Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Er und Sie (Einführung in ein postdramatisches Drama)

Zunächst sind zwei bittere Wahrheiten zu nennen, die Er Ihr nicht ersparen kann, wobei das nur Prämissen von Ihm sind, dass es sich um Wahrheiten handelt, die Sie nicht hören will: Sie hat an diesem Abend zuviel geredet und zuviel getrunken. Findet Er jedenfalls.

Sie hatten vor diesem Abend und auch danach kein Verhalten gezeigt, dass sie, um es traditionell auszudrücken, für andere als Paar erkennbar gemacht hätte, beziehungsweise, um es moderner auszudrücken, man konnte keine Intimitäten zwischen ihnen feststellen, man hatte so etwas nicht gesehen, einen Kuss oder eine sonstige Berührung, die man als intim bezeichnen könnte, und Er sagt, darauf angesprochen, dass diese Beobachtung der vollen Wahrheit entspricht, während Sie, darauf angesprochen, ein Lächeln zeigt, dass man als kokett bezeichnen könnte, und dieses Lächeln stellt natürlich die eben aufgestellte Wahrheit wieder in Frage.

Jedenfalls hat Sie, wie Er sagt, zuviel geredet an diesem Abend und dabei zuviel getrunken. Was zuerst geschah, das Reden oder das Trinken, könne er nicht mehr mit Sicherheit sagen, wahrscheinlich geschah es gleichzeitig und hat sich gegenseitig hochgeschaukelt. Sie hat dann geredet über die Rolle des klassischen Dramas im modernen Theater und sich dabei so verheddert, dass Sie in immer kürzeren Abständen zwischen ihrem Reden trank, was ihr Reden zugleich beschleunigte und entschleunigte, denn ihr Reden wurde schneller aber auch repetitiver, was es Ihm einerseits schwerer machte Ihr zu folgen, aber auch leichter, denn hatte Er etwas nicht verstanden, konnte Er sicher sein, dass Sie es nach drei, spätestens nach vier Sätzen wiederholen würde.

Bei ihrem Reden und Trinken und seinem Zuhören waren sie in fremden Räumlichkeiten, sodass der Gastgeber der Räumlichkeiten sie zu später Stunde – der Gastgeber sagt, es war eher zu früher als zu später Stunde, denn er meinte, Vogelgesang vor der Tür gehört zu haben, aber das nur nebenbei – dass der Gastgeber sie also vor seine Tür komplementierte, und da standen sie nun, Er und Sie, vor der Tür, und Sie redete weiter und fragte, was man dieser Situation vor der Tür nun an Dramatischem abgewinnen könne? Ihm fiel in diesem Moment die klassische Zuspitzung jedes Dramas ein, die da heißt: im Zweifelsfall küssen, und da Er sich in diesem Moment nicht als Dramaturg, sondern als Darsteller begriff, folgte Er diesem Einfall und presste seine Lippen heftig an ihre, was Sie mit ebenso heftigem Pressen an seine erwiderte, und so entstand eine dramatische Situation, die man als leidenschaftlichen Kuss bezeichnen kann, begleitet von gegenseitigem Umschlingen und Berühren mit Armen und Händen.

Halt! Halt! sagte Sie dann. Ja, Er erinnert sich genau, denn Er war erstaunt über ihre Klarheit und Nüchternheit, die Er nicht erwartet hatte: Halt! Halt! sagte Sie: Das ist viel zu banal! So was kann man heute nicht mehr bringen! Einfach so küssen, das geht doch nicht! Sie riss sich von Ihm los und verschwand in der Kühle der frühen Stunde, ja jetzt kann Er sich erinnern, es war die Kühle der frühen und nicht die Hitze der späten Stunde, und Er fragte sich, ob es dramaturgisch besser gewesen wäre, den Kuss zurückzuhalten und stattdessen der Sehnsucht nach dem möglichen Kuss zu verfallen, um das Drama weiter zu erhöhen. Andererseits, Gerede in Dauerschleife hat keine Dramaturgie, sondern höchstens etwas Ermüdendes.

Ihn ergriff eine große Zufriedenheit, sagt Er, eine Zufriedenheit darüber, dass dieser Kuss nun im Raum steht, in diesem Raum der unendlichen Möglichkeiten, in dem sich dieser Kuss als konkretes Ereignis manifestiert hat. Denn man kann sich leicht verlieren in diesem unendlichen Raum der Möglichkeiten, wenn man nicht das tut, was getan werden muss, zum Beispiel, dass Er und Sie sich küssen. Eine Wahrheit, die Er nun nicht mehr missen möchte.

Die Tochter meiner Frau

Jakob ist mein zwölf Jahre alter Sohn. Jedes zweite Wochenende verbringen wir beide schöne Stunden, wie ich es nenne. Gerade neigen sich diese schönen Stunden wieder einmal dem Ende zu. Wir sind unterwegs zu Jakobs Mutter Paula. Paula war vier Jahre lang meine Lebensgefährtin. Als Jakob zwei war, trennten wir uns. Paula hatte gemeint, wir sollten uns trennen, weil sie meine Passivität nicht mehr aushält. Sie will einen Mann, keinen Waschlappen, sagte sie. Ich habe das widerstandslos hingenommen, weil mich Paulas Temperament ohnehin überforderte.

Als wir ankommen, öffnet uns Paula mit feuchten Augen die Tür. Jakob verdrückt sich gleich in sein Zimmer. Es schmerzt mich jedesmal, mich von ihm zu verabschieden. Es schmerzt mich immer mehr, weil ich weiß, dass er immer größer wird, und in nicht allzu ferner Zukunft ist er kein Kind mehr, sondern ein Pubertierender. Ich stehe etwas ratlos in der Tür und sehe in Paulas feuchte Augen.

„Guck nicht so!“ sagt sie: „Ja, ich habe gerade geweint. Stell dir vor!“
„Was ist denn los?“ frage ich unbeholfen.
„Lilly hat sich gerade mal wieder wutentbrannt aus dem Staub gemacht. Sie redet nicht mehr mit mir; will zu ihrem Vater ziehen; aber der will keinen Kontakt zu ihr. Ist ihm zuviel. Sagt er.“

Lilly ist die siebzehnjährige Tochter Paulas aus ihrer Beziehung vor mir.

Ich stehe weiter ratlos in der Tür und mache ein betroffenes Gesicht.
„Mach nicht so ein betroffenes Gesicht!“ sagt Paula. „Ich weiß, dass du nichts tun kannst und nichts tun willst. Genauso wie damals, als wir zusammen waren. Der große Schweiger und alle Last auf mir!“

Paula macht eine Pause, um sich zu sammeln und durchzuschnaufen. Dann fragt sie: „Wie ging’s Jakob die zwei Tage mit dir?“
„Gut.“
„Gut? Gut! Natürlich! Habt ihr eure schönen Stunden verbracht, und jetzt bringst du ihn mir wieder, damit ich den Alltagsdreck erledige.“
Ich stehe in der Tür und fühle mich wehrlos gegenüber dem, was von Paula auf mich einprasselt.
Paula fährt fort: „Ich habe das Gefühl, er zieht sich allmählich genauso von mir zurück wie Lilly. Beide wollen sie zu ihren Vätern, aber die Väter sind nicht da, wenn man sie braucht.“
Ich mache einen unbeholfenen Versuch, Paula zu umarmen, den sie sofort abwehrt: „Geh! Geh einfach! Geh zurück in dein Schneckenhaus und lass mich in Ruhe!“

Ich blicke an Paula vorbei den Gang entlang in die Richtung von Jakobs Zimmertür und hoffe, dass er nochmal rauskommt, um sich von mir zu verabschieden. Aber er kommt nicht. Unsicher und halbherzig will ich mich umdrehen, um zu gehen.

Plötzlich sagt Paula, scheinbar gefasst und sehr bestimmt: „Ich bin so froh, dass ich sie abtreiben habe lassen! Noch ein Kind, für das nur ich zuständig gewesen wäre – das hätte ich nicht ausgehalten!“
Ich bleibe in halber Drehung stehen.
„Unsere Tochter! Sie wollte kommen. Ich habe es gespürt damals!“ sagt Paula. „Ich wollte sie, aber die Vernunft sagte mir, dass es nicht geht. Vielleicht war ich zu vernünftig, aber ich habe es getan. Und dir war doch sowieso alles egal.“
Zögerlich drehe ich mich wieder um zu ihr.
„Nein, nichts mehr! Geh jetzt! Geh!“ schreit sie mir ins Gesicht.

Ich gehe zur Straße. Auf dem Gehweg sinke ich zu Boden. Ich weine und sehe meine Tränen auf den trockenen Asphalt fallen. Das ungeborne Kind. Jakob! Paula! Helft mir doch!

Geborgte Familie

Renate sagt mir, sie will die Scheidung. Es trifft mich sehr. Ich bin mit Renate seit dreißig Jahren verheiratet. Seit fünfundzwanzig Jahren habe ich eine Beziehung mit Sophie. Ich lebe mit Sophie zusammen und bin mit Renate verheiratet. Das kann man komisch finden. Das haben die verschiedensten Leute immer wieder gesagt, dass sie das komisch finden, und manchmal fand ich es selber komisch. Aber meistens fand ich es gut, und ich finde es auch jetzt noch gut. Ich finanziere Renates Leben, und nicht zu knapp. Sie hat das Haus. Sie hat einen teuren Wagen. Sie bekommt eine Menge Geld von mir, jeden Monat. Ich halte sie aus. Sie lässt sich aushalten. Eine stillschweigende Vereinbarung. Bis jetzt. Und jetzt sagt sie mir, in Anwesenheit unserer beiden Kinder, dass sie die Scheidung will. Die Kinder sind erwachsen. Aber sie sind immer unsere Kinder. Maximilian schaut apathisch ins Leere, während Katharinas Gesicht rot anläuft vor Zorn. Alle drei warten sie auf eine Reaktion von mir: Renate, meine Frau, Maximilian und Katharina, meine Kinder. Doch ich bin geschockt von Renates Ansage, dass sie die Scheidung will. Ich fühle mich vollkommen hilflos und schweige.

Ich bin ins Nachkriegsdeutschland geboren worden, mitten in die noch immer zerstörte Stadt. Ich wurde gezeugt in einem Drecksloch, von meiner Mutter und einem Mann, der später nie mein Vater sein wollte. Ich wuchs auf in einem Drecksloch, allein mit meiner Mutter, die sich nie mehr leisten konnte als dieses Drecksloch, und schließlich gab sie mich weg, weil sie sich auch mich nicht mehr leisten wollte. Ich bin ein verwahrlostes Kind der Stadt, das sich durchgekämpft hat. Ich lernte Renate kennen, und mit ihr eine ganz neue Welt. Renate ist auf dem Land aufgewachsen, am See bei den Bergen, mit sechs Geschwistern, mit Mutter und mit Vater. Ich war fasziniert von der Geborgenheit in dieser Familie, die ich nie hatte. Ich wollte das nicht mehr hergeben. Renate und ich heirateten, und bald kam Maximilian auf die Welt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er geboren wurde: Ich war bei Renate und dem kleinen Baby im Krankenhaus. Als ich aus dem Krankenhaus ging, war ich sehr betrübt. Ich fuhr nachhause, wo ich alleine war, und besoff mich hemmungslos. Irgendetwas gefiel mir nicht an meiner Vaterschaft. Ich wollte keine Familie. Renates Familie, das war schön. Aber eine eigene Familie? Ich stürzte mich in der Folgezeit in meine Arbeit. Ich kämpfte mich nach oben und verdiente gutes Geld. Geld ist gut. Geld ist Macht. Mit der Freude am Geld vergaß ich meine Zweifel über mein Vaterdasein. Drei Jahre später kam Katharina zur Welt. Am Tag ihrer Geburt saß ich mit dem dreijährigen Maximilian zuhause, und sie kamen wieder, die Zweifel, mit aller Macht. Es waren keine Zweifel, es waren klare Gedanken: Ich will keine Familie! Ich fuhr mit Renate und den Kindern zu ihrer Familie, immer wieder, immer öfter, um mich abzulenken. Renate fragte mich, wieso ich denn dauernd bei ihrer Familie abhängen will, wo wir doch mit den Kindern eine eigene Familie hätten. Zuhause aber hielt ich es immer weniger aus. Die geborgte Familie war mir lieber als die eigene.

Dann wurde Sophie meine Sekretärin. Es wurde leidenschaftlich. Ich kam abends nicht vom Büro nachhause. Renate nahm es stillschweigend hin, bis es irgendwann klar war, dass ich mit Sophie zusammen bin. Ich zog mit Sophie in eine gemeinsame Wohnung. Aber mit Renate war ich verheiratet. Und mit Renate bin ich verheiratet, und wenn Renate jetzt sagt, sie will die Scheidung, dann trifft mich das unvorbereitet, denn ich will die Scheidung nicht. Renate ist meine Familie, auch wenn ich nie etwas getan habe für diese Familie. Ich habe nur das Geld gegeben und geglaubt, damit die Macht darüber zu haben, dass Renate sich nie von mir scheiden lässt. Renate sagt, dass sie nun endlich ihr eigenes Leben möchte und dass sie es nicht mehr erträgt, die Frau eines Mannes zu sein, der nie für sie da ist, der sich nur ihre Familie von ihr geborgt hat, der ihr zwei Kinder angedreht hat, die er nie haben wollte.

Ich sehe das Erschrecken in Maximilians Gesicht, der selbst gerade, nach langem Hin und Her mit seiner Partnerin, Vater geworden ist. Ich sehe Katharinas Verbitterung und Zorn in ihrem roten Gesicht. Ihre Blicke wollen mich zum Teufel wünschen. Ich fange an zu weinen wie der kleine Junge im Drecksloch, verlassen von seinem Vater, verlassen von seiner Mutter und verlassen von der Welt.

Das Erbe

Zu viert stehen wir da. Ich neben meiner Mutter. Meine Schwester und mein Bruder uns gegenüber. Er ist nicht mehr da, mein Vater. Das unumstrittene Oberhaupt der Familie. Gestorben und begraben, vor wenigen Tagen. Ohne ihn schien es unvorstellbar. Und jetzt ist es nicht nur vorstellbar, sondern Realität.

Das Erbe schwebt zwischen uns. Das Erbe: Das sind zwei Häuser und eine ganze Menge Bares. Das zweite Haus, das bekommst du, mein Junge, hatte mein Vater mir kurz vor seinem Tod zugeflüstert.

Jetzt steht meine Mutter da und sagt: „Erben tu erst mal alles ich, damit das klar ist!“
Meine Mutter erstaunt mich. Ihre Existenz schien unvorstellbar ohne meinen Vater, und jetzt stellt sie sich hin und sagt: Erben tu erst mal alles ich! Spinnt die?

Es wäre schön, das zweite Haus zu erben. Große finanzielle Sicherheit, die ich meinen beiden Kindern und meiner Frau oder auch nur mir damit bieten könnte. Nein, das kann nicht das letzte Wort sein. Die spinnt doch! Wieso will sie alles erben?
„Wieso willst du alles erben?“ frage ich.
„Weil es mein Recht ist! – Da, schau!“
Meine Mutter schiebt mir einen Zettel unter die Nase. Es ist das Testament meines Vaters, mit dem er ihr sein ganzes Vermögen vererbt.
„Den hast du ihm am Krankenbett hingehalten, als er nicht mehr anders konnte!“
„Untersteh dich!“

Ich gehe hinüber zu meiner Schwester und meinem Bruder. Wie eine Dreierfront stehen wir meiner Mutter gegenüber. Doch die Front zerfällt sofort, als mein älterer Bruder sagt: „Ist schon gut Mutter. Du erbst alles. Ist schon gut!“
Eine Provokation mir gegenüber, denn es war ein offenes Geheimnis, dass ich das zweite Haus erben würde, ich, der jüngste von drei Geschwistern, aber der einzige mit eigenen Kindern. Meine Schwester steht zwischen meinem Bruder und mir. Ich glaube, sie weiß nicht recht, für wen von uns beiden sie Partei ergreifen soll. Ihren jüngeren Bruder, also mich, will sie beschützen. Vor ihrem älteren Bruder hat sie Respekt. So ist das also ohne meinen Vater: Ich stehe nicht mehr neben ihm als sein erklärtes Lieblingskind, sondern neben meinen Geschwistern.

Meine Mutter schaut zufrieden und sagt uns mit ihren Blicken: „Schaut her, ich kann auch ohne euren Vater! Ich bin ein eigener Mensch! Und das mir ja niemand glaubt, hier die Vaterrolle übernehmen zu müssen! Auch du nicht, mein Jüngster!“

Brav bleibe ich an der Seite meiner Schwester stehen. Stolz, eine starke Mutter und zwei ältere Geschwister zu haben. Die Fronten sind geklärt. Und das zweite Haus, das werde ich erben. Da bin ich mir jetzt ganz sicher.

Selbstentfremdung am Hachinger Bach

Durch Haching fließt ein Bach. Die Einheimischen nennen ihn liebevoll Hachinger Bachinger, mehr norddeutsche Zungen sprechen kurz und knapp vom Hach Bach. Ich saß am grünen Ufer des Hachinger Bachingers oberhalb von Haching und las Cesare Pavese, den ich zwecks besserem Fluss des Gesprochenen Cesare Pavesare nenne: Die Liebe ist eine Krise, die Abneigung hinterlässt, schreibt Pavesare. Ich ärgerte mich beim Lesen so über diesen Satz, dass ich das Buch aus meinen Händen in den Fluss des Wassers des Hachinger Bachs warf. Dann passierte etwas Seltsames: Mein Ich zweiteilte sich, was bedeutet, dass sich auch die Erzählperspektive zweiteilt:

Teil 1 (Ich A)
Ich sprang dem im Wasser treibenden Cesare Pavesare hinterher, weil ich spürte, dass hinter dem Ärger über sein Geschriebenes etwas sehr Wichtiges und Existenzielles liegt, das mich betrifft. Ich trieb im Wasser des Hachinger Bachs und merkte, dass es am wichtigsten ist, im Fluss des Wassers zu bleiben, mich von ihm treiben zu lassen, nicht schneller sein zu wollen als der Fluss und auch nicht zu versuchen, den Fluss zu stoppen. Nur so würde ich eine Chance haben, in diesem Fluss auf den treibenden Cesare Pavesare zu stoßen und das Wichtige und Existenzielle darin zu finden.

Bald wurde der Hachinger Bach zum Rinnsal, ohne dass ich den Pavesare fand. Im Münchner Stadtgebiet drohte der Fluss ganz zu versickern, als mich ein Kanal aufnahm, in dem ich durch dunkle Röhren und lange Betonwannen zur Isar gespült wurde. In der Isar hatte ich den Pavesare noch immer nicht gefunden, und dennoch hatte ich das Gefühl, dass er ständig bei mir ist. Das Treiben im Fluss machte Spaß. Ich freute mich auf die Donau und das Schwarze Meer.

Kurz vor der Mündung der Isar in die Donau wurde ich an eine Schotterbank geschwemmt. In diesem Moment des Innehaltens erinnerte ich mich an mein anderes Ich, das ich im Eifer des Gefechts am Hachinger Bachinger zurückgelassen hatte. Ich bekam wahnsinnige Sehnsucht nach diesem anderen Ich. Denn wir gehören doch zusammen. Mit dieser Sehnsucht setzte ich mich ans Ufer und sang einen Brief* an mein anderes Ich, bevor ich meine Reise fortsetzte.
Teil 2 (Ich B)
Ich sah den Pavesare im Wasser davontreiben und glaubte zunächst, mich von einer Last befreit zu haben. Plötzlich fühlte ich mich aber sehr einsam, als ich da am Ufer saß. Ich fühlte mich dieser Einsamkeit hilflos ausgeliefert. Ich schimpfte auf Pavesare, wie er mich so allein lassen konnte. Ich schimpfte auf ihn, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir etwas weggenommen hat. Aber Pavesare war unbeeindruckt weitergetrieben im Fluss des Wassers und nicht mehr in meinem Sichtfeld.

Mitten in meinem Schimpfen kam jemand das Ufer entlang und fragte: "Kann ich helfen?"
"Ich helf dir gleich!" brüllte ich den Entlangkommenden an und lief ihm entgegen, um ihm eine zu scheuern, woraufhin er die Flucht ergriff. Ich kehrte zu meinem Uferplatz zurück und schaute ratlos auf das fließende Wasser. Da kam wieder einer am Ufer entlang. Ich packte ihn unvermittelt und warf ihn ins Wasser.
Wie ein nasser Sack schimpfte und schrie er im Wasser: "Du Spinner, ich zeig dich an!"
"Mach doch, wenn du kannst!" schrie ich zurück und warf ihm ein paar Steine hinterher.

Dann kam keiner mehr entlang am Ufer des Hachinger Bachs. Der Pavesare trieb mittlerweile weißgottwo, jedenfalls weit weg, ich denke irgendwo jenseits von München. Es herrschte Ruhe, die sich wie Leere anfühlte. Ich begann mich zu fürchten vor dieser Leere. Die Angst vor ihr trieb Tränen in meine Augen.

Es begann zu regnen. Durch die Tropfen schien es, als käme etwas zu mir. Nicht der Pavesare, nein, etwas viel Wichtigeres. Es klang wie ein vertrautes Lied*, das mir etwas zurückbringen wollte, das ich scheinbar verloren hatte.

*Gesungener Brief/vertrautes Lied
Hachinger Bachinger
Cesare Pavesare

Emil hat Konstanze geküsst

„Im Mai also“, sagte Emil, „soll es gewesen sein: In Sydney hat der Schriftsteller Junot Diaz die Schriftstellerin Zinzi Clemmons geküsst. So weit, so romantisch. Eine schöne Geschichte: Ein Schriftsteller küsst und schreibt nicht nur darüber. Doch zunächst wurde diese Geschichte ganz anders erzählt: Zinzi Clemmons sagte noch in Sydney, Junot Diaz habe sie sexuell genötigt. Außerdem sagte sie, nun würden auch viele andere Frauen an die Öffentlichkeit gehen, die Junot Diaz ebenfalls sexuell genötigt hat. Diaz, offenbar noch völlig unter dem Eindruck des intimen Moments mit Clemmons stehend, unterwarf sich voll und ganz der Geschichte Clemmons. Er hielt schriftlich fest, dass er volle Verantwortung übernehmen wolle für seine Vergangenheit.

Wie ging es weiter? Zunächst einmal gingen die anderen Frauen nicht an die Öffentlichkeit. Entweder hat Diaz sie nicht geküsst, oder sie empfanden die Küsse nicht als sexuelle Nötigung, sondern als Küsse, die sie lieber für sich behalten wollen. Das Ausbleiben dieses Shitstorms der anderen Frauen sorgte jedenfalls dafür, dass erste Zweifel an der Geschichte von Clemmons aufkamen. Eine Menge von Leuten zerbrach sich nun den Kopf, wie es denn wirklich gewesen sein könnte. Mitten in dieses Kopfzerbrechen hinein sagte Junot Diaz plötzlich, dass er Mist geschrieben habe mit diesem Statement über Verantwortung, denn einen Übergriff habe es nie gegeben. Ja – hat es denn nun einen Kuss gegeben, und wenn ja, war es ein übergriffiger? Noch immer zerbrechen sich viele Leute den Kopf über einen Kuss, den es vielleicht gegeben hat, dessen Natur und Beschaffenheit jedoch im Nebel der Vergangenheit zu verschwinden droht.“

„Warum erzählst du mir das?“ fragte Josefine: „Was willst du mir damit sagen?“

„Ich weiß nicht. Mehr habe ich auch nicht zu erzählen. Erzähl du doch etwas!“

„Wir wollten ein Feature über den Opernsänger Nicolai Gedda und sein Leben machen. Dann meinte jemand in der Redaktion, dass er einst den Paganini gesungen hat mit dem Lied Gern hab ich die Fraun geküsst, und einer, der so etwas singt, denn könne man im Moment nicht bringen. MeToo und so – viel zu heikel.“

„Das ist doch unglaublich!“ echauffierte sich Emil.

„Reg dich nicht so auf! Was ist denn los mit dir?“ Josefine beugte sich näher zu Emil und fragte mit liebevollem Ton: „Was habt du und Konsti denn gemacht, als ihr euch diese Woche getroffen habt? Konsti wirkte so gut gelaunt heute.“

Emil lehnte sich zurück und schaute Josefine in die Augen. Josefine strich ihm über die Wange und meinte lächelnd: „Und deswegen regst du dich so auf. Junot Diaz und der Kuss oder Nicht-Kuss. Nicolai Gedda und seine Küsse an alle Frauen. Emil“, sagte sie und sah ihm jetzt tief in die Augen: „Ich fühle mich geliebt von dir und ich liebe dich.“

Als Abschluss dieser Geschichte, und das darf als gesichert gelten, folgte ein Kuss zwischen Josefine und Emil.

Zusammenfassend soll festgestellt werden:

Emil hat Konstanze geküsst.
Junot Diaz hat Zinzi Clemmons geküsst oder auch nicht.
Nicolai Gedda hat alle Frauen geküsst.

Schorsch Dorsch

Bei Dorschs gibt es immer Fisch. Was naheliegend ist, aber ich finde es trotzdem komisch.

Wir sitzen an der Tafel bei Dorschs mit dem Fischbesteck in der Hand, als Fini Herrn und Frau Dorsch fragt: „Warum haben Sie Ihren Sohn eigentlich Schorsch genannt?“

„Weil meine Urgroßmutter Französin war“, sagt Frau Dorsch.

Fini und ich schauen uns fragend an, einig darin, dass diese Antwort für uns keinen Sinn ergibt. Frau Dorsch, als aufmerksame Beobachterin unserer nonverbalen Kommunikation, fügt eine Erklärung hinzu:

„Schorsch heißt eigentlich Georges, zu Ehren meiner Urgroßmutter, aber alle nennen ihn Schorsch. Schorsch ist halt die eingebayerte Form von Georges, entstanden wohl zur Napoleon-Zeit, als die Franzosen in Bayern herrschten.“

Fini und ich schauen zu Schorsch, der mit seiner Gabel lustlos am Dorsch auf seinem Teller herumstochert.

„Was wir heute essen, ist übrigens Franzosendorsch, ganz nach dem Geschmack von Schorsch“, sagt Frau Dorsch dann noch.

 

Drei Brüder und der Ring am Fing

Es waren einst drei Brüder, die hießen mit Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer. Als gemeinsamen Vornamen hatten sie Georg. In ihrer Kultur war es üblich, sich beim Vornamen anzusprechen. In ihrem speziellen Fall jedoch war man dazu übergegangen, sie beim Nachnamen anzusprechen.

Um ihre individuelle Entwicklung zu fördern, machten die Brüder oft unterschiedliche Dinge. So war Stürz nach Dingolfing gefahren, während Türze nach Aubing und Ürzer nach Trudering gefahren war. Als sie wieder zurückgekehrt waren von ihren Ausflügen, hatten Stürz und Türze nichts Besonderes zu berichten. Ürzer jedoch, vor allem weil er wusste, dass Stürz in Dingolfing gewesen war, berichtete von seinem Ausflug nach Trudering Folgendes:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Dingolfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Trudering

Von Kombi-Nationen und einstürzenden Hauswänden

Es ist eine gewagte These, die Schweden als Kombi-Nation zu bezeichnen. Ich tue das nur, weil die Nachbarn meiner Eltern einen Volvo Kombi besaßen und im Film Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman immer wieder ein gelber Volvo Kombi prominent im Bild ist. Volvo Kombis waren Kästen auf vier Rädern. Sicher wie eine Trutzburg und geräumig wie eine große Rumpelkammer. Als Kind träumte ich davon, einmal so einen Volvo Kombi zu besitzen. Aber selbst die Volvo Kombis sind heute nicht mehr eckig wie einst. Sie sind abgerundet und haben eine schräge Heckklappe, als wollten sie Sportwagen und Kombi in einem sein und sind doch nichts von beidem.

Während ich also versuche, meine gewagte These der Schweden als Kombi-Nation zu falsifizieren und mich von dem nostalgischen Gedanken abzulenken, einen eckigen Volvo Kombi zu erwerben, liege ich in meinem Bett und schaue Richtung Osten. Da es Morgen ist, liegt es nahe, dass ich durch meine Blickrichtung nach Osten in die Sonne blicke. Doch ich blicke nicht in die Sonne, sondern an die Wand. Selbst wenn ich es zu meinem Tagwerk machen würde, die Wand zu beseitigen, die meinen Blick nach Osten versperrt, würde ich nur an eine weitere Wand blicken. Außerdem würde ich – es ist zu vermuten – meine Nachbarn verärgern, indem ich die trennende Wand zwischen unseren Wohnungen beseitige. Und selbst wenn sich meine Nachbarn einverstanden zeigten, wären mindestens die Wände von zwei weiteren Häusern zu beseitigen für den freien Blick nach Osten in die tiefe Morgensonne. Zu den statischen Problemen, die sich aus diesen Einreißaktionen ergeben würden, kann ich mangels technischer Expertise an dieser Stelle nichts sagen. Insgesamt erscheint es jedoch nicht lohnend, die Wände einzureißen wie einst Themroc, nur um ein paar Strahlen der Morgensonne abzubekommen.

Doch zurück zu der Zeit, als die Schweden eckige Volvo Kombis besaßen und eine Kombi-Nation waren. Damals gab es auch Autos namens Hummer, die aussahen wie gefährliche kleine Panzer. Hummers werden heute nicht mehr gebaut, dafür aber viele andere Autos, die ebenfalls aussehen wie gefährliche kleine Panzer. Man nennt diese Autos SUVs – Sport Utility Vehicles. Das Wort Sport soll von der eigentlichen Bestimmung ablenken: Während man sich nämlich früher mit Sportwagen selbst zu Tode gefahren hat,

sehen SUVs so aus, als ob damit andere zu Tode gefahren werden sollen.

Viele dieser SUVs fahren in der Stadt herum, auf dem beengten Platz zwischen den Wänden der Häuser. Warum fahren die großen SUVs zwischen den Wänden der Häuser herum? Ich habe dazu folgende – gewagte – These: Die Fahrer der SUVs wollen mit ihren Autos nicht zwischen den Hauswänden fahren. Dies sind nur Erkundungsfahrten, um ihre eigentliche Aktion vorzubereiten: nämlich um gegen die Häuswände fahren, um diese einzureissen und um so ein paar Strahlen der tiefen Morgensonne abzubekommen, wenn sie morgens in ihren Betten erwachen. Mit Spannung und Furcht zugleich erwarte ich also nun den Tag, an dem die SUV-Fahrer mit ihrer Aktion beginnen.

Oder sollte ich diese These ebenfalls falsifizieren?