne. Vorderbrandner trägt eine Art heiligen Zorn in sich, der sich von Zeit zu Zeit in Provokationen gegenüber Menschen entlädt, die gerade in seiner Nähe sind.

Wir waren im Park. Ich erzählte Vorderbrandner von meinem Entschluss, künftig keine Sonnencremes unter Lichtschutzfaktor 30 mehr zu verwenden. Vermutlich langweilten Vorderbrandner meine Ausführungen, denn ich spürte, wie ich seine Aufmerksamkeit verlor. Jedenfalls sprach Vorderbrandner unvermittelt einen uns entgegenkommenden Hundebesitzer an und fragte ihn, ob er Kotbeutel für seinen Hund dabei hat und ob er ihm einen abgeben könne. Der Hundebesitzer bejahte, gab Vorderbrandner einen Beutel und wollte weitergehen.

„Nein, warten Sie!“ sagte Vorderbrandner. „Ich werde gleich kacken und Ihnen den gefüllten Beutel wieder mitgeben!“ Der Hundebesitzer blickte irritiert, während Vorderbrandner seine Hosen runterzog und sich in Hockstellung begab.

„Sie werden doch nicht allen Ernstes hier hinmachen!“ rief der Hundebesitzer empört.

„Wieso denn nicht? Ihr Hund macht das doch auch! Seien Sie unbesorgt. Ich habe ausgewogen gegessen und fühle mich gut. Es wird keine Durchfallsauerei geben!“ Vorderbrandner drückte eine Wurst von mittelfester Konsistenz aus seinem Darm, die ins Gras fiel. Ein Stuhl, den jeder Arzt wohlwollend betrachten würde, weil er von gutem Stoffwechsel und Gesundheit zeugt.

Der Hundebesitzer wandte sich ab, rief seinen Hund und wollte weitergehen. Doch sein Hund kam nicht, was ihn zum Verweilen zwang. Auf der Wiese neben uns scheuchte ein großer Afghanischer Windhund in flottem Tempo Krähen aus dem Gras. An der Gestik des Hundebesitzers konnte ich erkennen, dass es sein Hund war.

Afghane beim Krähenscheuchen

Als der Windhund endlich auf die Rufe seines Besitzers hörte und zu diesem kam, hatte Vorderbrandner sein produziertes Häufchen in den Beutel eingetütet, das Taschentuch, mit dem er sich abgewischt hatte, dazugeworfen, und den Beutel mit einem Knoten verschlossen. Der Hundebesitzer hatte sich bereits einige Schritte entfernt. Vorderbrandner lief ihm nach und wollte ihm den Beutel überreichen. Der Hundebesitzer ignorierte Vorderbrandner, doch Vorderbrandner ließ nicht locker, sodass der Hundebesitzer schließlich entnervt stehenblieb, sich zu ihm wandte und sagte: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihre Scheiße entsorge!“

„Doch, das glaube ich! Sie entsorgen doch die Scheiße Ihres Hundes auch. So groß wie der ist, glaube ich nicht, dass seine Scheiße leichter und weniger geruchsintensiv ist als meine.“

„Lassen Sie mich in Frieden!“ rief der Hundebesitzer, während sein Afghane schon wieder in vollem Tempo die Krähen im Gras scheuchte. In diesem Moment schlug Vorderbrandners Provokationslust in Zorn um, und er schrie erbost: „Du elender, hundebesitzender, tierquälender Stadtneurotiker, der seinen Hund mit seinen Neurosen zuscheißt und als Dank dessen Scheiße im Beutel herumträgt! Glaub ja nicht, dass ich dir jemals einen Beutel leihe, wenn du dringend kacken musst! Gib deinen entarteten, ungehaltenen, neurotisierten Köter sofort an die Leine, sonst ruf ich die Polizei!“

Während der Hundebesitzer unbeirrt, ohne sich noch einmal umzudrehen, sich von uns entfernte, sein Afghane es aufgab, die erbosten Krähen zu scheuchen und ihm nachlief, ritten in unserer Nähe zwei Polizisten auf Pferden vorbei. Vorderbrandner rief sie entgegen seiner Ankündigung nicht. Stattdessen ging er mit seinem Beutel in der Hand zum Bach, um sich dort zu waschen. Ich folgte ihm. Als ich ihn erreicht hatte, drehte er sich um und sagte: „Ich verwende gar keine Sonnencremes. Ich habe das Gefühl, dass ich mit diesem Zeug nur meine Haut malträtiere.“

João Baptista und der Krieg am See

Dass ich mir diesen Wunsch erfülle, wieder einmal an den See zu fahren, darüber bin ich glücklich. Ich gehe den Weg am Waldrand entlang, der mich zum See führen wird. Nach einer kleinen Biegung um Gesträuch herum blicke ich nach vorn – und sehe am Weg, ganz eindeutig: Henriette. Henriette! Dass ich bei meinem Ausflug an den See ausgerechnet Henriette treffe, darüber bin ich nicht so glücklich.

Ich sollte erklären, warum ich so gern an den See fahre: Ich fahre an den See, um meinen inneren Frieden zu finden, und hoffe, dabei auf Gleichgesinnte zu treffen. Henriette habe ich als eine Person in Erinnerung, die ihren inneren Krieg in die Welt projiziert und dieser Welt ihren Unmut darüber kundtut. Also als eine Andersgesinnte.

Sie gehen sehr langsam vor mir, Henriette und ihr dunkelhaariger Begleiter. Meine Schritte werden ebenfalls langsamer und ich überlege, ob ich umkehren soll; ob ich im Wald verschwinden soll. Ob ich irgendetwas tun soll, um ein Treffen zu vermeiden. In diesem Moment dreht sich Henriette um, unsere Blicke treffen sich. Zu spät für eine Flucht. Sie und ihr Begleiter bleiben stehen. Ich schreite dem Unentrinnbaren entgegen. Während mein Körper sehr steif wird und meine Beine sehr schwer, spüre ich, wie mein innerer Frieden in eine heftige Schieflage gerät, ja mehr noch, wie sich Krieg in mir ausbreitet.

„Emil, grüß dich!“ sagt Henriette. Ich kenne die Süße in dieser Stimme, die die darunterliegende Aggression verbergen soll, ohne es zu schaffen. Sie zeigt auf ihren Begleiter: „Das ist João Baptista, mein Freund“. João Baptista ist sehr muskulös, wirkt gleichzeitig aber sehr eingeschüchtert. Ohne nachzufragen und weiter darüber nachzudenken, ordne ich ihn als Brasilianer ein.

Ich gehe mit Henriette und João Baptista weiter den Waldpfad entlang zum See. Henriettes Erscheinung ist die einer militanten Grünen, die ihre Umwelt vergewaltigen will. Ihre sackigen Gewänder, mit denen sie sich kleidet, wirken wie eine Waffe, die jederzeit den Tod durch Ersticken herbeiführen kann. João Baptista scheint sich dieser Gewalt widerstandslos zu unterwerfen und sich devot seiner schleichenden Erstickung hinzugeben. Ich stelle mir seine Wirklichkeit so vor: Alle Frauen sind Huren, seine Mutter ist eine Heilige. Da seine Mutter weit weg in Brasilien ist, ist Henriette seine deutsche Ersatzmutter. Ich spüre, wie der Krieg in mir tobt. Dabei bin ich an den See gefahren, um meinen inneren Frieden zu finden.

An der Wiese am See angekommen, breitet Henriette eine Decke aus, auf die sie und ich mich setzen, während João Baptista neben uns im Gras stehen bleibt. Ich bin irritiert und frage Henriette, warum er stehenbleibt und sich nicht zu uns setzt.

„In Brasilien stehen die Männer am Strand immer. Sich zu setzen ist ein Zeichen von Schwäche, von Weichheit.“

„Erstens sind wir nicht in Brasilien, zweitens will ich nicht als Schwächling gelten, nur weil ich mich ins Gras setze!“ sage ich etwas ungehalten. Der Krieg in mir wird heftiger. Mir wird heiß. Ich ziehe mein Shirt aus und lege mich auf den Bauch, um mich zu beruhigen. Als ich auf dem Bauch liegend zu João Baptista aufschaue, bemerke ich Entsetzen in seinen Augen. Er geht hastig einige Meter weg von uns, bleibt dann wie angewurzelt stehen und blickt demonstrativ in die andere Richtung.

„Was hat er denn jetzt?“ frage ich genervt.

Henriette beugt sich zu mir: „Wenn sich in Brasilien ein Mann öffentlich auf den Bauch legt, ist das ein eindeutiges Zeichen, dass er schwul ist. Deshalb ist er irritiert.“

Ich spüre plötzlich eine starke Solidarität mit den Schwächlingen und Schwulen dieser Welt, obwohl ich bis eben noch nicht wusste, dass ich mich diesen Gruppen besonders zugeneigt fühle. Der Krieg ist jetzt endgültig in mir ausgebrochen und bahnt sich einen Weg nach draußen. Ich stehe auf, reisse mir die Hose vom Leib und renne zu João Baptista. Ich tanze nackt um ihn herum, mit heftigen Hüftbewegungen. Dazwischen werfe ich mich vor ihm auf den Boden. Ich strenge mich an bis aufs äußerste, um ihm ein schwuler Schwächling zu sein. João Bapista bleibt während meiner Performance wie angewurzelt stehen, mit starrem Blick. Schickt er Stoßgebete zu seiner Mama nach Brasilien, während die männliche Hure schlimmer als in seinen Albträumen um ihn tanzt?

Ich remple ihn an, rufe: „Sag was, du verklemmter Kraftprotz!“ Er bleibt stoisch stehen. Ich pralle an seinen Muskeln ab. Ich spüre, dass ich diesen Krieg nicht gewinnen kann. Es bedarf einer Abkühlung der Fronten. Ich laufe zur Decke, zu Henriette, sage: „Henriette, zieh dich aus, geh baden mit mir!“

„Aber doch nicht nackt!“

„Doch, nackt! Entblöße dich, zeige dich der Welt, und die Welt wird sich dir zeigen, schöner als du es dir jemals vorstellen konntest!“ Ich laufe mit Freudengeschrei zum Wasser und tauche ein ins kühle Nass. Ich stelle mir vor, wie Henriette ihr sackiges Kriegsgewand über ihren Kopf stülpt und mir nachläuft.

Beim Auftauchen rufe ich: „Der Krieg ist aus, es lebe der Friede!“ und sehe, wie Henriette hastig die Decke zusammenfaltet, um mit João Baptista die Wiese zu verlassen.

Liebesknurren

Liebe geht durch den Magen. Mein Magen knurrt recht oft. Er knurrt nach Liebe. Die Liebe weigert sich, hindurchzugehen. Oder hindere ich sie daran? Wieso sonst sollte die Liebe durch so viele Mägen gehen und gerade durch meinen nicht? Mein Hirn versucht auszuhelfen in dieser Misere und schaltet sich denkend ein. Es denkt an Josefine und dass ich mich von ihr getrennt habe.

Die Trennung von Josefine – war das meine Befreiung oder mein Rückzug? fragt mein Hirn. Moment, sage ich, eines nach dem anderen: Trennung, was ist das? Trennung – so nenne ich es, was geschehen ist zwischen Josefine und mir. Ich habe Zweifel, ob das der richtige Name ist für dieses Geschehen. Trennung ist ein Ding in meinem Kopf, und das Ding an sich, sagt zumindest Fichte, ist eine Erdichtung und hat gar keine Realität. Was ist also die Realität abseits dieses Dinges der Trennung?

Mein Hirn in seinem Polaritätsdenken hilft mir und denkt weiter: Das Gegenteil von Trennung ist Vereinigung. Gibt es das, totale Trennung und totale Vereinigung? Oder hat mein Hirn diese beiden Extrempole erfunden, um das Leben zu begreifen als ein Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe? Oszilliert die Realität zwischen Distanz und Nähe, zwischen Trennung und Vereinigung?

Während dieser Gedanken knurrt mein Magen unentwegt, knurrt nach Liebe. Ich gehe in ein Restaurant und gebe ihm Essen stattdessen. Ich stopfe mich voll, so als wollte ich der Liebe den Weg versperren. Mir wird schlecht. Obwohl ich so vollgestopft bin, fühle ich mich so leer. Ich betrauere mich, wie ich so vollgestopft allein an meinem Tisch sitze. Ich rutsche vom Stuhl und komme unter dem Tisch zum Liegen. Befreiung oder Rückzug? fragt nun mein Hirn wieder und kriecht zu mir unter den Tisch. Was weiß denn ich? Ich sehne mich nach Josefine. Ich ergebe mich dieser Sehnsucht und ziehe mich in sie zurück. Also Rückzug. Was veranlasst mich, diesen Rückzug anzutreten? Ist es eine Verweigerung der Liebe? Wieso bist du überzeugt davon, frage ich mein Hirn, dass ich es nicht wert bin, geliebt zu werden und baust alle deine weiteren Erkenntnisse darauf auf? Du verweigerst die Liebe von Josefine, um in deiner Überzeugung nicht gestört zu werden, um dich ungestört deiner unerfüllten Sehnsucht hinzugeben.

Hat diese Gedanken nun mein Hirn oder mein Magen gedacht? Mein Magen jedenfalls macht heftige Geräusche und Bewegungen, so als stoße ihm die fehlende Liebe sauer auf. Ich beschließe, das Treffen mit meinem Hirn unter dem Tisch zu beenden, hieve mich hoch, verlasse das Restaurant und gehe ins Freie. Befreiung?

Vor dem Restaurant steht zu meinem Erstaunen mitten im Freien eine Toilette, die mir und meinem Magen sehr gelegen kommt. Ich setze mich auf die Toilette und lasse den Dingen ihren Lauf. Plötzlich öffnen sich am Hochhaus gegenüber nach und nach alle Fenster. Menschen erscheinen an ihnen und beginnen zu singen, bis schließlich alle im Chor einstimmen: Nähe und Distanz, das Leben voll und ganz! Mein Hirn ist überwältigt, und mein Magen bereit für die Liebe, in diesem erhebenden Moment.

Musikalische Untermalung des Hochhauschors während der Toilettensitzung

Blick von der Freilufttoilette vor dem Restaurant zum Hochhaus

Am Ende bin ich nur ich selbst

Das war die schönste Zeit meines Lebens: die ersten neun Monate im Leib meiner Mutter. Ein schwereloses Leben, wie im Paradies. Dieses glückliche Leben wurde jäh beendet, als ich aus ihrem Leib auf die Erde plumpste. Ja, so war es mit meinem Glück, ich bin mir sicher, seitdem habe ich es verloren! Seitdem suche ich nach dem Glück. Unentwegt. Rastlos.

Als Kind suchte ich nach diesem Glück im Schoß meiner Mutter, aber es wurde mir bald klar: Mein Wachstum machte eine Rückkehr immer unmöglicher. Diese Vereinigung würde es nicht mehr geben.

Als Pubertierender fühlte ich mich endgültig verstossen vom Glück. Meine Mutter, das Glück meiner Welt, war nicht mehr angesagt. Aber was war stattdessen angesagt? Ich suchte nach Ersatzbefriedigungen, die im übermäßigen Konsumismus endeten. Neben Alkohol und Drogen konsumierte ich Mädchen. Ich suchte bei ihnen die Einheit und das Glück, das mir meine Mutter in den ersten neun Monaten meines Lebens gegeben hatte. Doch ihre Schöße waren nicht der Schoß meiner Mutter. Diese Mädchen verließen mich und ich verließ sie. Das Glück war von vornherein ausgeschlossen in diesen Begegnungen. Mädchen sind keine Mütter.

Schließlich entdeckte ich, mangels personeller Alternativen, ein weiteres konsumierbares Objekt: meine Melancholie. Der Vorteil der Melancholie: Sie ist immer bei mir. Ich konsumierte sie im Übermaß. Tagsüber schloss ich mich in mein Zimmer ein und verkroch mich unter meiner Decke. Abends ging ich auf den Hügel, setzte mich auf seine Spitze und beweinte die Sonne bei ihrem Untergehen. Ich beneidete sie, wie konsequent sie unterging, langsam aber stetig, ohne einmal innezuhalten oder gar umzukehren. Untergehen, ja, ich wollte untergehen wie die Sonne!

Dieser Untergangs-Entschluss reifte so lange, bis ich schließlich bereit war, ihn umzusetzen: Ich rannte vom Hügel zum See hinunter. Ich stürzte mich ins Wasser, um unterzugehen. Das Wasser war angenehm aufgewärmt von der Sonne des Tages. Ich tauchte unter. Ich fühlte mich schwerelos. Ich ließ mich unter Wasser treiben. Jetzt war sie wieder da, die frühe Zeit meines Lebens, die Zeit im Bauch meiner Mutter. Alles war leicht und weit. Würde jetzt alles gut werden? Es war eine Mutterwelt durch und durch. Wo blieb ich in dieser Welt? Möchte ich nicht irgendetwas sein außer das Kind in meiner Mutter? Möchte ich ein Mann sein für die Frauen dieser Welt? Möchte ich noch viel mehr sein? Möchte ich ich selbst sein?

Ich dachte ich sei tot, doch ich fand mich liegend am Ufer des Sees wieder. Was war ich nun? Ein gestrandetes Kind oder ein gestandener Mann? Ich bemerkte, dass ich mich gut bewegen konnte, also nicht tot, richtete mich auf und setzte mich ins Gras. Ich blickte zur Seite und sah eine kleine Holzbühne. Einige Musiker standen auf ihr und bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Einer von ihnen sagte: Das erste und letzte Lied ist eine knapp achtminütige Meditation über mein Leben, also über jedes Leben. Der, der das sagte, kam mir sehr bekannt vor. Er war jung, wohl etwa in meinem Alter.

Sie begannen zu spielen, langsam und bedächtig, fast meditativ. Sie schienen nur den See vor sich zu bespielen. Der eine, den ich kannte, blickte melancholisch auf den See vor sich. Mit starrem Blick bewegte er sich zum Rhythmus. Entrückt. Plötzlich sang und spielte er sich in Rage. Dann drehte er sich zu mir und sang: Am Ende bin ich nur ich selbst, ehe er seinen Blick wieder seewärts richtete. Ich kannte ihn, mit einer Gewissheit, die mir unheimlich war, wusste aber noch immer nicht, wer er war.

Ich stand auf. Ich tanzte zur Musik. Plötzlich wusste ich, wer er war, den ich kannte: Es war mein Vater. Nur so jung, wie ich ihn nie gekannt hatte. Ungläubig rannte ich auf den Hügel. Ich nicht nur das Kind meiner Mutter, sondern auch das meines Vaters? Wo ist jetzt das Glück? Ich stand oben am Hügel und sah der Sonne beim Untergehen zu. Am Ende bin ich nur selbst. Ein Schauer durchfuhr mich, gleichzeitig fühlte ich mich noch nie so glücklich wie in diesem Moment. Ich sah und hörte, wie sie unten am See spielten. Knapp acht Minuten lang, wie es mein Vater angekündigt hatte. Dann ließen sie die Meditation über sein Leben, also über jedes Leben, ausklingen und verschwanden im See.

Knapp achtminütige Meditation über das Leben

Gedankengut

Manchmal komme ich mir schon recht alt vor. Das ist natürlich relativ. Meine beiden Großväter wären jeweils schon über hundert Jahre alt. Dagegen bin ich recht jung. Doch dazu später! Ich muss mich jetzt konzentrieren: Ich befinde mich mitten in einem Bewerbungsgespräch!

Gut, sage ich also, um meine Großväter zu vergessen und wieder ins Gespräch einzusteigen, lehne mich in den Stuhl und sehe zum Fenster hinaus.

„Gut?“ fragt die Bewerberin. „Was soll das heißen?“

„Ich gebe zu: nicht viel. Ich verwende dieses Wort, wenn ich Gedanken in meinem Kopf habe, die mich meiner Umwelt mehr entrücken als mich ihr anzunähern. Wenn ich gedanklich abwesend bin. Wenn ich zum Beispiel an meine beiden Großväter denke, die jeweils schon über hundert Jahre alt wären, wenngleich sie, das nur nebenbei, relativ alte Väter ihrer Zeit waren. Ich will damit nicht sagen, dass ich jung bin, ich will damit nur sagen, dass diese Gedanken nichts mit unserem Gespräch zu tun haben. Die Äußerung dieser Gedanken, die ich nun bereits geäußert habe, allerdings nur beispielhaft, würde Sie verwirren und unsere Beziehung, die durch das Gespräch, das wir gerade führen, aufgebaut werden soll, an ihrem Aufbau hindern. Deshalb sage ich in solchen Situationen solange gut, bis diese Gedanken wieder weggehen aus meinem Kopf, der Nebel um mich sich lichtet und ich wieder anwesend bin… Was fragten Sie gerade, bevor ich gut sagte?“

„Ich habe Sie gefragt, was mein Aufgabenbereich wäre, wenn Sie mich anstellen.“

„Ihr Aufgabenbereich, natürlich… Nun, ich möchte es so sagen: Wir möchten, dass Sie unsere Präsenz in den sozialen Medien erhöhen. Dabei aber gleichzeitig den sozialen Medien kritisch gegenüberstehen. Eine kritische Haltung ist uns sehr wichtig. Das ist in etwa so wie mit dem Leben: Man kann es einfach leben, oder es leben und gleichzeitig kritisch reflektieren. Verstehen Sie?“

Die junge Frau sieht mich verwirrt an.

Wer ist diese junge Frau? Sie ist Absolventin eines Bachelor-Studiengangs in Kommunikations- und Mediendesign. Das sehe ich in ihrem Lebenslauf. Sie ist hochmotiviert, mit dem erworbenen Wissen nun ins Berufsleben einzusteigen. Das sehe ich in ihren blauen Augen. Ich trage Verantwortung für sie. Das sehe ich in ihrer Jugend.

Ich habe nun viele Gedanken in meinem Kopf, die vielleicht damit zu tun haben, dass ich mich gerade relativ alt fühle und dass ich drauf und dran bin, mich in diese junge Frau zu ver… – ich will nicht sagen, mich in sie zu verlieben, das scheint mir unpassend, klischeehaft und erwartbar – nein: dass ich drauf und dran bin, mich in diese junge Frau zu… – verdenken. Ja, das ist das richtige Wort: verdenken! Sie regt meine Gedanken an.

Ich sage jedenfalls nicht gut, was naheliegend wäre in dieser Situation voll abwesender Gedanken, nein, ich sage:
„Wollen wir etwas essen gehen und den Rest dabei bedenken?“

Gut, sagt daraufhin die junge Frau.

Das Glück im Zeller Wald

War ich enttäuscht im Leben, bin ich davongelaufen. Ich wollte diesmal Josefine die Schuld für meine Enttäuschung geben, sie als die Verkörperung meiner Enttäuschung definieren und vor ihr davonlaufen. Sie verlassen, um mein Unglück mit ihr hinter mir zu lassen. Aber es funktionierte nicht. Ich spürte die Enttäuschung tief in mir, und nichts und niemand sonst war schuld daran. Kann ich vor mir davonlaufen?

Ich lief tief in den Zeller Wald hinein und verirrte mich. Ich lief zwischen den Bäumen hin und her, bis ich schließlich entkräftet stehen blieb. Ich stützte meine Hände auf meine Knie und atmete keuchend. Es ist nicht nur die Enttäuschung, vor der ich davonlaufe, sondern auch das Glück, dem ich hinterherlaufe. Wo ist das Glück, dem ich so rastlos hinterherlaufe, um es schließlich nie zu finden? Wann finde ich es endlich? Wie weit muss ich noch laufen? Und wohin?

Mitten in meiner Verzweiflung sprang plötzlich Goethe aus dem Gebüsch. Hatte er sich ebenfalls im Zeller Wald verirrt? Lief er auch vor einer Enttäuschung davon? War er nicht längst tot? Ich war beeindruckt von seiner Erscheinung. Er stellte sich neben mich und rezitierte:

Warum denn in die Ferne schweifen,
wenn das Gute liegt so nah?
Lerne nur das Glück ergreifen,
denn das Glück ist immer da!

Dann verschwand er ebenso plötzlich wie er gekommen war und ließ mich alleine. Seltsam, dachte ich, dass Goethe sich im Zeller Wald herumtreibt und mir Glücksbotschafen überbringt. Woher wusste er, dass ich seine Worte gerade jetzt brauche? Sein Auftritt zeigte jedenfalls Wirkung: Er hat recht, dachte ich – das Glück ist immer da! Natürlich!

Ruhe. In mir. Um mich. Ich begann zu gehen und setzte einen Schritt vor den anderen. Nennt man das Vertrauen, was ich jetzt spürte? Dass mich meine Schritte dort hinleiten würden, wo es gut für mich ist? Der Duft der Bäume und Pflanzen durchströmte mich.

Ich setzte einen Schritt vor den anderen. Während des Gehens hörte ich plötzlich Musik:

Ich ging in die Richtung, aus der ich sie vernahm. Ich kam auf eine Lichtung. Am Rand der Lichtung, unter den Bäumen, hatte sich ein Orchester platziert und spielte. Davor saß Schostakowitsch am Klavier. Ich wunderte mich. Ich wunderte mich, dass ich Schostakowitsch erkannte. Kannte ich denn Schostakowitsch? Ich wunderte mich, dass Schostakowitsch, wie Goethe, in den Zeller Wald gekommen war, und noch dazu sein ganzes Orchester mitgebracht hatte. Ich wunderte mich und auch nicht: denn ich war bereit, Wunder geschehen zu lassen. Ich setzte mich ins Gras und hörte Schostakowitsch und seinen Musikern zu. Ein so unfassbar großer Raum tat sich in mir auf, noch viel größer als der Zeller Wald, dass ich mein Glück kaum fassen konnte. Das Glück ist immer da, in diesem Raum voller Wunder und Möglichkeiten, den ich mein Selbst nennen will. Ja, so will ich ihn nennen, diesen Raum!

Geburtstags-Poesie

Mir schwante, dass es nicht gut ausgehen würde. Die Fassaden der Hochhäuser rauschten an mir vorbei. Mein weicher Körper bewegte sich mit voller Schwerkraft auf den harten Boden zu. Kurz vor dem tödlichen Aufprall weckte mich der Klingelton meines Handys, auf dem folgende Nachricht von Steffi stand: Alles Gute zu unseren Geburtstagen! Steffi hatte mir soeben das Leben gerettet, durch das rechtzeitige Senden der Nachricht vor dem Aufprall. Deshalb wollte ich ihr vorschlagen, als Dank sozusagen, dass wir den Tag unserer gemeinsamen Geburtstage gemeinsam verbringen.

Doch dann erinnerte ich mich an Vorderbrandners Worte, der sagt, dass man seinen Geburtstag verbringen soll wie jeden anderen Tag auch. Denn nur die Poesie des Alltags führt uns ins Glück, nicht willkürlich erdachte Festlichkeiten. Der Geburtstag sei ein willkürliches, von der Kalenderlogik bestimmtes Datum. Gäbe es die Kalenderlogik nicht, würde man einfach von Tag zu Tag schleichend älter werden, ohne diesen harten Sprung von einem Lebensjahr ins nächste.

Von harten Sprüngen hatte ich bereits genug an diesem Morgen der schlechten Träume, deshalb beschloss ich, Steffi nicht zu schreiben und stattdessen ins Büro zu gehen, wie jeden Tag. Dort traf ich Vorderbrandner an, wie jeden Tag. Jedoch trug er an diesem Tag eine Nazi-Uniform, einen aufgeklebten Hitler-Bart und seine Haare waren zum Seitenscheitel gegelt.

„Was ist mit dir los?“ fragte ich.
„Ich feiere Geburtstag.“
„Aber du hast doch gesagt, man soll am Geburtstag der Poesie des Alltags huldigen und ihn verbringen wie jeden anderen Tag auch!“
„Natürlich. Das mache ich auch. Denn heutzutage gehört es zur Poesie des Alltags, um jeden Preis aufzufallen. Deshalb habe ich heute Morgen bereits einen Selfie gepostet mit dem Titel: Anlässlich des Referendums in der Türkei feiert Nazi-Deutschland den Geburtstag seines Führers dieses Jahr besonders ausgelassen und heiter.“

August und Auge

Es waren einst zwei Brüder, die hießen Gustav und Georg. Sie wohnten in einem einsamen Häuschen mitten in der Au, deshalb wurden sie August und Auge genannt.

An einem wunderschönen, sonnigen Tag sagte August zu Auge: „Ich werde heute einen Ausflug zu Betty auf dem Bühel machen!“

Auge wollte den Tag lieber mit August in der Au verbringen und versuchte ihn umzustimmen. Er sagte zu August: „Wie willst du einen Ausflug machen ohne Flügel? Fliegen können nur die Vögel!“

August überlegte und sagte schließlich: „Du hast du recht, Auge. Ich habe keine Flügel, deshalb kann ich keinen Ausflug zu Betty auf dem Bühel machen. Ich bleibe bei dir in der Au.“

Auge setzte sich daraufhin an den Flügel, stimmte eine Melodie an und sang mit August das Lied Wenn ich ein Vöglein wär für Betty auf dem Bühel:

Und trotzdem lieb ich sie

Auf dem Weg ins Büro ging ich den Gehsteig entlang und dachte an Dirk von Lowtzow, der sagt, dass es schwer ist, über Musik zu schreiben und leicht ist, sie zu hören. Ich hatte einen kleinen Kuchen für Vorderbrandner dabei: Es war sein Geburtstag.

Als ich an der Tür zum Büro war, hörte ich Musik von drinnen. Ich öffnete, und ein Chanson von Charles Aznavour trällerte in voller Lautstärke durch den Raum. Ich trat näher und sah Vorderbrandner, in seinem Stuhl sitzend nach hinten gelehnt, mit verquollenen Augen. Die Musik und Vorderbrandners lethargischer Zustand erzeugten eine besondere Atmosphäre. Ich sagte nichts. Vorderbrandner sah mich hilfesuchend an. Ich ging näher an seinen Bildschirm und las darauf die Nachricht:

Cher Valentin,

ça va? Bon anniversaire! Heute ich erinnere die Chanson, die du mir hast geschickt damals: Und trotzdem lieb ich sie de Charles Aznavour. Tu es toujours bienvenu a Angers!

Je t'embrasse,
Françoise

Françoise! Vorderbrandner hatte mir oft von einer Françoise erzählt, die er während seinem Auslandsjahr an der Uni in Angers kennengelernt hatte. Er hatte sich unsterblich in sie verliebt. Dann hatte sie ihn während einer Party geohrfeigt. Er weiß nicht mehr wieso, sagt er. Wahrscheinlich hat er es verdrängt, oder die genauen Umstände gingen in seiner Trauer unter. Danach hat er jedenfalls nie mehr mit ihr geredet, sagt er, hörte aber nie auf, über sie zu reden.

Ich stellte den kleinen Kuchen auf Vorderbrandners Schreibtisch, zündete die Kerze darauf an und setzte mich an meinen Schreibtisch. So hörten wir zu zweit Charles Aznavour.

Mir fiel ein, dass Vorderbrandner ständig behauptet, seine Geburt sei ein großes Missverständnis zwischen seiner Mutter und ihm gewesen. Sie hätte ihn nie geliebt, und er wollte nie auf diese Welt kommen. Jetzt sei er aber nun einmal auf dieser Welt und habe dieses Leben durchzustehen. Dies sei eine Version seiner Wahrheit, sagt Vorderbrandner, und im übrigen die Version, an die er sich entschieden habe zu glauben. Eine andere Version würde seinen Vater berücksichtigen. Seinen Vater habe er jedoch nie gekannt, sagt er, das Prinzip Vater sei ihm überhaupt ein Fremdes. Deshalb sei diese andere Version mit Vater keine Möglichkeit für ihn. Er sei ein Muttersohn, den seine Mutter nicht liebt, und dabei bleibt es.

Vorderbrandner saß weiterhin reglos in seinem Stuhl. Ich dachte an die totalitären Denkstrukturen, von denen er oft spricht, in denen er sich gefangen fühle, die ihm aber gleichzeitig Halt geben. Im Totalitarismus sei kein Platz für Liebe, und er sei ein dem Totalitarismus Verfallener, der sich damit abzufinden habe, ohne Liebe zu leben.

Und trotzdem lieb ich sie lief in der Wiederholungsschleife. Eine Träne lief über Vorderbrandners Wangen. An wen denkt er bei diesem Chanson? An Françoise oder an seine Mutter? Wieso erzählt er mir in seinem Schweigen viel mehr, als er mir jemals sagen könnte? Ahnt er die Liebe, nach der er sich so sehnt?

Habe ich jetzt über Musik geschrieben? Ich hoffe, Dirk von Lowtzow verzeiht mir.

Stutt ist kein Garten!

Bene, den ich wegen der sprachlichen Präzision in seiner Ausdrucksweise sehr bewundere, berichtet, dass ein Außerirdischer in seinem Garten gelandet sei. Der Außerirdische verfügte über erstaunliche Kenntnisse der deutschen Sprache, und er schien sich ihr über den Weg der Logik genähert zu haben, berichtet Bene weiter, denn der Außerirdische habe folgende Frage gestellt: „Was ist der Unterschied zwischen einem Dorf und einer Stadt?“ Ohne jedoch eine Antwort Benes auf diese Frage abzuwarten, listete er selbst wesentliche Merkmale eines Dorfes und einer Stadt auf, wie etwa die Anzahl der Bewohner, um anschließend eine weitere Frage zu stellen: „Wieso ist euer größtes Dorf Düsseldorf größer als eure größte Stadt Darmstadt?“ Bene, und hier bewundere ich ihn für seine Schlagfertigkeit, erwiderte, dass Frank keine Furt und Stutt kein Garten sei, sondern Städte, die im übrigen größer sind als Düsseldorf was die Anzahl ihrer Bewohner betrifft. Der Außerirdische schien nun an den Grenzen seiner sprachlichen Logik angekommen zu sein, so vermutet jedenfalls Bene, denn nach dieser Antwort Benes verschwand er aus seinem Garten, ohne dass es Bene vorher möglich gewesen wäre, sich einen angemessenen Eindruck über die Anatomie und das Verhalten des Außerirdischen zu machen.

Dennoch fand Bene es angebracht, diesen Vorfall dem wissenschaftlichen Beirat für Außerirdischenforschung zu melden, woraufhin dieser Beirat antwortete, dass er eine Vielzahl solcher Meldungen erhalte, die er in der Regel unbeantwortet lasse, da ihnen meist jeglicher überprüfbarer Realitätsbezug fehle, und er deshalb auch auf die Anfrage Benes nicht näher eingehen könne, da er sich sonst dem Vorwurf der Schiebung, also der ungerechtfertigten Bevorzugung, aussetze. Bene, ungewohnt fahrig in seinem Sprachverständnis, antwortete darauf, dass es sich in diesem Fall um keine Abschiebung handeln könne, da der Außerirdische seinen Garten freiwillig verlassen habe und er deshalb eine Bearbeitung seiner Meldung als angemessen, wenn nicht sogar als geboten empfinde. Nach dieser Ergänzung Benes zu seiner Meldung meldete sich der wissenschaftliche Beirat für Außerirdischenforschung nicht mehr bei ihm, womit anzunehmen ist, dass dieser Fall als beendet erklärt werden kann.

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