Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, mit der Absicht, meine Gedanken in Schrift zu stellen, denn schließlich entspricht es meinem Selbstverständnis, ein Schriftsteller zu sein.
Ich stellte die Schrift mit der Hand in mein Notizbuch, beschloss jedoch nach ein paar Zeilen, meinen Computer für die weitere Schriftstellerei zu benutzen. Bevor ich den Texteditor öffnete – das nur nebenbei – hörte ich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, und da es sich bei diesem Album um ein Konzeptalbum handelt, sah ich mich gezwungen, es bis zum Ende anzuhören. Danach öffnete ich den Texteditor, um die Schriftstellerei in meiner Lieblingsschrift Courier New fortzusetzen.
Als ich den geöffneten Texteditor vor mir sah, fiel mir ein, dass ich seit zwei Tagen nicht mehr nach der Post gesehen hatte. Dieser Gedanke wich nicht von mir, sodass ich beschloss, bevor ich mit dem Stellen der Schrift fortfahren würde, dem Gedanken nachzugehen und nach der Post zu sehen. In der Post befand sich ein Brief meiner Rechtsschutzversicherung, mit der Aufforderung, die fällige Prämie zu bezahlen. Diese Aufforderung bereitete mir Unbehagen, sodass meine Gedanken um das Versicherungswesen zu kreisen begannen und ich die Idee hatte, Schrift mit Gedanken über das Versicherungswesen zu stellen.
Als ich wieder vor dem Texteditor saß, hörten die Gedanken auf, um das Versicherungswesen zu kreisen und konzentrierten sich stattdessen auf das Wort Rechtsschutzversicherung. Dieses Wort besteht aus vierundzwanzig Buchstaben. Vierundzwanzig ist eine gut teilbare Zahl. Da bei Courier New alle Buchstaben gleich breit sind, würden sich diese Teilungen als optisch ansprechendes Resultat präsentieren. Meine Schriftstellerei über das Versicherungswesen erschöpfte sich deshalb auf eine Worttrennungsstudie des Wortes Rechtsschutzversicherung. Diese Studie erstreckt sich von radikaler Horizontalität bis zu radikaler Vertikalität:
Rechtsschutzversicherung
Rechtsschutz
versicherung
Rechtssc
hutzvers
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Rechts
schutz
versic
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Rech
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Eigentlich will ich nichts sagen, denn alles was ich sage, sind Mutmaßungen von dem was ich glaube, das die Wirklichkeit ist. Ich erlebe die Wirklichkeit als ein äußerst fragiles gefühlsbasiertes Gedankenkonvolut, das ständig seine Gestalt ändert; das ständig in Bewegung ist, und ehe man es begreift, einem wieder entwischt. Ich denke die Wirklichkeit gerne als Felsen, auf dem ich stehe, aber ich fühle sie wie Wasser, in dem ich treibe.
Als Nana und ich uns das erste Mal begegneten, trieb ich im Wasser, angenehm, in einem warmen kleinen See, und Nana stand, zumindest was meine Wirklichkeit betrifft, auf einem Felsen. Ich wünschte mir sofort, dass Nana zu mir ins Wasser kommt. Ich fand sie schön und begehrenswert, und wie immer, wenn ich eine Frau schön und begehrenswert finde, kann ich das nicht näher beschreiben: Es ist einfach so. Ich wünschte mir also, dass Nana zu mir ins Wasser kommt. Aber sie kam nicht. Sie lächelte mir freundlich zu, aber sie blieb auf dem Felsen stehen.
Bei jetziger Betrachtung der Dinge sehe ich die Lage allerdings etwas komplexer. Jetzt denke ich, dass ich mir gar nicht wünschte, dass Nana zu mir ins Wasser kommt, sondern dass ich sie so schön und begehrenswert fand, weil sie auf dem Felsen stand und nicht ins Wasser kam. Die Wirklichkeit ist eben ein gefühlsbasiertes Gedankenkonvolut, dass sich schwer begreifen lässt und sich immer wieder neu erfindet.
Doch zurück zu meiner ersten Begegnung mit Nana. Nana wurde begleitet von Boris. Boris sprang sofort zu mir ins Wasser, in den warmen kleinen See. Ich fand das sehr sympathisch, und wir lächelten uns zu. Doch ich war zu abgelenkt von der Schönheit Nanas, die nach wie vor auf dem Felsen thronte. Ich begehrte Nana so sehr, dass ich Boris nicht weiter beachtete. Wir verloren sofort wieder unseren Kontakt. Irgendwann drehte ich mich um und sah Boris am anderen Ufer des Sees aus dem Wasser steigen und in den angrenzenden Wald verschwinden.
Ich blieb im Wasser, im warmen kleinen See. Nana blieb auf dem Felsen stehen und sagte mir, dass Boris nun durch den Wald zum Meer läuft und sich im weiten Wasser verirren wird.
Aber das ist doch schrecklich! sagte ich. Sollen wir ihm nicht folgen und ihn daran hindern, dass er sich verirrt?
Ich habe Boote organisiert, die ihn suchen werden, sagte Nana kühl und bestimmt. Ob sie ihn finden, weiß ich nicht, sagte sie dann noch.
Ich blickte hinüber zum Wald, wo Boris aus dem See gestiegen war, und stellte mir hinter dem Wald das weite Meer vor. Ich bangte um Boris. Dann wanderte mein Blick zurück zu Nana. Ich fand sie schön und begehrenswert, wie sie auf ihrem Felsen stand. Gleichzeitig fand ich mich schön und begehrenswert, wie ich im Wasser trieb und bekam große Lust, gemeinsam mit Nana im Wasser zu treiben. Ich stellte mir vor, wie Nana zu mir ins Wasser springt, mit all der Weiblichkeit, die ich an ihr wahrnahm. Aber Nana zierte sich. Sie steckte ihre Zehen kurz ins Wasser, um dann zu beschließen, auf dem Felsen zu bleiben.
So trieb ich alleine im Wasser weiter. Boris will nicht an Land. Nana will nicht ins Wasser. So ist das eben. Mehr gibt es dazu im Grunde nicht zu sagen.
Brotlose Kunst – dieser Begriff schwirrt mir oft durch den Kopf. Vorderbrandner und ich können uns unser Schreibbüro nur leisten, weil wir alle möglichen anderen Jobs machen. Außerdem hat es uns sehr geholfen, dass Vorderbrandner, den ich inzwischen zu meinem Teilhaber gemacht habe, das Erbe seines reichen Onkels aus Amerika erhalten hat, das er fast vollständig in unser Büro investiert hat.
Trotzdem ist unsere Finanzlage nach wie vor angespannt. Deshalb freut es mich sehr, dass mich Modern Life – laut Eigendefinition das Onlinemagazin für modernes Leben – damit beauftragt hat, wöchentlich eine Kolumne zu schreiben. Es wurde mir gesagt, dass meine bisherigen Texte einen anderen Blick auf die Dinge werfen würden, was genau die Philosophie des Magazins widerspiegelt. Außerdem wurde ich damit beauftragt, fremde Texte ad-hoc zu redigieren, was ich als angenehme Möglichkeit für zusätzlichen, artverwandten Verdienst sehe.
Nach Ideen für meine Kolumne suchend, schlage ich die Zeitung auf und lese: Der neue Minister für digitale Infrastruktur fordert das flächendeckende Bürgerrecht auf Funklochfreiheit. Wenig inspiriert von dieser Nachricht, schlage ich die Zeitung wieder zu und beschließe, draußen nach Ideen weiterzusuchen. Ich stecke meinen Notizblock in meine Tasche zwecks Ideenskizzierung und fahre mit dem Fahrrad in den Nachmittag.
Weiße Wolken ziehen am blauen Himmel, als ich die alte Trambahntrasse entlangfahre, die nun ein mit Sträuchern und Büschen durchsetzter Grünstreifen ist. Als die U-Bahn noch oberirdisch fuhr, skizziere ich in meinen Block. An der ehemaligen Endhaltestelle angekommen, deren Schleife noch gut erkennbar ist, verkeilt sich die Schaufel eines Baggers in die Mauern eines Hauses, um es abzureissen. Ein älterer Mann beobachtet den Abriss und sagt mir in mein fragendes Gesicht: Das war ein Haus für Vertriebene aus dem Zweiten Weltkrieg – für Sudetendeusche, für Schlesier. Hier bin ich aufgewachsen. Neben dieser Abrissbaustelle steht ein Containerbau für Flüchtlinge aus dem Afghanistan- und Syrienkrieg. Flüchtlinge gestern und heute, notiere ich in meinen Block, als mögliches Thema für meine Kolumne.
Hinter diesen Bauten hört die Stadt auf und geht unmittelbar über in eine weite Heidelandschaft. Ich komme gerne hierher und streune im Weit der Heide: der weite Himmel über mir; die alleinstehenden Kiefern im Gräsermeer; die weidenden Schafe. Aufgeregt höre ich einen Kiebitz rufen. Der Kiebitz am Rande der Stadt, schreibe ich in meinen Ideenblock.
Erholt und voller Ideen komme ich zuhause an, als ich zuallererst auf mein Handy blicke. Ich hatte nämlich vergessen, es auf meinen Ausflug mitzunehmen. In meiner E-Mail-Inbox sechs neue Nachrichten von Modern Life:
Auftrag zum Redigieren des Textes: Hund macht Häufchen und Herrchen macht's nicht weg - Bürgerinitiativen fordern höhere Strafen
Auftrag zum Redigieren des Textes: Hitze im Frühling - steuert die Erde auf ihren Untergang zu?
Auftrag zum Redigieren des Textes: Brustvergrößerung - Tipps und Adressen
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Hund macht Häufchen und Herrchen macht's nicht weg - Bürgerinitiativen fordern höhere Strafen
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Hitze im Frühling - steuert die Erde auf ihren Untergang zu?
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Brustvergrößerung - Tipps und Adressen
Ich lege das Handy zur Seite und mache mir zunächst einen Teller Nudeln, um dann gestärkt die Aufträge abzuarbeiten. Als ich vom Essen zurückkomme, ist eine weitere E-Mail von Modern Life angekommen:
Betreff: Sperre Ihres Auftragskontos
Sie haben die vereinbarte Responsezeit für Ihnen erteilte Aufträge überschritten. Ihr Konto ist deshalb für weitere Aufträge gesperrt.
Hastig mache ich mich an die Arbeit. Mir fällt der Zeitungsartikel bezüglich Bürgerrecht auf Funklochfreiheit wieder ein und ich leite daraus eine Bürgerpflicht zur Funklochfreiheit ab. Ich werde mich deshalb in Zukunft dieser Pflicht gewissenhaft unterwerfen und mein Handy auf alle Ausflüge mitnehmen, um den schlechten Start bei Modern Life wieder auszubügeln.
So lebe ich nun seit einiger Zeit, Funklöcher tunlichst vermeidend.
Jetzt ist der Sommer da, Urlaubszeit! Ich informiere Modern Life, dass ich für zwei Wochen auf eine Mittelmeerinsel reisen werde und dabei meiner Pflicht zur Funklochfreiheit nicht nachkommen werde.
„Aber Sie werden Ihr Mobilfunkgerät doch auf die Insel mitnehmen!“
„Doch, ja“, sage ich: „Allerdings gibt es auf der Insel noch nicht das lückenlose Recht auf Funklochfreiheit.“
„Reden Sie keinen Unsinn! Das ist mittlerweile EU-weit durchgesetztes Recht!“
Gegen diese wasserdichte, kein Funkloch zulassende Aussage kann ich nichts einweden. Also muss ich die Hosen runterlassen und verrate Modern Life ein großes persönliches Geheimnis:
„Es ist ein Erholungsrital von mir, auf der Mittelmeerinsel am kilometerlangen Strand nackt auf- und abzulaufen. Ich habe festgestellt, dass ich so neue Energie tanke.“
„Aber Sie können Ihr Mobilfunkgerät doch mitnehmen bei Ihren Läufen!“
„Wo soll ich es denn einstecken, wenn ich nackt bin?“
Ich vernehme ein Zähneknirschen meines Gegenübers und denke mir: Das moderne Leben ist ziemlich angespannt.
Trotz dieser Anspannung werde ich schließlich auf die Mittelmeerinsel entlassen, mit der Erlaubnis, selbstkreierte Funklöcher am Strand aufzusuchen. So nehme ich jedenfalls an.
Auf der Reise auf die Insel, als das Schiff auf hohe Wellen trifft, bange ich plötzlich um mein Recht auf Nacktheit. Würde die Bekleidungsindustrie eine Bekleidungspflicht einführen, um so ihren eigenen Absatz anzukurbeln und gleichzeitig der Medienindustrie bei ihrem Kampf um Funklochfreiheit beizustehen? Auf der Insel angekommen, öffne ich aus schlechtem Gewissen sofort die Inbox für meine E- Mails. Ich habe eine neue Nachricht von Modern Life erhalten:
Betreff: Beendigung Ihres Auftragsverhältnisses
...hat unsere Redaktion festgestellt, dass die Themenauswahl Ihrer Kolumne (Als die U-Bahn noch Trambahn war, Schlesische und afghanische Flüchtlinge und ihre Behausungen am Rande der Gesellschaft, der Kiebitz am Rande der Stadtusw.) nicht konform ist mit den Inhalten unseres Magazins. Wir haben deshalb beschlossen, das Auftragsverhältnis mit Ihnen zu beenden.
Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, ist ein Lebensgrundsatz eines Mannes namens Fälscher. Die Statistik, aus der hervorgeht, dass Fliegen mit dem Flugzeug sicherer ist als Fahren mit dem Fahrrad, so Fälscher, geht davon aus, dass Terroranschläge auf Flugzeuge und militärische Abschüsse von selbigen keine Unfälle sind und daher nichts mit Sicherheit zu tun haben.
Ein Mann namens Stürzer, der den Ausführungen Fälschers aufmerksam gelauscht hat, meint daraufhin: Dann war es also kein Unfall, als ich – die Ostukraine mit dem Fahrrad durchquerend – von selbigem stürzte, weil ich von russischen Militärs beschossen wurde.
Nein, ganz sicher nicht, entgegnet Fälscher Stürzer: Wenn Sie vom Fahrrad stürzen, ist das allein auf ihren Namen zurückzuführen.
Das kann ich so nicht stehen lassen, sagt Stürzer. Es ist nämlich so: Stürzen bedeutete im Mittelhochdeutschen so viel wie heute schütten. Der Stürzer war der Mann, der das Korn vom Feld zur Mühle brachte und es zum Mahlen hineinschüttete. Hätte man damals unser heutiges Deutsch gesprochen, wären meine Vorfahren Schütter genannt worden.
Sie würden heute Schütter genannt werden, sagt Fälscher daraufhin, das schüttere Haar von Stürzer betrachtend.
Vielleicht, meint Stürzer, die Schütterkeit seines Haars mit seinen Fingern betastend. Aber in zehn Jahren müsste ich mich vielleicht von Schütter in Glatzmann umbenennen.
Sagen Sie: Wie haben Sie eigentlich den Beschuss der russischen Militärs in der Ostukraine auf ihrem Fahrrad überlebt? fragt Fälscher nun Stürzer.
Ich habe mich so erschrocken, dass ich rechtzeitig vom Fahrrad stürzte und mich alle Geschosse verfehlten.
War es dann vielleicht doch ein Unfall? räsoniert nun Fälscher, und nimmt sich vor, die Unfallstatistiken in der Ostukraine zu seinen künftigen Fälschungsobjekten zu machen.
Es war der Frühling, dem ich begegnete, ja, er muss es gewesen sein. Aus dem Boden sprossen die Veilchen und Schlüsselblumen. Beim Blick nach oben durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm am Himmel.
Mitten in diesem Frühling dachte ich an das Bad mit Annabel, das ich jedoch im Sommer verortete. Mir fiel ein, dass wir beide nackt waren bei diesem Bad, und es erschien mir merkwürdig, dass mir das jetzt einfiel, dass wir nackt waren bei diesem Bad, denn bisher waren nackt und nichtnackt keine Kategorien für mich gewesen, was dieses Bad betraf. Während ich an dieses Bad mit Annabel dachte, fand ich mich plötzlich im Bach wieder. Ich badete im Bach. Durch die Frühlingsluft erschien, als ob sie wusste, dass ich gerade an sie gedacht hatte: Annabel. Sie stand am Ufer, und als ich sie sah, dachte ich wieder an unser Bad im Sommer, als sich alles öffnete und der weite Wind des reifen Sommers über das Getreidefeld strich. Wir hatten viel mehr entblößt als unsere Körper. Wir waren unterwegs zu unseren Seelen, zum Grund unseres Seins. Dabei begegneten wir einem Wirrnis an Gefühlen, und aus Angst, uns in diesem Wirrnis zu verstricken, flohen wir vor diesem reifen Sommertag, nicht ahnend, dass die Flucht die Verstrickung vergrößert.
Doch zurück zu meinem Bad im Bach. Ich badete also im Bach, im Frühling und nicht im Sommer. Annabel stand am Ufer und zog ihre Jacke fester an sich. Ja, ich bin mir sicher, sie zog ihre Jacke fester an sich und ich dachte: Es muss kalt sein, wenn Annabel ihre Jacke fester an sich zieht und ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden. In diesem Moment, als ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden, begann Annabel zu laufen, über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Sie tanzte und drehte sich, leicht wie der Wind. Sie begann sich auszuziehen, bis sie nackt war, tanzte und drehte sich weiter. Ich stieg aus dem Bach und lief zu Annabel. Als ich näherkam, bemerkte ich, dass sie weinte und schluchzte, und ich erwartete von mir, dass ich sage: Wein doch nicht, Annabel!, aber ich sagte nichts. Ich fand das Weinen und Schluchzen schön. Es hatte etwas Befreiendes und strich wie der weite Wind des reifen Sommers über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Ich betrachtete Annabel und strich mit meinen Händen über ihre Haut. Sie lächelte.
Ich erschrak, ohne einen Grund dafür zu haben, ich erschrak grundlos und sagte: Nein Annabel, das sind nicht die Knospen des Frühlings! Das sind die reifen Früchte des Sommers! Ich lief davon und Erdwälle taten sich vor mir auf, riesige Erdwälle. Ich grub mich geradewegs hinein in diese Erdwälle, tiefer und tiefer, und es wurde dunkler und dunkler. Ich grub weiter und weiter, bis ich ein kleines Licht in der Ferne sah. Ich kämpfte mich vorwärts zu diesem Licht, und als ich es erreicht hatte, war ich umringt von einer Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm über mir und dachte: Ein Sommer mit Annabel, das wäre schön!
Da ist eine immerwährende Geschichte, sage ich, und frage mich im selben Moment, wo sie eigentlich ist, die immerwährende Geschichte. Auf meinen Lippen, mit denen ich sie spreche, oder in meinen Fingern, mit denen ich sie schreibe? Mich an meinen Traum erinnernd, komme ich zu der Vermutung, dass sie in meinen Fingern ist. Ich habe geträumt, eine Feder in der Hand zu halten. Ich griff mit der Feder tief in ein Fass voll mit schwarzer Tinte. Als ich die Tinte zu Papier bringen wollte, zerfloss sie, ehe ich etwas dagegen tun konnte, auf das ganze Papier. Ich nahm neues Papier, tauchte mit der Feder wieder in das Tintenfass, nicht mehr ganz so tief wie zuvor, und als ich die Tinte aufs Papier bringen wollte, um die immerwährende Geschichte aufzuschreiben, zerfloss sie wieder auf das ganze Papier, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Ist also die immerwährende Geschichte mit schwarzer Tinte vollgesaugtes Papier? überlege ich jetzt, in wachem Zustand, in welchem ich wieder versuche, die immerwährende Geschichte aufzuschreiben. Ich habe keine Feder und keine Tinte bei mir, nur ein leeres, weißes Blatt Papier, das mich anschweigt. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich die immerwährende Geschichte in diesem weißen Blatt manifestiert, das mich anschweigt. Nicht überzeugt, die immerwährende Geschichte auf diesem weißen, leeren Blatt zu belassen, bekomme ich plötzlich große Lust zu laufen. Ich richte mich auf und fange zu laufen an, so schnell ich kann. Es fühlt sich wie ein Weglaufen an, das Laufen, was mir merkwürdig erscheint. Kann es so etwas geben wie zuviel Liebe, vor der man wegläuft? Während ich über diese Merkwürdigkeiten nachdenke, laufe ich weiter so schnell ich kann, bis ich oben auf dem Hügel angelangt bin. Jetzt hat das Weglaufen also ein Ende, denke ich, als ich oben auf dem Hügel stehe und die Sonne mich erreicht. Nicht nur die Sonne erreicht mich, nein, auch deine Stimme, was ich so nicht erwartet habe. Ich höre deine Stimme, als ich oben auf dem Hügel stehe und denke: So ein Unsinn – wie kann man vor zuviel Liebe davonlaufen wollen? Schnell will ich wieder zurücklaufen, dahin, wo die Liebe ist, als ich plötzlich und unvermutet den schwarzen Hund neben mir bemerke, der mich – ja, so empfinde ich es – mit liebevollen Augen ansieht. Oder erwidert er nur meinen Blick? Ich beschließe, nicht mehr zu laufen, sondern langsam und bedächtig zu gehen. Ich bemerke, wie ich mit jedem Schritt Grashalme unter mir niedertrete und vermute, dass es wohl Teil der immerwährenden Geschichte ist, dass Grashalme von Menschenfüßen niedergetreten werden. Durch mein langsames Gehen bemerke ich die Menschen, die mir begegnen und nehme mir fest vor, sie in die immerwährende Geschichte aufzunehmen. Plötzlich aber erfasst mich Sorge: Mir fällt nämlich ein, dass ich das Fenster offen gelassen habe, als ich die Wohnung laufend verlassen habe. Durch das offene Fenster wird die Katze in die Wohnung gesprungen sein, mit ihrer Tatze das Fass mit schwarzer Tinte umgestoßen haben, wodurch sich die Tinte mittlerweile in der ganzen Wohnung verteilt haben wird. Hektisch laufe ich nach Hause, der Hund folgt mir auf dem Fuß. Zuhause angekommen, lasse ich den Hund vor der Tür, weil ich Angst habe, ihn mit seinem schwarzen Fell in der schwarzen Tinte nicht mehr zu finden, die, so ist zu vermuten, in der Zwischenzeit die ganze Wohnung überflutet haben wird. Als ich die Wohnungstür vorsichtig öffne, stellt sich die Wohnung zu meiner Überraschung in keinem tintenüberfluteten, sondern sonnendurchfluteten Zustand dar. Auf dem Tisch das weiße Blatt Papier, wie ich es verlassen habe. Keine Katze, und vor allem: kein Tintenfass! – Nein, kein Tintenfass, das habe ich wohl nur geträumt. Ergriffen stehe ich im Zimmer und schaue durch das geöffnete Fenster nach draußen, als eine Amsel auf dessen Sims landet. Sie sieht mich kurz an und beginnt daraufhin zu singen. Ihr Gesang ergreift mich noch mehr als es die Situation ohnehin schon tut, sodass mir die Tränen kommen. Singen soll man sie also, die immerwährende Geschichte, denke ich unter Tränen, und während ich das denke, spannt die Amsel ihre Flügel und fliegt davon.
Dank an:
Paul, den schwarzen Hund (porträtiert von Sara Stankovic)
Eine kleine Gasse zwischen zwei Häuschen: Dort war es, wo Sabine und ich uns innig küssten. Ich gehe gerne durch diese kleine Gasse, weil ich mich gerne an diesen innigen Kuss erinnere. Jedesmal, wenn ich durch die kleine Gasse gehe, fallen mir die tiefhängenden Regenrinnen an jedem der beiden Häuschen auf. In Erinnerung an den innigen Kuss mit Sabine nenne ich sie Sabinerinnen.
Heute ging ich wieder einmal durch die kleine Gasse, aber alles war anders als sonst. Die Sabinerinnen hingen nicht mehr an den Dächern der beiden Häuschen. Ich war wie vom Blitz getroffen. Es schoss mir sofort durch den Kopf: der Raub der Sabinerinnen! Was sonst! Was sollte ich anderes annehmen, als dass die Rinnen, die mich so zärtlich an den innigen Kuss mit Sabine erinnern, gewaltsam und unerlaubt entfernt worden waren. Kein Zweifel: Er war geschehen, der Raub der Sabinerinnen, den es nun aufzuklären galt! Ich klopfte an die Türen der beiden Häuschen, um die Aufklärung dieser Schandtat zu starten, aber niemand öffnete. Traurig stand ich in der kleinen Gasse zwischen den beiden Häuschen ohne Rinnen. Schließlich – was sollte ich anderes tun – ging ich weiter meines Weges.
Im Büro erzählte mir Vorderbrandner von der neuen Inszenierung der alten Sage vom Raub der Sabinerinnen im antiken Rom. „Mit den Geschwistern Regener als Sabinerinnen“, meinte er weiter: „Du weißt schon: Regina und Ramona Regener, die wir vor kurzem für unser Magazin interviewt haben!“
„Der Raub der Regenerinnen also!“ entfuhr es mir.
„Seit wann ergehst du dich in Wortspielen?“ entgegnete Vorderbrandner und schmunzelte.
Ich fand es gar nicht lustig: „Das wird mir alles unheimlich!“ rief ich, sprang von meinem Stuhl hoch und verließ das Büro wieder.
Während ich ziellos dahinging und darüber grübelte, wieso mich die beiden geraubten Regenrinnen, die ich Sabinerinnen nenne, so beschäftigen und ob es mir nicht möglich wäre, den innigen Kuss mit Sabine trotz der geraubten Rinnen in guter Erinnerung zu behalten, schweifte mein Blick durch ein geöffnetes Tor in einen Innenhof. Ich sah eine Frau, über zwei Regenrinnen gebeugt, die dort am Boden lagen. Sie hatte eine Bürste in der Hand und machte sich daran, die Rinnen zu reinigen. Mir blieb das Herz stehen. Waren das etwa die geraubten Rinnen? Vorsichtig näherte ich mich, mit pochendem Puls. Als ich nah genug war, erkannte ich sie eindeutig an ihrer Patina: Es waren die geraubten Sabinerinnen, an denen sich die Frau zu schaffen machte.
Ich ging aus meiner Deckung und stellte die Frau zur Rede: „Was machen Sie mit den beiden Regenrinnen?“
„Die lagen auf der Straße rum“, sagte sie, „in einer kleinen Gasse ganz in der Nähe. Da habe ich sie mitgenommen, weil ich sie gut gebrauchen kann für mein kleines Atelier hier im Hof.“
„Aber die sind geraubt!“ sagte ich, nicht wagend, die Frau direkt als Räuberin anzusprechen: „Die gehören zu den beiden Häuschen in der kleinen Gasse!“
„Wirklich? – Ja,… dann bringen wir sie besser wieder dorthin.“
Weil sie so schnell einlenkte, verzichtete ich auf weitere Anschuldigungen. Sie und ich nahmen je eine Rinne in die Hand und gingen zu den Häuschen in der kleinen Gasse, um sie zurückzubringen. Dort angekommen, klopften wir an die Türen. Jetzt war jemand zuhause. Wir sagten den Bewohnern, dass wir ihnen ihre Regenrinnen zurückbringen.
„Sehr nett“, sagten die Bewohner, „aber wir haben sie gestern erst abmontiert, weil wir heute neue montieren wollen. Die können sie gerne behalten!“
Konsterniert stand ich da und musste akzeptieren, dass die Sabinerinnen künftig nicht mehr die Dächer der kleinen Häuschen zieren und mich nicht mehr zart an den innigen Kuss mit Sabine erinnern werden. Ihr Raub entpuppt als eine schnöde Erneuerungsmaßnahme. So rasch ich diesen Fall aufklären konnte, so enttäuscht war ich nun von seinem Ausgang.
Die Frau und ich gingen mit den Sabinerinnen in den Händen wieder zurück zum Atelier im Innenhof. Als wir so dahingingen, jeder eine Rinne in der Hand, sagte ich zu ihr:
„Ich weiß wie Sie heißen.“
„Ja?“
„Sabine.“
„Stimmt! Aber woher wissen Sie das?“
Uteto Fritz ist Künstler und Psychologe. Er selbst bezeichnet sich als Energetiker. Nur wo Energie fließt, ist das Leben präsent. Ansonsten dümpelt es hinter dem Tod herum, sagt Uteto. Einer von Utetos Klienten ist Konrad Kraft, oder, wie Uteto aus seiner künstlerischen Perspektive heraus zu sagen pflegt: einer seiner Komparsen. Bei Konrad Kraft ist der Nachname Programm, sagt Uteto. Konrad trägt eine unglaubliche Kraft in sich, die aber blockiert ist. In unserer gemeinsamen Arbeit wollen wir sie entfalten.
Uteto stellte nach mehreren energetischen Sitzungen mit Konrad fest, dass die Sprache ein Mittel sein könnte, um ihn in seine Kraft zu bringen. Wie nun die Sprache ins Spiel bringen? Kaum hatte Uteto diese Frage in den Raum gestellt, kam ihm die therapeutische Eingebung: Er gab Konrad den Roman Anton Voyls Fortgang von Georges Perec zur Lektüre. In diesem Roman kommt der Vokal e, der häufigste Vokal in der deutschen Sprache, nicht vor. Konrad, den Eingebungen Utetos voll vertrauend, vertiefte sich in die Lektüre des Romans und entwickelte dabei eine große Liebe zu den Vokalen. Uteto bemerkte diese sich entwickelnde Liebe und sagte eines Tages in einer Sitzung zu Konrad:
I ee u u o i oae ueae.
〈Wir werden uns nur noch in Vokalen unterhalten.〉
Was? fragte Konrad.
Uteto wiederholte seinen Vorschlag, woraufhin Konrad meinte:
„Wie soll das gehen?“
O 〈So〉, antwortete Uteto.
A o 〈Ach so〉, sagte Konrad,
und fortan unterhielten sie sich nur noch in Vokalen.
Uteto hat folgende Erklärung für diese Vorgehensweise: Bei Konrad hat das Harte und Feste der Konsonanten zu einer Blockade seiner Energien geführt. Indem er jetzt nur in weichen, fließenden Vokalen spricht, überwindet er diese Blockaden. Seine Energie kann wieder fließen.
Nach einer der vokalischen Sitzungen mit Uteto ging Konrad mit Anton Voyls Fortgang in der Hand durch den Park. Er blieb auf einer kleinen Brücke über einen Bach stehen und betrachtete das fließende Wasser. Er stellte sich den Bach als einen Fluss der fließenden Vokale vor. Ah, tat das gut, dieser Fluss der fließenden Vokale!
Gisela kommt nun in unsere Geschichte. Sie war ebenfalls im Park und näherte sich der Brücke, auf der Konrad stand. Sie kam in das Energiefeld Konrads. Sie sah ihn das Wasser beobachten, in dem er lauter fließende Vokale sah. Sie fühlte sich zu Konrad hingezogen, kam zu ihm auf die Brücke. Sie fragte ihn: Was liest du da?
Konrad, der gerade einem fließenden E im Bach hinterherblickte, vernahm Giselas Frage und wollte sagen: Ao oi oa 〈Anton Voyls Fortgang〉. Doch er sagte nichts, sondern zeigte Gisela den Buchdeckel mit dem Titel darauf. Während Gisela den Buchdeckel betrachtete, hatte Konrad Zeit, Gisela zu betrachten. Sie gefiel ihm. Er sagte aber nicht u eä i 〈Du gefällst mir〉 zu ihr, sondern fragte sie – zu seinem eigenen Erstaunen – mit Konsonanten: Wie heißt du?
Gisela.
Iea, klang es in Konrads Kopf.
Ich liebe das E in deinem Namen! Es hat eine beruhigende Eleganz, sagte Konrad zu Gisela, wieder mit Konsonanten, und die Energie rauschte trotz Konsonanten nur so dahin, wie das Wasser im Bach.
Bei der nächsten energetischen Sitzung mit Uteto erzählte Konrad von seiner Begegnung mit Gisela. Ich nenne sie Ela, sagte Konrad, denn das G und das S sind mir noch zu hart, da komme ich noch ins Stocken. Sehr gut, sagte Uteto, Gisela ist das ideale Übungsfeld für dich. Über den klingenden Halbvokal L näherst du dich dem Reibelaut S und schließlich dem Verschlusslaut G. Gisela – ein Name, den der Himmel schickt!
So übte Konrad mit Gisela, bis ihn schließlich die Konsonanten nicht mehr in seinem Energiefluss blockierten. Im Gegenteil. Sie bereicherten sein energiegeladenes vokalisches Leben, indem sie ihm Struktur gaben.
Die Energie floss nicht nur auf sprachlicher Ebene zwischen Konrad und Gisela. Stundenlang lagen sie miteinander vereinigt da und gaben sich Energie. Konrads männliche Kraft erforschte Giselas weibliche Höhle, bis sie schließlich über seine Eichelspitze an ihren Muttermund gelangte und sich dort entlud. Gisela hatte empfangen.
Als nun die Tochter von Konrad und Gisela in Giselas Leib heranwuchs, stellte sich die Frage der Namensgebung. Dies bescherte Konrad seine erste Krise seit seiner energetischen Befreiung. Sollte er dieses neue Leben, das durch den Energiefluss zwischen ihm und Gisela entstanden war, in eine starre Namensform pressen? Wird es dann nicht sofort wieder dem Tod geweiht? Er besprach sich mit Uteto, versteifte sich darauf, dass das Kind nur Energie heißen könne, alles andere würde keinen Sinn machen. Das Kind ist eine Manifestation von Energie, nicht die Energie selbst, meinte daraufhin Uteto. Er schlug Konrad vor, sich in Geduld zu üben. Dann werde der richtige Name schon kommen.
Einige Wochen später wachten Konrad und Gisela gemeinsam am Morgen auf, sahen sich in die Augen und sagten zueinander: Genoveva! – Genoveva! Das sollte also der Name von Konrads und Giselas Tochter sein.
Uteto Fritz analysiert diese Namensgebung folgendermaßen: Augenscheinlich bei Genoveva sind die zwei E. Da sind aber auch das O und das A, die Vokale aus Konrad. Der Name scheint also einem Wunsch Konrads zu entspringen. Gisela hat diesen Wunsch gespürt und mitgetragen. Beeindruckend an Genoveva ist außerdem, dass Konsonanten und Vokale sich abwechseln, wie bei Gisela. Außerdem erinnert das G zu Beginn an die Güte und das Gebende von Mutter Gisela.
So hatten sich die Dinge gefügt. Genoveva wurde geboren. Konrad und Gisela fanden, trotz oder wegen Genoveva, weiterhin Zeit für ihre gemeinsamen Energiesessions. Tief vereinigt spürten sie sich, und eine dieser Vereinigungen gebar ihre zweite Tochter, der sie den Namen Kreszenzia gaben.
Der Name Kreszenzia, sagt Uteto Fritz, enthält wie Genoveva wieder zweimal den Vokal E, den Lieblingsvokal Konrads. Das K zu Beginn erinnert an die Kraft von Vater Konrad. Die Konsonanten treten in Kreszenzia, im Gegensatz zu Genoveva, in Zweiergruppen auf, als kr, sz und nz, um in ein furioses Finale mit zwei Vokalen zu münden: ia, eine Referenz an Gisela.
Uteto Fritz ist sehr stolz, wenn er die Geschichte von Konrad und Gisela erzählt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne mein Smartphone zu sein. Es gab mir Halt. Aber ich spürte (und dieses Spüren gab mir Hoffnung, nicht unheilbar krank zu sein), dass ich es loslassen musste, dass der Therapievorschlag des Doktors meine einzige Rettung ist. Ich schrieb noch eine E-Mail, um die Teilnahme an einem digitalen Schreibwettbewerb abzusagen:
Liebes digitales Schreibwettbewerbteam,
leider bin ich digitalsüchtig und befinde mich gerade auf Entzug, also auf strikt analoger Diät. Ich schreibe verbotenerweise diese E-Mail.
Viel Spaß in der Welt des digitalen Wahnsinns!
Anschließend klappte ich das Notebook zu, mit mulmigem Gefühl, und begab mich in die analoge Welt. Ich packte die nötigsten Sachen: Brot, Käse, Wurst, Gemüse. Schlafsack, Klamotten, Handtuch, Seife, Zahnbürste. Stirnlampe. Ein Notizbuch mit Stift zum Schreiben. Ein weiterer Stift als Reserve. Außerdem packte ich den Don Quijote in der deutschen Übersetzung von Susanne Lange ein.
Dann machte ich mich auf den Weg zur Hütte, mit der Wegbeschreibung auf Papier in der Hand. Ich ging durch hügeliges Waldgelände, das von einem Labyrinth von Wegen durchzogen wird. Es ging auf und ab, durch Nadel-, Laub- und Mischwald. An Weggabelungen und Kreuzungen blickte ich auf das Blatt Papier mit der Wegbeschreibung und versuchte herauszufinden, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin. Irgendwann hatte ich keine Ahnung mehr, in welche Richtung ich gehe. Ging ich im Kreis? Würde ich die Hütte finden oder hier irgendwo im Freien auf dem Waldboden nächtigen? Erschöpft und der Verzweiflung nahe kam ich an eine Weggabelung, an der ein großer Stein lag. Großer Stein! Ich blickte auf die Wegbeschreibung und las:
An der Weggabelung mit dem großen Stein folge der rechten Abzweigung, und nach wenigen Minuten erreichst du eine kleine Anhöhe, auf der die Hütte steht.
So war es! Außer mir vor Freude tanzte ich um die Hütte. Ich war erschöpft, glücklich erschöpft. Ich hatte es geschafft! Ich ließ den Rucksack zu Boden und sperrte auf. Ich holte Wasser aus dem Brunnen, erfrischte mich damit, trank es gierig, aß von meinem Proviant, bereitete mein Nachtlager und schlüpfte in meinen Schlafsack.
Nach zwei Tagen besuchte mich Vorderbrandner, so hatten wir es ausgemacht. Auch er war lange herumgeirrt, erzählte er mir, bis er die Hütte gefunden hatte. Aber das Herumirren hatte ihm Spaß gemacht. Er sagte, das Leben sei ein Herumirren, bei dem man am Schluss doch immer den richtigen Weg findet, wenn man ihn finden will. Während er das sagte, packte er die Kartoffeln aus, die er mir mitgebracht hatte.
Vorderbrandner: Ich hatte ihn immer für einen Irren gehalten. Jetzt auf der Hütte hatte ich den Eindruck, dass ich der Irre bin und nicht er. Er irrt zwischen den Welten, aber lässt sich von keiner vereinnahmen, wie ich von der digitalen. Vorderbrandner ist immer Vorderbrandner, da kann passieren was will. Einmal sagte er, er sei Wolf in den Welten und Adler über den Welten zugleich. Ich hielt das für Schwachsinn und Größenwahn, aber wahrscheinlich war es die Wahrheit.
Aktuell ist Vorderbrandner mein Mittler zur digitalen Welt, denn ein Schreibender wie ich kann heutzutage ohne digitale Medien seine Inhalte nicht kundtun. Ich diktierte ihm also auf der Hütte, während wir Kartoffeln mit Waldpilzen aßen, diesen Text, den Sie jetzt lesen und den Vorderbrandner hoffentlich von seinem Notizbuch unverändert ins Digitale übertragen hat.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit verließ Vorderbrandner meine Hüttenwelt. Wir umarmten uns herzlich. Ich sah ihm nach, wie er im Wald verschwand. Wieder alleine, ging ich auf den höchsten Punkt der Anhöhe, lehnte mich an die Buche die dort steht und blickte durch die umstehenden Bäume in das dämmrige Land. Ich besprach mit der Buche ernste und heitere Dinge, schöne und häßliche Dinge, die mir aber entfallen sind und von denen jetzt nur mehr die Buche weiß.
Morgen wird mich Josefine besuchen. So haben wir es ausgemacht. Ich bin aufgeregt und freue mich darauf. Küssen und Berühren sind sehr analoge Dinge, wenn nicht die analogsten Dinge der Welt. Von diesen Dingen hatte ich mich bereits entwöhnt, in meiner digitalen Sucht.