Egal wie albern du bist – jeder, der in Tirana geboren ist, ist Albaner.
Als Antwort stand darunter:
So geil dein Humor, echt klasse!
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nur noch in diesen kleinen Bildschirm hineinstarre und mir Scheiße in mein Hirn ziehe. Ich sollte ein Buch lesen: Madame Bovary oder Der Zauberberg. Aber ich schaffe es nicht. Stattdessen starre ich nur noch auf diesen kleinen Bildschirm, aus Angst, sonst etwas zu verpassen.
Ich hätte zum Arzt gehen sollen, sagen, dass ich süchtig bin nach diesem kleinen Bildschirm; dass ich mir eine App nach der anderen runterlade. Stattdessen ging ich auf die Straße. Ich ging über die Straße, als die Ampel rot war, weil meine Ampel-App mir anzeigte, dass die Ampel grün ist. Oder zeigte mir die Ampel-App, dass es rot war und ich habe sie nicht beachtet, weil ich mit einer anderen App beschäftigt war? Ich weiß es nicht mehr. Ein Auto erfasste mich, doch wie durch ein Wunder hielten sich meine somatischen Verletzungen in Grenzen. Nur ein paar Prellungen. Dafür sollten meine psychischen Probleme nun zum Thema werden.
Im Krankenhaus schilderte ich, noch schockiert vom Aufprall, den Unfallhergang aus meiner Sicht. Ich wurde daraufhin an einen Psychiater überwiesen, der zu mir sagte:
Herr Hinterstoisser: In Ihrer Krankenakte steht, dass Sie bereits zum dritten Mal mit Ihrem Smartphone in der Hand in ein Auto gelaufen sind und einen Unfall verursacht haben. Wie durch ein Wunder sind Sie jedesmal mit leichten Verletzungen davongekommen, auch dieses Mal, beim dritten Mal. Doch jetzt müssen wir der Wahrheit ins Auge blicken: Sie sind süchtig. Sie sind ein Digital-Junkie!
Diese Aussage traf mich wie ein Schlag. Anfangs wollte ich mich wehren, wollte dem Arzt sagen, dass seine Behauptung unverschämt ist. Doch dann hielt ich inne und mir wurde klar: Ich hatte sie längst gespürt, meine Sucht, ich wollte sie bloß nicht wahrhaben. Die knallharte Wahrheit nun von jemand anderem zu hören, haute mich zunächst einmal um. Mir wurde schwindelig und ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir gekommen war, ein paar Schluck Wasser getrunken hatte, fragte ich den Arzt:
Was nun?
Nun: Wenn Sie so weitermachen, verlieren Sie vollkommen den Bezug zu Ihrer körperlichen Realität. Sie werden nicht nur von weiteren Autos überfahren werden, weil Sie sie nicht wahrnehmen, nein, Sie werden auch nicht mehr bemerken, wenn Sie aufs Klo müssen und einfach drauflos machen. Das könnte man mit Windeln lösen, natürlich. Aber wollen Sie das?
Nein.
Dann empfehle ich Ihnen dringend eine strikte analoge Diät. Ansonsten kommen Sie nicht los von Ihrer digitalen Sucht. Sie müssen sich ab sofort mit sich und Ihrer Umwelt auseinandersetzen, ohne Benützung digitaler Mittel wie Ihrem Smartphone.
Wie soll das gehen?
In einem tiefen Wald besitze ich ein kleines Häuschen, das auf einer kleinen Lichtung steht. Ich habe mir das Häuschen für mich, aber auch für Härtefälle wie Sie angeschafft, um die Bedingungen für eine optimale digitale Entzugskur zu schaffen. Keine Angst: Ich heiße nicht Emerson und Sie sollen nicht der zweite Thoreau werden! Sie sollen lediglich wieder zu sich finden. Hier ist der Schlüssel und eine Wegbeschreibung. Navigieren Sie sich nicht mit GPS dorthin! Sie haben Ihre sechs Sinne, die Sie dort hinleiten werden! Das ist der erste Schritt zu Ihrer Entwöhnung; der erste Schritt in Ihr neues Leben!
Aber ich kann doch nicht ohne mein Smartphone…
Doch, Sie können! Sie werden essen, sich bewegen, schlafen. Wenn Sie Ansprache brauchen, sprechen Sie mit den Bäumen! Sie werden Ihnen geduldig zuhören. Schreiben Sie auf, was Sie mit Ihnen besprechen!
Am 20. April des Jahres 1889 wurden Bettina und Gregor Inninger mitten in Europa Eltern eines Sohnes. Sie nannten ihn Begor.
An Begors fünfzehntem Geburtstag sagte sein Vater Gregor beim Essen am Familientisch: Hier geht alles den Bach runter. Wir leben in einer Resig-Nation. Das deutsche Volk ist das einzig wahre Volk. Begors Mutter Bettina, an sich ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, fing zu weinen an, als Begors Vater Gregor das gesagt hatte. Von diesem Tag an weinte Begors Mutter immer mehr. Fast jeden Tag sah Begor sie weinen.
An Begors zwanzigstem Geburtstag sagte seine Mutter Bettina: Wenn nur der Kaiser nicht stirbt! Der hält alles zusammen. Der sorgt dafür, dass wir uns alle noch vertragen. Aber er ist ja schon so alt! Nachdem sie das gesagt hatte, fing sie wieder bitterlich zu weinen an, während Vater Gregor aufstand und den Tisch verließ.
Nicht nur der Kaiser ist alt, dachte Begor. Alles ist alt hier. Deshalb beschloss er an diesem Tag, seinem zwanzigsten Geburtstag, nicht mehr hier leben zu wollen, mitten in Europa, wo er geboren war, in dieser Alten Welt, sondern auszuwandern in die Neue Welt.
Einige Wochen vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag hatte er genügend Geld gespart. Er reiste zum Atlantik und bestieg dort am 10. April ein riesiges Schiff, das ihn in die Neue Welt bringen würde. Am Abend des fünften Tages der Reise mit dem Schiff lag Begor auf seinem Schlafplatz und sehnte sich nach dem Land, nach Erde unter seinen Füßen. Tagelang, wochenlang nur auf dem Wasser sein, das kannte er nicht als Mitteleuropäer. Plötzlich, mitten in seine Sehnsucht hinein, wackelte und knarzte es im ganzen Schlafsaal. Begor lief an Deck und sah, dass das Schiff an einem Eisberg entlangschrammte. Angst. Dann war zunächst alles wieder ruhig. Begor blickte zum Himmel: Die Nacht war sternenklar. Doch unter ihm drang Wasser ins Schiff. Panik brach aus. Rettungsboote wurden zu Wasser gelassen. Menschen drängten sich, um auf ihnen Platz zu finden. Begor hielt sich vom Gedränge fern und bemerkte einen Mann neben sich, der am ganzen Leib zitterte. Begor zog seine Jacke aus und gab sie ihm. Der zitternde Mann sah ihn ungläubig an, nahm die Jacke und lief davon, um einen Platz auf einem der Rettungsboote zu ergattern. Begor blieb bis zuletzt auf dem Schiff. Als es sank, sprang er ins Wasser um sich zu retten, wurde aber von seinem Sog in die Tiefe gerissen. Im Wasser erfasste ihn ein Sog von Luft, der aus dem sinkenden Schiff drückte und ihn wieder an die Oberfläche schleuderte. War das eine Wiedergeburt? Begor, der Neugeborene, klammerte sich an ein Stück Holz, das im Wasser trieb. Jetzt sah er wieder die Sterne am Himmel. Er begann zu träumen. Er flog hoch zu den Sternen. Die Erde unter ihm wurde immer kleiner, aber es machte ihm nichts. Er flog weiter zu den Sternen und fühlte sich frei. Die wahre Freiheit ist in mir, und ist sie nicht in mir, so ist sie nirgendwo.
Dann erwachte er aus seinem Traum, obwohl er nicht erwachen wollte. Er wollte frei sein! Statt auf den Sternen landete er auf einem Rettungsboot. Die Neue Welt wartete auf ihn. Kurz vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag kam Begor in der Neuen Welt an, an den Piers von Manhattan. Es war ein zweiter Beginn seines Lebens. Begor blieb in New York und eröffnete eine Kneipe, der er den Namen TheBeg Inn gab. Weil sein Leben neu begonnen hatte.
Viele Englischsprachige nahmen den Namen der Kneipe wörtlich: Sie bettelten um Bier und zahlten keine Zeche. Ein paar Jahre ging es gut mit der Kneipe, aber schließlich wurden die bettelnden Gäste zuviel und Begor konnte es sich nicht mehr leisten. Er brauchte Geld. Der Krieg kam ihm recht, und er meldete sich zum Dienst für seine neue Heimat.
Bei der Überfahrt nach Europa blickte Begor zum Himmel. Er war wolkenverhangen. Keine Sterne sichtbar, zu denen er hätte fliegen können. So träumte er wieder von den Sternen: Die wahre Freiheit ist in mir, und ist sie nicht in mir, so ist sie nirgendwo.
Begor Inninger starb am 8. Februar 1918 bei einem Angriff auf die Alte Welt.
Ein sehr alter Zug stand am Bahnhof melancholisch zur Abfahrt bereit. Vorderbrandner öffnete die mechanische Tür und stürmte als Erster in den Waggon. „Toll, sagte er, die alten Garnituren! Die mag ich am liebsten! Die haben so etwas Nostalgisches, wie die Titanic.“ Vorderbrandner war aufgewühlt. Er war in Kathi verliebt, über beide Ohren, und hatte sich fest vorgenommen, heute Abend ihr Herz zu erobern. Kaum war der Zug losgefahren, drängte er uns, nach draußen zu gehen, denn die alten Garnituren hatten an beiden Waggonseiten offene Enden. Vorderbrandner ging wieder voraus, Kathi an der Hand nehmend, Konsti und ich händchenhaltend hinterher. Wir gingen ans Ende des Zuges, wo eine Tür ins Freie unter ein Vordach führte. Wir gingen durch die Tür nach draußen und standen – mit viel romantischer Imaginationskraft – auf einer fahrenden Loggia. Die Landschaft zog an uns vorbei und erschien wie ein Meer aus Dunkelheit.
Auf der Loggia des alten Waggons
„Wie in einem Cabrio ist es hier!“ sagte Vorderbrandner und spielte damit auf das Cabrio an, mit dem Kathis Mutter damals durch den Ort fuhr. Er wirkte sehr entschlossen und sagte zu Kathi: „Mach mal die Augen zu!“
„Wozu denn?“
„Mach sie einfach mal zu!“
Widerwillig schloss Kathi die Augen. Vorderbrandner fasste sie von hinten, hob sie etwas in die Höhe und klemmte sie zwischen sich und das Geländer: „Und jetzt öffne sie! – Siehst du: Du fliegst, wie auf der Titanic!“
„Lass mich runter Valentin!“ protestierte Kathi sofort gegen Vorderbrandners improvisierte Ich-fliege-Szene am Bug der Titanic.
Vorderbrandner aber drückte sie noch fester ans Geländer und rief: „Breite die Arme zur Seite aus! Du fliegst!“
In Vorderbrandners Drehbuch würden sie sich gleich küssen, wie Kate und Leonardo auf der Titanic. Stattdessen aber, Vorderbrandners Drehbuch in keiner Weise folgend, wiederholte Kathi ihre Aufforderung an ihn, sie runterzulassen. Als er nicht locker und ihr seine überlegene Physis spüren ließ, kam ein leichtes verzweifeltes Winseln in ihre Stimme. Ein Kuss war jedenfalls weit entfernt. Da fiel es mir wieder ein: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Peinliche Berührtheit statt großem Kino auf der Loggia des alten Waggons.
Vorderbrandner gab schließlich nach, und Kathi ging mit beleidigter Miene ins Waggoninnere. Er stürmte ihr nach. Ich hielt Konsti am Arm fest. Sie drehte sich zu mir. Dann nahm sie mich mit ihrer anderen Hand und zog mich nach drinnen. Drinnen herrschte eisige Stimmung. Wir saßen da, Konsti und ich auf der einen Seite, Kathi und Vorderbrandner auf der anderen, ohne etwas zu sagen. Hörten das Rattern des Waggons auf den Schienen unter uns. Kathi blickte demonstrativ von Vorderbrandner weg. Bei den beiden herrschte die Hölle, während ich mit Konsti im Himmel war. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht Konstis Hand zu nehmen. Doch das erschien mir unpassend angesichts der Hölle, die sich mir gegenüber auftat. Für einen Moment drehte Kathi ihren Kopf leicht zu Vorderbrandner: In ihrem Gesichtsausdruck begegnete er seinem persönlichen Eisberg. Ich merkte ihm seine tiefe Enttäuschung an.
Vorderbrandners Eltern wohnten im unteren Dorf, eine Station vor dem oberen Dorf, während Kathi, Konsti und ich im oberen Dorf wohnten. Als der Zug am unteren Dorf hielt, brach Kathi das Schweigen: „Valentin, steigst du nicht aus?“ fragte sie Vorderbrandner mit gespielter Höflichkeit, der eine Aufforderung innewohnte.
„Nein, ich…“
„Doch Valentin, du steigst hier aus!“ sagte sie, nun jede Höflichkeit ablegend.
In diesem Moment rammte Vorderbrandner endgültig den Eisberg. Die kalte Hölle tat sich auf. Es warf ihn von Bord. Er entschwand durch die Tür der alten Garnitur in die dunkle Nacht, die ihn einsog wie der weite, große Ozean. Ich dachte, ich würde Vorderbrandner nie mehr wieder sehen, so sehr hatte ihn die Dunkelheit eingesogen und verschlungen. Ich dachte, eine große Männerfreundschaft würde in diesem Moment zerbrechen.
Trotzdem sprang ich ihm nicht nach in die Dunkelheit, sondern fuhr ich mit Kathi und Konsti weiter ins obere Dorf. Für Konsti war ich bereit, Vorderbrandner zu opfern. Am Bahnhof verabschiedete sich Kathi von uns. Konsti drehte sich zu mir und legte ihren Arm um mich. Sie sagte, ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister seien nicht zuhause und fragte mich, ob ich zu ihr mitkommen möchte. Der Himmel war voller Geigen.
Wir waren junge Männer, sehr junge Männer, als Vorderbrandner zu mir gelaufen kam und freudestrahlend rief: „Ich habe Kathi und Konsti überredet, mit uns ins Kino zu gehen!“
Ich fühlte mich überrumpelt. Etwas in mir wehrte sich dagegen, in Vorderbrandners Freude einzusteigen. Ich fragte distanziert: „Um was anzusehen?“
„Titanic natürlich! Kate Winslet und Leonardo di Caprio!“
Ich verstand in diesem Augenblick nur: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Wirklich, genau das verstand ich: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Eine Situation, die bei genauerer Betrachtung nicht zu erhebenden kinowürdigen Momenten zählt: dass eine Frau in eines Mannes Cabrio winselt. Aber ich verstand genau das. Ich sagte: „Nein, keine Lust“, und ging weg. Ich glaube, Vorderbrandner hätte mich in diesem Moment am liebsten auf den Mond geschossen. Doch er tat es nicht. Es gehört zu Vorderbrandners Eigenschaften, Dinge so hinzunehmen, wie sie sind und sie nicht auf den Mond zu schießen.
Nach meiner Absage für den gemeinsamen Kinoabend sah ich Konsti am nächsten Tag zu meiner eigenen Überraschung mit ganz anderen Augen. Schön fand ich sie vorher schon, aber jetzt fand ich sie plötzlich wunderschön. Ich hatte das Gefühl, Konsti ist die einzige Frau auf der Welt für mich. Ich ärgerte mich, dass ich Vorderbrandner abgesagt hatte und nicht mit Konsti ins Kino gehen würde, aber mein Stolz verhinderte, dass ich meine Absage widerrief. In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Konsti, und als ich am Morgen erwachte, war ich ganz liebestrunken. Ich sah Konsti tagsüber wieder – wir gingen in dieselbe Schule – und schließlich siegte meine Verliebtheit über meinen Stolz. Ich sagte Vorderbrandner, dass ich doch gerne mitkommen möchte, um mit ihm, Kathi und Konsti Titanic anzusehen. Ich sehe noch das Lächeln in Vorderbrandners Gesicht, als ich ihm das sagte. Es war ein perfekter Moment, der uns beide glücklich machte. Es war ein Moment der Liebe zwischen Männern. Von diesem Moment an fieberten wir beide, ohne es uns zu sagen, auf den Abend hin, an dem wir endlich den Zug aus unserem Kaff in die Stadt nehmen würden, um Kathi und Konsti ins Kino auszuführen.
Kathi war die Tochter unseres Dorfarztes. Konstis Eltern waren Rechtsanwälte. Sie waren quasi Töchter des bürgerlichen Adels, während Vorderbrandners und meine Eltern Abkömmlinge von Bauersleuten waren. Als der Tag des großen Kinoereignisses endlich gekommen war, stieg eine Zweiklassengesellschaft in den Zug, um Titanic anzusehen: Kathi und Konsti, die zwei adligen Damen, mit Vorderbrandner und mir, ihren proletarischen Begleitern.
Im Kino saßen wir in einer Reihe: Vorderbrandner ganz links, neben ihm Kathi, dann Konsti und ich ganz rechts. Zu Beginn der Vorstellung nestelte Vorderbrandner ständig in seinem Stuhl herum, um Kathi näherzukommen. Soweit ich es mitbekam, mit mäßigem Erfolg. Ich weiß noch, dass mich der Film anfangs recht langweilte. Großes Schiff das untergeht, armer Mann der stirbt und reiche Frau die lebt. Dieser Plot erschien mir zu einfältig. Und an das Glück zwischen Mann und Frau glaubte ich sowieso nicht, weil ich meine Eltern als sehr unglücklich in ihrer Beziehung erlebte. Unser Deutschlehrer hatte uns Schüler damals belehrt, wie es in einer Beziehung so ist: Ist der Himmel heute voller Geigen, morgen ist die Hölle los! Ich bewunderte ihn dafür: Endlich einer, der die Wahrheit sagt. Danach hatte er mit uns Erich Fried gelesen: Es ist was es ist, sagt die Liebe. Und jetzt: saß ich in dieser Liebesschmonzette. Ich wollte das Leben sehen, den Himmel und die Hölle, nicht verkitschte Liebe!
Erst als sich Kate Winslet nackt auf die Couch legte, um von Leonardo di Caprio gemalt zu werden, wurde ich aufmerksam. Ich stellte mir vor, wie sich Konsti vor mir nackt auf die Couch legt. Mir wurde heiß. Ich weiß nicht wie es geschah: Plötzlich war meine Hand auf Konstis Oberschenkel. Ich erschrak. Sie aber legte ihre Hand mit zustimmender Geste auf meine. Jetzt wurde der Film dramatisch: Kate darf nicht sterben auf der Titanic, sonst stirbt Konsti für mich. Und Konsti war alles für mich. Es würde nie mehr eine andere Frau für mich geben als Konsti! Da war ich mir damals im Kino ganz sicher. Ich wünschte mir, dass der Film niemals zu Ende gehen würde.
Die Titanic brauchte lange zum Untergehen, aber irgendwann war der Film zu Ende. Wir wurden auf die Straße gespült. Die frische Luft war ernüchternd, tat aber auch gut. Wir eilten sofort zum Bahnhof, um den letzten Zug in unser Kaff zu erwischen. Vorderbrandner lief vorneweg, dahinter Kathi, Konsti und ich hintennach. Wir hielten uns an den Händen, Konsti und ich, als wir zum Bahnhof liefen. Es wäre mir egal gewesen, den Zug zu versäumen. Das wichtigste war, Konstis Hand nicht zu verlieren.
Einst waren Esel die Herrscher über die Geschöpfe der Welt und hielten sich die Menschen als Diener. Die herrschenden Esel züchteten ein Gemüse namens Passa, das ihre Lieblingsspeise war. Passa sah den heutigen Karotten ähnlich, doch weil die Esel es hauptsächlich in trockenen und kargen Gegenden anbauten, wo sie bevorzugt ihre Herrschaftsdomizile errichteten, war Passa von gröberer Konsistenz und bitterer im Geschmack als Karotten. Den Eseln jedenfalls schmeckte Passa vorzüglich. Mit dem Ende der Eselsherrschaft endete jedoch auch die Passa-Kultur. Die Pflanze gilt heute als ausgestorben.
Unter den Menschen, die den Eseln dienten, hatte es besonders ein Geschlecht zu höchsten Dienerwürden gebracht: Sprösslinge aus diesem Geschlecht waren der Esel liebste Diener. Als die Eselsherrschaft endete, brach mit einem Mal die Existenzgrundlage für dieses stolze Dienergeschlecht weg. Jahrhundertelang zogen seine Nachkommen wie Nomaden durch die Welt, bis sie schließlich in der Pfalz sesshaft wurden und dort eine neue Heimat fanden. Als es später üblich wurde, einen Nachnamen zu tragen, gab sich dieses Geschlecht, in Erinnerung seiner Wurzeln, den Namen Grautier.
Josef Grautier ist ein Sprössling aus diesem Geschlecht. Er ist in der Pfalz geboren. Bei einem Ausflug in das französische Zentralmassiv lernte Josef Marie kennen. Wenig später beschlossen die beiden zu heiraten. Josef zog aus der Pfalz in das kleine, hochgelegene Dorf im französischen Zentralmassiv, in dem Marie wohnt. Um sich besser zu integrieren, nannte er sich fortan Jean-Paul statt Josef.
Die Böden in der Gegend, in der Jean-Paul mit Marie nun wohnte, sind sehr karg und trocken. Es wachsen nur vereinzelt Bäume im weiten Grasland. Ab und zu durchziehen Buschreihen die Landschaft. Als Jean-Paul, wie Josef sich nun nannte, diese Landschaft betrachtete, bemerkte er, dass sie der ideale Lebensraum für Esel ist. Er besorgte sich daraufhin einen Esel und war sehr stolz darauf, die Familientradition der Grautiers wieder zu beleben, wenn auch mit umgekehrten Rollen. Jean-Paul nannte den Esel Belmondo, weil er seiner Meinung nach die Welt schöner machte.
Als Jean-Paul eines Tages eine Karotte in der Hand hielt und Belmondo das sah, fing das Grautier laut zu schreien an:
Jean-Paul ging zu Belmondo und hielt ihm die Karotte zum Fressen hin, doch Belmondo schnupperte nur kurz daran und wandte sich anschließend angewidert ab. Jean-Paul erinnerte sich, was seine Vorfahren ihm überliefert hatten und schlussfolgerte, dass die Karotte Belmondo wahrscheinlich an Passa erinnert und damit an die glorreichen Herrschaftstage seiner Gattung. Aber weil es eine Karotte ist und keine Passa, ist er enttäuscht und will sie nicht fressen.
Als Jean-Paul schon ein paar Wochen bei Marie lebte, klingelte es eines Tages an der Tür. Jean-Paul öffnete, und vor ihm stand der Bürgermeister des Dorfes mit einem Geschenk in der Hand. Der Bürgermeister sagte: „Schön, dass Sie, der berühmte Modeschöpfer, sich unser Dorf als neue Heimat ausgesucht haben!“
Jean-Paul verstand nicht und blickte hilfesuchend zu Marie. Marie kam an die Tür und sagte: „Mein Mann heißt Grautier, Herr Bürgermeister, nicht Gaultier. Sie verwechseln ihn.“
Irritiert wandte der Bürgermeister seinen Blick von Jean-Paul ab und dem Stall zu, wo er Belmondo sah: „Stimmt! Jetzt sehe ich es: Sie haben ein Grautier und kein Gaultier! Entschuldigen Sie!“ sagte er und ging mitsamt seinem Geschenk wieder davon.
Wenige Wochen nach dem Besuch des Bürgermeisters wiederum wurde Marie schwanger, wenngleich man diese beiden Ereignisse nicht zwingend miteinander in Beziehung setzen muss. Marie sagte zu Jean-Paul: „Mit all meinen Ex-Freunden habe ich versucht, ein Kind zu bekommen. Das halbe Dorf hat sich versucht. Nie hat es geklappt. Wieso sollte es ausgerechnet mit dir klappen? Das Kind ist wohl von Gott geschenkt!“
Einige Monate später, als es Winter wurde, bemerkte Jean-Paul, dass zu wenig Holz für die kalte Jahreszeit eingelagert war. Da Holz in der kargen Gegend um das kleine Dorf nicht verfügbar war, wollte er deshalb mit Belmondo nach Clermont-Ferrand reiten, um dort welches zu besorgen.
„Reite jetzt nicht nach Clermont-Ferrand!“ bat ihn Marie: „Bleib nicht so lange weg, jetzt, da das Kind jederzeit auf die Welt kommen kann.“
„Aber wenn das Kind erst da ist, ist es doch noch beschwerlicher für dich, wenn ich so lange weg bin!“ entgegnete Jean-Paul.
Schließlich einigten sie sich darauf, dass Marie mitkommt nach Clermont-Ferrand. Sofort brachen sie auf, um keine Zeit zu verlieren. Marie setzte sich auf Belmondo, Jean-Paul lief nebenbei her. Als es zu dämmern begann und sie noch das nächste Dorf erreichen wollten, um dort ihr Nachtlager aufzuschlagen, sagte Marie: „Ich glaube, durch das Herumgepoltere auf Belmondo ist gerade meine Fruchtblase geplatzt. Ich muss mich sofort hinlegen, die Geburt steht unmittelbar bevor!“
Jean-Paul versuchte sie zu überreden, es doch noch zu versuchen, bis zum nächsten Dorf zu gelangen. Nach einiger Diskussion lenkte er jedoch ein. Schließlich bekam Marie das Kind und nicht er. Er sah einen Schuppen am Wegesrand, in dem Heu und Stroh gelagert wurde und sagte zu Marie: „Leg dich in das Stroh! Ich suche derweil nach trockenen Buschzweigen, um uns ein kleines Feuer zu machen.“
Als Marie sich hingelegt hatte, machte Jean-Paul seine LED-Taschenlampe an und suchte in der Umgebung des Schuppens nach trockenen Buschzweigen. Plötzlich hörte er Geräusche von hastigen Schritten, die sich dem Schuppen näherten. Er richtete den Lichtschein der Lampe in Richtung der Geräusche und erblickte in ihm drei Männer, die, als sie vom Lichtschein getroffen wurden, laut zu seufzen begannen und sich enttäuscht auf die Knie warfen.
„Was ist denn mit euch los?“ fragte Jean-Paul.
„Wir dachten, wir hätten den Halleyschen Kometen erblickt. Dabei ist es nur der Schein einer LED-Taschenlampe!“ sagte einer der drei Männer.
„Wieso dachtet ihr, den Halleyschen Kometen erblickt zu haben?“
„Wir sind drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern“, sagte der zweite der Männer.
„Aus Kaiserslautern? Quasi aus meiner Heimat, der Pfalz!“
„Ja, aus Kaiserslautern“, fuhr der dritte fort. „Wir haben herausgefunden, dass der Halleysche Komet nicht erst, wie bisher angenommen, am 29. Juli 2061 das nächste Mal von der Erde aus sichtbar sein wird, sondern bereits am 6. Januar 2018. Außerdem gehen wir davon aus, dass der Komet vom französischen Zentralmassiv aus am besten zu sehen sein wird. Deshalb sind wir aus Kaiserslautern hierhergekommen.“
Jean-Paul hielt etwas verduzt seine LED-Taschenlampe in der Hand, deren Schein noch immer auf die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern gerichtet war, als einer der drei ausgerechnet eine Karotte aus seiner Tasche holte. Belmondo fing daraufhin natürlich laut zu schreien an. Alle Beschwichtigungen von Jean-Paul an das Tier halfen nichts.
„Das Grautier hat die Passagier!“ rief Jean-Paul durch das Geschrei zu den Wissenschaftlern: „Es ist wohl das unverarbeitete Trauma des Herrschaftsverlusts, das ihn immer wieder heimsucht. Vielleicht können Sie das mal näher untersuchen!“
Als der Wissenschaftler die Karotte wieder in seine Tasche gesteckt und Belmondo sich einigermaßen beruhigt hatte, hörte man Marie aus dem Schuppen rufen: „Jean-Paul, das Kind ist geboren!“
„Entschuldigen Sie mich! Meine Frau hat soeben ein Kind geboren“, sagte Jean-Paul zu den Wissenschaftlern und lief eilig in den Schuppen.
„Ist das nicht ein Wunder!“ sagte einer der Wissenschaftler, „dass wir genau zu dem Zeitpunkt hier sind, wenn ein Kind geboren wird! Das ist noch viel schöner, als den Halleyschen Kometen zu sehen!“
Daraufhin sammelten sie trockene Buschzweige. Sie entzündeten mit den Zweigen ein kleines Feuer und warfen zur Feier des freudigen Ereignisses Weihrauchharz und Myrrhe in die Flammen. Als Jean-Paul vom Schuppen aus mit der LED-Taschenlampe auf den heiligen Rauch leuchtete, sah es tatsächlich so aus, als sei dies der Schweif des Halleyschen Kometen.
Durch den Lichtschein angelockt, kamen Schafhirten mit ihrer Herde zum Schuppen. Als die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern ihnen von der Geburt des Kindes erzählten, nahmen sie ihre Instrumente und spielten dem Neugeborenen eine Serenade:
Als ich erwachsen wurde, merkte mein Vater, dass er mich nicht weiter würde beschützen können vor den Schlägen dieser Welt, dass er mich entlassen muss ins Leben, auf die Gefahr hin, dass ich Schläge abbekomme. Die Angst, dass sein Sohn Schläge abbekommen könnte, solche Schläge abbekommen könnte wie er, diese Angst hat er nicht ertragen. Auch das Trinken half nicht mehr: Diese Angst wurde zu groß. Mein Vater hat nie gelernt, Dinge auszusprechen. Deshalb blieb er allein in seiner Angst. Deshalb hat er es nicht mehr ausgehalten. Deshalb hat er beschlossen, zu gehen, leise, ohne etwas zu sagen. Wurde einfach krank, todkrank, starb und verstummte endgültig.
Viktor Frankl sagt, es gibt keine Täter und keine Opfer. Es gibt nur Menschen, die sich zu Tätern machen und andere zu Opfern und Menschen, die sich zu Opfern machen und andere zu Tätern. Aber sie bleiben immer Menschen. War mein Großvater also ein Mensch, der sich zum Täter gemacht hat und andere zu Opfern und mein Vater einer, der sich zum Opfer gemacht hat und andere zu Tätern? Oder sollte ich endlich aufhören, in Täter- und Opferkategorien zu denken?
Das Zimmer meines Therapeuten, in dem die Blätter auf dem Boden liegen, verwandelt sich in eine Lichtung, die vom Vollmond beschienen wird. Die Bäume stehen wie stumme Wächter ringsherum. Da erscheint mein Großvater auf der Lichtung. Er ist nicht so, wie sie mir von ihm erzählt haben, nämlich besoffen und schlagfertig, sondern klar und ruhig. Mein Großvater sagt: Natürlich bin ich gegen den Krieg, natürlich. Doch ich bin nicht Herr geworden über den Krieg, über den Krieg in mir. Stattdessen haben andere ihn abgekriegt: die Juden. Dein Vater. Dann geht er fort, über die in mondblau getränkte Lichtung hinweg, auf der ich jetzt meinen Vater stehen sehe. Mein Großvater nimmt meinen Vater in den Arm, als wäre der Krieg nie ein Thema gewesen, sondern nur die Liebe, die Liebe, die Liebe. Ich blicke zur Erde: Ich rieche und spüre sie in ihrer nächtlichen Feuchte und Kühle. Ich denke an die Juden, auf die mit dem Finger gezeigt wurde, auf die die Waffen gerichtet wurden, die getötet wurden. Ich denke an die Friedfertigkeit predigende Christenheit, die seit Jahrhunderten an das Morden gewöhnt ist.
Und nun zum dritten Zettel, sagt der Therapeut und holt mich von der Lichtung ins Zimmer zurück: zu dir! Entsetzt blicke ich auf den Zettel, also auf mich. Was soll ich denn nun machen in diesem emotionalen Chaos, in diesem Jammertal der Ahnen? In diesem verworrenen Krieg mit meinen Vätern? Die Wut hat mich müde gemacht, sage ich. Ich habe keine Kraft mehr, auf meinen Vater und meinen Großvater wütend zu sein. Ich finde keine Kraft bei meinen Vätern, bei diesen Verlierern! Wie soll ich Kraft haben für mein eigenes Leben? Verzweifelt werfe ich mich auf den Boden und weine, weine, weine. Dann richte ich mich auf und schreie, schreie, schreie. Meine Fassade der Friedfertigkeit zerbröselt. Der Krieg ist endgültig ausgebrochen in mir und überwältigt mich. Alle Versuche aber, die Angriffe gegen meinen Großvater fortzusetzen, laufen ins Leere. Ich bin zurückgeworfen auf mich selbst. Ich kehre zurück zur mondblauen Lichtung, auf der ich eben meinen Großvater getroffen habe. Ich sehe ihn am anderen Ende stehen, am Waldrand, bei den schwarzen Bäumen der Nacht, mit meinem Vater. Dort sind sie also stehen geblieben. Warten sie auf mich? Ich denke mir: Ihr könnt mich doch jetzt nicht alleine lassen! Ich brauche euch! Verschwindet nicht im Wald, wartet! Ich stehe auf und laufe, so schnell ich kann. Ich laufe auf die beiden zu und habe das Gefühl, gleich erbarmungslos in sie hineinzustoßen, mit einem heftigen Aufprall, doch plötzlich heben sie mich mit einer eleganten, kraftvollen Bewegung auf ihre Schultern und laufen mit mir weiter.
So reite ich auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die mondblaue Nacht. Es ist wie ein Traum, aber es ist wahr: Ich reite auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die Nacht. Ich spüre ihre Kraft unter mir. Sie tragen mich. Es tut gut, die Dinge etwas erhöht zu sehen. Es tut gut, nicht im Sumpf der Trauer zu kriechen, sondern die Luft der Höhe zu atmen.
Wieder im Zimmer meines Therapeuten angekommen, fällt mir als erstes auf, wie die Sonne durch das Fenster scheint. Der Krieg in mir scheint aufgelöst. Und wenn nicht, herrscht zumindest ein Waffenstillstand, den ich in dieser Qualität noch nicht kenne. Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine? Den gilt es schnellstens zu befrieden, und ich glaube, es liegt in meiner Hand. Ich hoffe nur, dass die Fronten zwischen ihr und mir mittlerweile nicht zu verhärtet sind, jetzt, wo sich die Fronten in mir endlich gelockert haben und der Krieg dem Frieden eine Chance zu geben scheint.
Was berechtigt mich, meinen Großvater anzuklagen? Was weiß ich über meinen Großvater? Er war Nationalsozialist, von Anfang an. Das wurde immer wieder erzählt, denn sie brauchten einen, an dem sie sich reinwaschen konnten, um zu vergessen, dass sie selber Nazis waren. Also war mein Großvater der böse Nazi in der Familie. Also war mein Großvater der böse Nazi im Dorf. Es ist immer gut, einen zu haben, dem man Unangenehmes zuschieben kann, um es bei sich selbst nicht sehen zu müssen. Ich zeige mit dem Finger auf meinen Großvater.
Ich sehe meinen Großvater, wie er nachhause kommt vom Wirtshaus, stockbesoffen. Er hat zugeschlagen, der böse Nazi, hat seine Frau und seine Söhne geschlagen, unerbittlich und unversöhnlich. Ein böser Nazi schlägt zu, was denn sonst? Ich sehe meinen Vater, wie er sich duckt vor den Schlägen. Ich sehe, wie mein Großvater endlich von den Schlägen ablässt und erschöpft ins Bett fällt und eine quälende Ruhe einkehrt. Die Nacht vergeht ohne Schlaf, und im Morgengrauen möchte jeder glauben, dass nicht geschehen ist, was geschehen ist. An den Tagen klebte ein Geruch wie verschüttetes Bier. Auf diesen Geruch wurde neues Bier geschüttet.
Die Zettel meiner Väter auf dem Boden, und ich beginne zum ersten Mal, an meiner Friedfertigkeit zu zweifeln. Denn die Zettel auf dem Boden machen mich wütend. Aber ich bin nicht bereit, meine Friedfertigkeit aufzugeben. Sie ist mein Markenzeichen. Ich bin der nette Emil, der der Welt nichts Böses tut. Und Krieg – Krieg ist ganz weit weg von mir. Der Therapeut zeigt unterdessen auf den anderen Zettel am Boden und fragt, was es denn mit diesem Zettel auf sich habe? Das ist mein Vater, sage ich, aber das interessiert mich nicht. Mein Vater hat hier nichts zu sagen, denn mein Vater hat sowieso sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten, hat zu allem geschwiegen. Das habe ich nie verstanden, sage ich, dass mein Vater sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten hat, dass er geschwiegen hat, mehr noch, ich habe mich maßlos darüber geärgert. Ich merke, wie ich schon wieder wütend werde. Da fällt mir eine kleine Episode ein, die durch meine Wut hochkommt: Als Pubertierender habe ich meinen Vater mal so lange genervt, bis ihm die Hand auskam und er mir eine gescheuert hat. Das war einer der schönsten und intensivsten Momente mit meinem Vater. Ich habe ihn gespürt. Ich habe ihn erlebt als einen Mann der Tat. Sonst war er wie ein lebloses Opfer. Warum war er sonst so leblos? Haben ihn die Schläge meines Großvaters so leblos gemacht? Ich koche vor Ärger und Wut über die Leblosigkeit meines Vaters und sehe meine Friedfertigkeit davonschwimmen. Ist der Krieg in mir, und ich kann gar nicht gegen ihn sein, weil er ein Teil von mir ist? Sollte ich vorher den Krieg mit mir beenden, bevor ich den Krieg von anderen anklage?
Refugees welcome! Dieser Spruch regt mich auf. Hier ist gar niemand welcome, denn hier ist Krieg. Ich gehe die Straße entlang und sehe in die Gesichter, die mir entgegenkommen. Die meisten sind angespannt als befänden sie sich mitten im Krieg, sodass ich annehmen muss, dass sie sich im Krieg befinden. Doch welcher Krieg wird hier ausgefochten? Woher diese Abwehrhaltung? Refugees are not welcome, natürlich nicht. Scheiß Islamisten, kommt bloß nicht hierher, sondern bleibt dort, wo ihr herkommt! Wenn ihr hier seid, zeigt ihr uns nämlich, dass wir Scheiß Christen sind. Das halten wir nicht aus. Mit Kriegen kennen wir uns aus in Europa, können eine jahrhundertelange Erfahrung vorweisen. Aber wir wollen diese Erfahrung vergessen, leugnen, und jetzt kommt ihr daher und zeigt uns gnadenlos, wie kriegserfahren wir sind. Warum wir so kriegserfahren sind? Weil wir geil sind auf Krieg. Krieg bedeutet, jemand anderen zu finden, auf den ich meine Waffen richten kann, auf den ich mit dem Finger zeigen kann. Ablenkung von mir selbst, das ist die oberste Maxime, auch wenn andere dabei krepieren. Und wenn das nicht hilft, dann hilft nur: Saufen, saufen, saufen, bis ich nichts mehr spüre.
Mein Vater hat nicht schlimm gesoffen. Er hat diskret gesoffen, meist im Keller. Er schämte sich, dass die Bierflasche sein Rettungsanker war, aber er konnte nicht von ihr lassen. Er hat auch nicht geschlagen im Suff, nie. Lieber trank er noch ein Bier, klammerte sich noch fester an die Flasche, bevor er auf die Idee kam zu schlagen. Er hatte Angst vor Schlägen, davor, welche abzubekommen und davor, selbst zu schlagen. Er wollte mich beschützen vor allen Schlägen dieser Welt. Er hatte panische Angst vor den Schlägen dieser Welt, solche Angst, dass er Angst hatte vor dem Leben als ganzes. Als Dreijähriger die Bomben zu sehen, die die Stadt zerstören, und die Angst, der eigene Vater könnte es sein, den sie getroffen haben; danach den Vater wiederzusehen, aber seinen Schlägen ausgesetzt zu sein, das war zu viel, das hat er sein Leben lang nicht verkraftet. Das hat ihn stumm gemacht. Das hat ihn an die Bierflasche geklammert. Es ist leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um die Schläge zu vergessen. Aber die Schläge gehen weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.
Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine hat mich zu meinem Therapeuten geführt. Alles tobt zwischen ihr und mir, dabei bin ich doch der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Warum tut Josefine mir das an? Womit habe ich das verdient?
Krieg? Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Manchmal werde ich wütend wegen der Kriege, wegen dem Krieg, der noch immer in den deutschen Köpfen ist. In meiner Wut bekomme ich einen Hass auf die Juden. Die Juden sind die Provokateure der Weltgeschichte. Erlöstes Volk – das ich nicht lache! Sie sind Menschen wie du und ich, die sich zu Opfern hochstilisieren. Ihr Opfer, ihr! Manchmal regt sich in mir eine gewisse Empathie für den Bastard Hitler. Hat er nicht getan, was unausweichlich war? Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, wäre da nicht Hitler gewesen! Was für eine Lüge! Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, weil da Hitler gewesen ist! Schon besser! Hitler als Stellvertreter der Deutschen, ein Mann des Volkes, der seinen Kopf hingehalten hat für das Volk. Das Volk hat ihn bereitwillig unterstützt. Geh voran, Bastard, und tu endlich, was wir schon lange tun wollten! Ablenkung von der eigenen Not tut immer gut. Da kommt der Jude gerade recht. Da schauen wir lieber auf den Juden und zeigen mit dem Finger auf ihn, anstatt auf uns zu schauen. Wir Täter, wir!
Dachau? Lemberg? Stalingrad? Ich weiß nicht, wo er war. Ich weiß nicht, ob er Juden hasste oder Nazis liebte. Sie sagten und sagen es mir nicht. Er kam nachhause, mein Großvater, haben sie gesagt. Aber von wo er kam, haben sie nicht gesagt. Er war nicht geläutert, haben sie gesagt, er war und blieb der Nazi. Vielleicht wollten sie gar nicht, dass er nachhause kam, aber er kam nachhause. Kam nachhause und war nicht mehr derselbe. War verstört und hat sich dem Alkohol hingegeben. Es war leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um den Krieg zu vergessen. Aber der Krieg geht weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.
Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Ich bin der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Doch etwas tobt in mir, beständig. Ich will es nicht Krieg nennen, doch nicht Krieg, nein, das ist ein zu krasses Wort, das ich ungern in den Mund nehme, eher innere Unruhe, die mich in meinem friedfertigen Dasein stört. So sage ich es dem Therapeuten. Ich sage, dass ich es nicht mehr aushalte, nicht nur mit Josefine, nein: dass ich insgeheim meine Mutter nicht mehr aushalte, dass ich sie hasse dafür, dass sie mich auf diese Welt gebracht hat, in der nur der Krieg tobt und ich als friedfertiger Mensch völlig fehl am Platz bin.
Ich habe den Eindruck, mein Therapeut will mich nicht hören. Er geht nicht ein auf meine Klagen über meine Mutter, sondern redet von meiner väterlichen Linie und davon, dass Hass auf die Frauen nur entsteht, wenn man sich als Mann selbst nicht liebt. Er legt drei Zettel auf den Boden und sagt: Ein Zettel bist du, einer ist dein Vater, einer ist dein Großvater.
Ich habe meinen Großvater nie gekannt. Er ist gestorben, als selbst mein Vater noch ein Kind war. Er war 45 Jahre alt, als er gestorben ist. Da war der Krieg seit zehn Jahren vorbei. Zehn Jahre hat er den Krieg überlebt, an dem er, wie ich vermute, gestorben ist. Zehn Jahre hat er seinen Leib noch weiter geschleppt durchs Leben, obwohl er innerlich bereits gestorben war. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, warum er so früh gestorben ist, aber ich glaube es zu wissen: Er hat sich zu Tode gesoffen. Nach zehn Jahren hatte er es endlich geschafft: Genug gesoffen, um zu sterben. Der Zettel, der da als mein Großvater auf dem Boden liegt, wird lebendig, und ich werde wütend. Es ist Krieg im Raum. Ich bin im Krieg mit meinem Großvater. Ich fühle mich bedroht in meiner Friedfertigkeit. Mein Großvater bedroht diese Friedfertigkeit. Ich zeige mit dem Finger auf ihn.
Neben mir der Nachmittag, nicht mit mir. Ich stehe neben ihm, als wäre ich aus ihm herausgefallen. Er vergeht ohne mich, und ehe ich mich berapple, ist er schon wieder vorbei. Es kommt der Abend, aber auch mit ihm ist es nicht besser. Abweisend und kalt präsentiert er sich mir und vergeht, ohne das ich ihn leben kann. Dann kommt endlich die Nacht, in der ich mich meiner Muse hingeben kann – der Schlaflosigkeit. In ihr finde ich Zeit für mich, werde nicht getrieben vom Getriebe des Tages. In ihr finde ich Zeit, Geschichten wie diese zu fabulieren:
Es war einst ein Sohn, dessen Vater hieß Rudolf Ruf. Zu Ehren des Vaters wurde der Sohn Rudolf genannt, zu Ehren des Familiennamens Rufus. Der Sohn hieß also Rudolf Rufus Ruf. Später ging der Sohn ins Verlagsgeschäft und gründete den rururu-Verlag.
Oder ich tauche ein in Zeilen wie diese:
Im welken Walde ist ein Vogelruf, der sinnlos scheint in diesem welken Walde. Und dennoch ruht der runde Vogelruf in dieser Weile, die ihn schuf, breit wie ein Himmel auf dem welken Walde. (Rilke)
Ich stelle mir vor, wie ich bin, in diesem welken Walde, hineingeschmiegt in den Vogelruf, der mich trägt.
All das ermöglicht mir meine Schlaflosigkeit. In ihr finde ich zu mir, bin ganz ich selbst.
Nach einer Nacht voller Müßiggang mündet bald der Morgen vor meinem Fenster. Der Vormittag liegt vor mir. Ich sollte dringend schlafen, bevor mich der Sog des Tages wieder erfasst, ich mich darin verliere und wieder neben mir stehe. Doch halt:
Süße Schlaflosigkeit, weiche noch nicht – du bist so schön: Ich liebe dich!
Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, hatte schlechte Laune. Hatte er sich zu viel erwartet vom Besuch des Schlosses Nymphenburg? Ja, er hatte sich zu viel erwartet: Er hatte sich nichts weniger als die Offenbarung der Schönheit erwartet. Seine Realität war an seinen Erwartungen zerbrochen. Seine Begleiterin Sophia war auf die Toilette gegangen, und so stand er alleine in den Parkanlagen. Sein Blick schweifte nach Westen, den Schlosskanal entlang. Er dachte an Otto, den unglücklichsten König Bayerns, über den er gestern gelesen hatte.
Sophia hatte vom Süden gesprochen; dass der Norden ein schöner Ort ist, weil man von dort nach Süden blickt. Der Süden: Sehnsuchtsort. Da schoss es ihm plötzlich siedend heiß durch den Kopf: Ziemlich genau südlich von hier, von Nymphenburg, liegt Schloss Fürstenried, auf dem König Otto seine geisteskranken Jahre, also den Großteil seines Lebens, verbracht hatte! Als Sophia von der Toilette zurückgekehrt war, bestürmte er sie: „Sophia, lass uns zum Schloss Fürstenried laufen! Hier… hier sind mir zu viele Leute. Und dort, in diesem südlichen Einöd, wird es sehr schön sein!“
„Ach Oskar! Sind wir nicht schon genug gelaufen heute? Ich würde gerne hier mit dir einen Kaffee trinken!“
„Ich trinke keinen Kaffee“, entfuhr es Oskar. „Wenn du nicht gehen willst, dann… dann fahren wir hin, ganz herrschaftlich, mit Kutsche, wie früher die Könige!“
„Du Spinner!“ sagte Sophia, fühlte sich aber gleichzeitig geschmeichelt.
Oskar ging ins Marstallmuseum am Schloss und fragte, ob es möglich sei, eine der ausgestellten Kutschen für eine Fahrt nach Fürstenried zu verwenden. Unmöglich, die Gefährte sind zu prächtig und wertvoll, um mit ihnen zu fahren, hieß es. Zu prächtig! Um die Schönheit selbst zu erfahren, kann nichts zu prächtig sein! ärgerte sich Oskar. Aber es half nichts. Nach längerer Diskussion ließ das Museum eine Kutsche aus der Stadt kommen. Ungeduldig stand Oskar am Rondell, um die Kutsche zu erwarten, während Sophia die Schwäne im Wasser beobachtete. Dann kam die Kutsche endlich. Oskar befahl in strengem Ton, den königlichen Weg nach Schloss Fürstenried zu nehmen.
„Den königlichen Weg?“ fragte der Kutscher verdutzt.
„Stellen Sie sich nicht so an! Stellen Sie sich stattdessen vor, Kurfürst Max Emanuel säße in Ihrer Kutsche, oder König Ludwig II, oder König Otto. Wie würden Sie diese Herrschaften nach Fürstenried bringen?“
Der Kutscher straffte die Zügel und setzte das Fuhrwerk Richtung Auffahrtsallee in Bewegung.
„Stopp! Nicht nach Osten! Oder wollen Sie uns zur Residenz bringen? Fahren Sie sofort scharf nach Süden, nach Fürstenried!“
Der Kutscher schwenkte nach Süden, um eine kleine Gasse aus dem Schlossrondell zu nehmen, die nur von Fußgängern und Radfahrern benutzt wird. Allerdings versperrte ein betonierter großer Blumentopf die Ausfahrt über diesen Weg. Oskar wurde wütend und schimpfte. Ein Blumentopf wird uns doch nicht daran hindern, nach Fürstenried zu fahren! Er stieg aus der Kutsche, um den Topf zu verrücken. Zwei Männer kamen den Weg entlang und halfen ihm, sodass sie es zu dritt schließlich schafften, ihn aus dem Weg zu räumen. Die Kutsche konnte passieren.
„So, wo wollen Sie jetzt hin?“ fragte der Kutscher etwas genervt.
„Nach Fürstenried natürlich!“
„Ja, aber auf welchem Weg? Welcher ist der königliche Weg?“
„Fahren Sie die Kutsche oder ich? Fahren Sie uns nach Fürstenried, wie Sie einen König nach Fürstenried fahren würden!“
Der Fuhrmann schüttelte den Kopf und fuhr die Hirschgartenallee entlang, bog dann rechts ab zur Laimer Bahnunterführung. Durch diese dunkle Unterführung erreichten sie die Fürstenrieder Straße. Die Fürstenrieder Straße ist eine mehrspurige Straße, die etwa fünf Kilometer lang schnurgerade nach Süden führt. Ursprünglich, vor fast dreihundert Jahren, als herrschaftlicher Verbindungsweg zwischen Nymphenburg und Fürstenried angelegt, führte sie damals über weite Wiesen und durch dichte Wälder. Heute ist sie eine stark befahrene westliche Tangente der Stadt und durchgehend bebaut, überwiegend im Nachkriegsstil.
Die Kutsche zuckelte langsam dahin, von Verkehr umtost, mit zwei Pferden vornedran. Inmitten dieses tosenden Verkehrs erfasste Oskar ein Gefühl der Geborgenheit. Er blickte zu Sophia, als würde er sie erst jetzt an seiner Seite bemerken. „Schön ist es!“ entkam es seinen Lippen, und ihm wurde leicht schwindelig dabei, als dieser Satz seine Lippen passierte, so ungewöhnlich klang er in seinen Ohren.
„Schön? Wenn du die Fürstenrieder Straße meinst, fällt es mir gerade schwer, sie schön zu finden. Andererseits: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.“ Sophia sagte das und schaute dabei Oskar in die Augen, mit einem Lächeln, das an diesem Tag nicht von ihr zu weichen schien, möge passieren was wolle.