Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Ostern in New York

Man kann an Ostern vieles machen. Man kann in ein Flugzeug steigen und nach New York reisen, und wirklich, ich war kurz davor, in ein Flugzeug zu steigen und nach New York zu reisen, doch dann entschied ich mich, in den Zeller Wald zu fahren und dort dem Gesang des Rotkehlchens zu lauschen. Doch je mehr ich mich auf den Gesang des Rotkehlchens freute, desto mehr fing es in meinem Oberkiefer hinten links zu rumoren an. In Zahn Zweisieben, wie ihn die Zahnärzte nüchtern bezeichnen, hatte sich etwas eingenistet, das von Tag zu Tag mehr Schmerzen verursachte, die am Karfreitag so heftig wurden, dass ich nach schmerzensreicher Nacht am nächsten Tag beschloss, die Notfallambulanz aufzusuchen.

Ich saß im Behandlungsstuhl und betrachtete das Hell und Dunkel auf dem Röntgenbild meines Gebisses. Zahn Zweisieben war in einem jämmerlichen Zustand, bereits wurzelbehandelt und tot, ein lebloser hohler Stift mit einer Plastikkrone obendrauf. Und jetzt hatten sich in diesem leblosen Stumpf wütende Bakterien eingenistet und wüteten hemmungslos. Ich spürte die Aufregung und Anspannung des quicklebendigen Nachbarzahns Zweisechs. Einerseits seine Sorge, die Bakterien könnten auch ihn in Beschlag nehmen, ihn, der noch voll im Saft ist und umso mehr leiden müsste. Andererseits seine Trauer, dass er seinen lebenslangen Nachbar und Freund nun endgültig verlieren würde.

Das Ziehen war kurz und schmerzlos. Die Entsorgung einer Leiche. Mit kühlendem Pad lag ich zuhause auf der Couch und bereitete mich auf mein Leben ohne Zahn Zweisieben vor. Meine Osterpläne waren durchkreuzt. Heute noch wollte ich aufbrechen in den Zeller Wald, doch das Rotkehlchen würde ohne meine Anwesenheit singen. Und an New York war schon gar nicht mehr zu denken. In dieser langen Weile, die ich nun vor mir sah, fand ich Gefallen an der Idee, an Ostern einen Western anzuschauen. Einen klassischen Western: Landnahme, Indianervernichtung. Nicht so weichgespültes Zeug wie Winnetou oder Der mit dem Wolf tanzt. Gedacht, getan: Ich saß stundenlang vor dem Bildschirm und sah die Bilder der kämpfenden Heroen in der Prärie.

Nach ein paar Stunden machte ich den Bildschirm aus. Ich erhob mich von der Couch und ging auf den Balkon. Ein Rotkehlchen sang. Ich blieb auf dem Balkon und lauschte. Eine neue Idee in mir – ein Plot für einen Ostern, als Gegenstück zu einem Western. Ich setzte mich hin und schrieb in meinen Notizblock:

Ein Indianerstamm fällt in New York ein. Blutige Kämpfe. Die weißen Ureinwohner New Yorks werden geschlagen. Viele flüchten nach Long Island. Dort sitzen sie in der Falle, und die Indianer kommen, um sie zu töten. Auf Long Island angekommen, überlegen es sich die Indianer anders und errichten ein Bleichgesicht-Reservat, wo die Weißen von nun an leben dürfen.

Meine Wut auf die westliche Welt. Mein Verlust von Zahn Zweisieben. Man kann an Ostern vieles machen. Man kann auch traurig darüber sein, Zahn Zweisieben verloren zu haben.

Der Kot ist ein Segen

Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer, und dann fraßen sie weiter an ihren Pillen. Wie kam es dazu?

Es war so, sagt Vorderbrandner: Ich ging durch die Stadt, im milden Dämmerlicht, an einem klaren Abend im frühen Frühling. Ich sah durch die erleuchteten Fenster in die Restaurants hinein. Ich sah Menschen um Tische sitzen, sah sie abwechselnd ihre Münder öffnen, um Ess- und Trinkbares in sich hineinzuwerfen. Bei diesem Anblick dachte ich unvermittelt ans Scheißen, denn Scheißen ist ja sozusagen das Gegenteil von dem was ich sah: Das Auswerfen von für den Körper nicht mehr Verwertbarem. Und bei dem, was da alles hinter den Scheiben gegessen wurde, brauchte es keine große Phantasie, um sich vorzustellen, was da alles geschissen werden wird. Essen und Scheißen sind zwei komplementäre Vorgänge, aufs Nächste miteinander verwandt. Ohne Essen kein Scheißen und ohne Scheißen kein Essen. In der menschlichen Kommunikation gibt es zwischen diesen beiden Dingen allerdings ein großes Mißverhältnis: Man redet viel übers Essen, aber wenig übers Scheißen. Lass uns was essen gehen, lautet eine beliebte Ansage. Lass uns was scheißen gehen führt zu Irritation und Abscheu.

Ich ging weiter durch die Stadt, sagt Vorderbrandner, und sah die essenden Menschen hinter den erleuchteten Fenstern. Meine Gedanken waren gefangen zwischen Essen und Scheißen. Ich hatte gerade gegessen, ja, ich hatte keinen Hunger, und ich glaube, Hunger spielte auch bei den Menschen auf der anderen Seite der Fenster nur eine untergeordnete Rolle. Nein, sie aßen gegen die innere Leere und glaubten, sie mit Essen auffüllen zu können. Muss der Mensch wirklich so viel essen, oder isst er bloß so viel, weil er es sich angewöhnt hat? Essen als Droge gegen innere Leere? Ich bekam nun doch Hunger, obwohl ich gerade etwas gegessen hatte. Ich beneide das Meerschweinchen, dass sein Essen immer in sich trägt. Es scheißt dazu das Gegessene und frisst es nochmal, um es in einem zweiten Verdauungsdurchgang besser zu verwerten. Der Mensch verwertet zu gut, sonst könnte er wie das Meerschweinchen das Essen immer in sich tragen.

Es war einst ein König, der so unglücklich über das Scheißen war, dass er Goldklumpen aß, um Gold zu scheißen. Sein Körper konnte die Goldklumpen aber nicht verwerten, sie verletzten seinen Darm tödlich und er starb daran. Er ist rektal verreckt. Der Mensch hat das Scheißen aus seiner Kultur verdrängt. Kommt vom Klo und tut als wäre nichts gewesen. Das war nicht immer so. Bei Rabelais, neben Cervantes der Mitbegründer der europäischen Hochkultur des Romans, wird gefressen und geschmaust was das Zeug hält, um danach zu scheißen und zu furzen was das Zeug hält. Und auch Till Eulenspiegel macht bei jeder Gelegenheit einen Haufen. Ist das Essen ein Fest, ist das Scheißen ein mindestens genauso großes.

Die Dämmerung wich fast schon der Dunkelheit. Ich ging aus der Stadt in den Stadtwald. Unter den Bäumen bekam ich große Lust zu scheißen. Ja, es kann sehr lustvoll sein, nicht nur etwas aufzunehmen wie beim Essen, sondern auch etwas abzugeben wie beim Scheißen, sagt Vorderbrandner. Ich schiss einen beherzten Haufen auf den Boden, und sein Aroma stieg wie ein Wohlgeruch in die Nasen der nahe lagernden Käfer und lockte sie an. Sie flogen heran und freuten sich. Sie nahmen vom Haufen und rollten den Kot zu kleinen Pillen. Deshalb nennt man sie Pillendreher. Als jeder sich eine Pille gedreht hatte, setzten sie sich zu einer Runde zusammen und labten sich daran. Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer: Mir ist unbegreiflich, wie man ihn verschmähen kann. Dann fraßen sie weiter unter dem Mond dieser klaren Frühlingsnacht.

 

Marionette (nicht zuhaus)

Marion fand es nett bei Bernadette und Henriette und blieb über Nacht bei ihnen im Bett. Papa war zuhaus in seinem Bett, und starrte am Morgen auf den Plafond. Neben ihm schlief noch Maman.

Papa überlegte sich folgendes Morgenprogramm: Wecken und necken und lecken, dann recken und strecken und stecken. Da erwachte Maman und fragte: Wo ist Marion? Die ist bei Bernadette und Henriette. Marion dachte im selben Instant: Es wäre doch nett, ich hieße Marionette, dann passte ich besser zu Bernadette und Henriette.

Papa und Maman starteten ihr Morgenprogramm, und weckten und neckten und leckten, und reckten und streckten und steckten. Marion kam nachhaus und rief aufgeregt: Es war so nett bei Bernadette und Henriette, und ich heiß jetzt übrigens Marionette. Hast du denn Hunger? fragte Maman. Nein, sagte Marion: Zu essen gab’s Ecke, zum Haupttisch Schnecke, zum Nachtisch Nussecke.

Das Grauen (Eltern im Streit)

Sie stritten heftig
an diesem Abend
Es war nicht schön anzuschauen
Es war sozusagen
das Abendgrauen
Der Himmel so schwarz
Die Wolken die grauen
Sie stritten die Nacht
Sie wollten sich hauen
Mir graute davor
den Morgen zu schauen
Das nennt man wohl
Das Morgengrauen

Vorderbrandner wird Vater und schreibt über François Truffaut

Vorderbrandner wird Vater, und das, sagt er, überwältigt ihn dermaßen, dass er nichts darüber schreiben kann. Deshalb, sagt er, sei er froh, dass er heute, am 21. Februar, etwas über François Truffaut schreiben kann. François Truffaut ist an einem 6. Februar geboren und an einem 21. Oktober gestorben. Der 21. Februar eignet sich also hervorragend, um über ihn zu schreiben. Der 6. Oktober genauso, sagt Vorderbrandner, und vielleicht werde er auch am 6. Oktober etwas über François Truffaut schreiben, aber das werde er erst entscheiden, nachdem er am 21. Februar etwas über François Truffaut geschrieben hat.

Nun könnte man schreiben, sagt Vorderbrandner, dass François Truffaut an diesem Donnerstag, dem 21. Februar 2019, 87 Jahre, zwei Wochen und einen Tag alt geworden wäre. Das könnte man. Als François Truffaut starb, sagt Vorderbrandner, war er sieben Jahre alt, also ich, sagt Vorderbrandner, nicht François Truffaut. Am 21. Oktober 1984, einem Sonntag, sagt Vorderbrandner, kletterte ich auf einen Apfelbaum im Chiemgau. Als ich ziemlich weit oben war, schaute ich nach unten und bekam Angst. Ich klammerte mich fest an den Stamm. Ich war wie erstarrt, aus Angst, hinunterzufallen. Sein Vater, sagt Vorderbrandner, sah ihn, seinen Sohn, auf dem Apfelbaum, und kam langsam und zögernd näher. Er stand unten am Stamm, und die Blicke von Sohn und Vater trafen sich, der ängstliche Blick des Sohns nach unten und der ängstliche Blick des Vaters nach oben. Dann kletterte sein Vater nach oben zu ihm, und als er ihn erreicht hatte, kletterten sie gemeinsam, mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen wieder nach unten. Ich atmete erleichtert auf, als meine Füße den Erdboden berührten, sagt Vorderbrandner, und es interessierte mich einen Scheißdreck, dass an diesem Tag François Truffaut in Neuilly-sur-Seine starb, genauso wenig wie es mich heute interessiert, Filme von François Truffaut zu analysieren, ich will sie einfach nur sehen, und manchmal will ich nicht einmal das, manchmal ist es mir sogar schon passiert, dass ich wütend auf die Fernbedienung gedrückt habe, um das Sehen eines Truffaut-Films abrupt abzubrechen, weil mich dieses Sehen so wütend gemacht hat, dass ich diese Wut nicht mehr ertragen wollte. Warum er so wütend geworden sei, beim Sehen eines Truffaut-Films? frage ich Vorderbrandner. Das wisse er nicht, sagt er, genauso wenig wie er wisse, warum ihn seine Gefühle so dermaßen überwältigen, jetzt, wo er wisse, dass er Vater wird. Vielleicht wäre das das Thema dieses Aufsatzes: Meine Wut auf François Truffaut. Es sei aber nicht nur Wut, sagt Vorderbrandner, die ihn überkomme, wenn er an François Truffaut denkt, es sei auch Trauer, eine intensive Wut und Trauer, die zeigten, wie sehr ihn die Filme von François Truffaut berührten.

Ich weiß nichts von François Truffaut, sagt Vorderbrandner, ich weiß nur, dass ich mich ängstlich an den Stamm des Apfelbaums krallte, als er starb. Ich fühlte mich oft allein als Kind, ich fühlte mich verloren, und das, obwohl ich eine liebevolle Mutter, einen liebenswürdigen Vater und sorgende Großeltern hatte, und eine ältere Schwester, die ihren kleinen Bruder liebte. Aber auch sie waren so verloren, so allein. Jeder war für sich allein. Da konnte keiner eine Verbindung zum anderen herstellen, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Vielleicht habe ich deswegen später die Filme von François Truffaut entdeckt, weil in ihnen die Protagonisten oft so allein, so verloren sind. Weil sie nicht geliebt werden. Ja, jetzt fällt es mir ein, weil sie nicht geliebt werden, das ist es, oder, um noch grausamer zu sein oder einfach nur, um zum Kern der Sache vorzudringen: weil sie nicht geliebt werden wollen. Weil sie vor der Liebe davonlaufen. Das macht mich so wütend und so traurig beim Sehen eines Truffaut-Films: das Davonlaufen vor der Liebe. Weil ich es selbst so gut kenne. Und jetzt weiß ich, was mich dermaßen überwältigt an der Tatsache, dass ich Vater werde: Ich habe Angst, dass es bei meinem eigenen Kind weitergeht, dieses Davonlaufen vor der Liebe, dass ich mein Kind nicht lieben kann, wie es verdient, geliebt zu werden.

Liebeserklärung an François Truffaut

Valentinstag (ist vorbei)

Ich wusste, es war Valentinstag, aber ich hatte keine Lust auf rote Rosen, wahrscheinlich, weil ich sie niemandem schenken wollte. Ich wollte ins Musäum des Karl Valentin gehen, was ich dann aber auch nicht tat, denn am Valentinstag ins Valentin-Musäum gehen fand ich doof, fantasie- und humorlos, sodass ich nicht ins Valentin-Musäum ging. Stattdessen hörte ich das Lied Valentinstag ist vorbei, was mir passend erschien, denn wieso sollte ich mich genau am Valentinstag mit dem Valentinstag beschäftigen? Ich hörte zehn Mal das Lied Valentinstag ist vorbei, vielleicht sogar elf Mal, ich begann zu hören um 18:45 Uhr und hörte auf zu hören um 19:29 Uhr, also müsste ich das Lied zwölf Mal gehört haben, ich glaube aber, ich habe es nur elf Mal gehört, weil ich zwischen dem Hören in die Küche gegangen war, um ein Glas Wasser zu trinken, wo ich aus dem Fenster sah und eine Amsel vor jenigem sitzen sah und sie eine zeitlang betrachtete, also kann ich, bei eingehender Betrachung nicht nur der Amsel, sondern der Gesamtsituation im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt, das Lied nur elf Mal und nicht zwölf Mal gehört haben, vielleicht habe ich es sogar nur zehn Mal gehört, je nachdem, wie lange ich die Amsel vor dem Fenster betrachtet habe, was ich mir jedoch nicht notiert, geschweige denn gemerkt habe.

Um 19:29 Uhr machte ich jedenfalls einen Schnitt und hörte auf, das Lied Valentinstag ist vorbei zu hören, und dann, nachdem ich zu hören aufgehört hatte und Stille im Raum war, kam mir die Idee, etwas über Leute zu schreiben, die 1929 geboren sind und überlegte, welche Leute ich kenne, die 1929 geboren sind, und mir fielen keine solchen Leute ein. Es könnte sein, dass ich solche Leute mal gekannt habe, dass sie aber mittlerweile gestorben sind, ja, das ist eine sehr wahrscheinliche Tatsache, und Tote, kennt man die noch, oder sind sie nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der Kenntnis entschwunden?

Mitten in diese Überlegungen hinein erinnerte ich mich, dass einst – damals zu meiner völligen Überraschung – Milan Kundera und Max von Sydow durch den Ort im Alpenvorland spazierten, in dem ich aufgewachsen bin. Es war noch Winter, als ich sie dahinspazieren sah am Fluss, aber der Frühling schien nahe, und Max sagte zu Milan: „Es ist schön hier, am Fluss mit dem Blick auf die Berge, im Licht der stärker werdenden Sonne. Da will ich gar nicht an den Tod denken, obwohl ich schon Schach mit ihm spielte.“ „Ja“, sagte Milan daraufhin, „der Spaziergang hier am Fluss entlang lässt mich die Schwere vergessen, die das Leben haben kann, und ich will dieses Gefühl Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nennen.“ Milan Kundera und Max von Sydow sind 1929 geboren, also kenne ich zumindest zwei Menschen, die 1929 geboren sind, und nicht irgendwelche Menschen, sondern Milan Kundera und Max von Sydow! Mehr Worte will ich über diese Begegnung gar nicht verlieren, denn es ist nicht originell, über Personen zu schreiben in dem Jahr, in dem sie neunzig Jahre alt werden, genauso wie es nicht originell ist, am Valentinstag über Karl Valentin oder rote Rosen zu schreiben.

Ich lief damals aufgeregt nachhause, um meinen Eltern von meiner Begegnung mit Milan Kundera und Max von Sydow zu erzählen, denn es war eine wichtige Begegnung für mich, weil ich nach dieser Begegnung beschloss, entweder Schriftsteller oder Schauspieler oder beides zu werden. Als ich nachhause kam, stand mein Vater mit roten Rosen vor meiner Mutter. Meine Mutter kokettierte damit, sie entgegenzunehmen und sagte zu meinem Vater: „Gestern habe ich dich mit einer anderen gesehen. Wer war denn das?“ „Das war meine ehemalige Zukünftige“, sagte mein Vater, und ich glaube, diese Worte hatte ihm der Valentin in den Mund gelegt.

Valentinstag ist vorbei (10x hören oder öfter)
Milan Kundera
Max von Sydow

Professor Bernd Dachluke, die Rage, die Rasche und die Frankophilie

Professor Dr. Bernd Dachluke, nach dem die heute bei Dachausbauten so beliebte Dachluke benannt ist, war zu seinen Lebzeiten ein bedeutender Architekt. Außerdem war er ein Förderer der deutschen Kultur und der deutschen Sprache.

Bernd Dachluke

In den Tagen, in denen unsere Geschichte spielt, war Professor Dachlukes Frau Beatrix hochschwanger. Er dozierte gerade an der Universität und hielt einen Vortrag über das Hochhausprojekt, an dem er arbeitete. Er sagte, das geplante Hochhaus werde eine Rage von über hundert Metern haben. Da unterbrach ihn ein Student und stellte ihm zwei Fragen:

„Herr Professor: Haben Hochhäuser Emotionen, sodass sie in Rage kommen können? Wenn ja, kann man diese Emotionen tatsächlich in Metern ausdrücken, wie in ihrem Fall, eine Rage von über hundert Metern?“

„Ich spreche nicht von der Rage, Sie frankophiler Mensch! Die schreibt man zwar gleich, spricht sie aber anders aus“, antwortete der Professor, „nein, ich spreche vom architektonischen Begriff Rage, mit der das Hochhaus von der Erde in den Himmel ragen wird. Es wird der überragende Baukörper in dieser Stadt werden! Ach, was sage ich in dieser Stadt: in diesem Gau, in diesem Land!“

In diesem Moment betrat eine Sekretärin den Vortragssaal und bedeutete dem Professor mit ihren Blicken, dass er sofort kommen solle. Professor Dachluke wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte, und es platzte aus ihm heraus: „Oh, zu meiner Beatrix kommt der Storch! Ich bin in Rasche!“

Da meldete sich der Student von eben wieder und sagte: „Herr Professor, ich bin verwirrt: Zuerst das emotionale Hochhaus, dem Sie seine Rage nicht zugestehen – und nun sind Sie selbst in Rage.“

Ach, hören Sie auf mit Ihren Wortklaubereien, junger Mann. Sie sind wohl ein Franzose, dem man das Deutschsein noch beibringen muss. Ich bin in Rasche! Es eilt! Ich muss sofort ins Krankenhaus!“ Und mit diesen Worten stürmte Professor Dachluke aus dem Saal.

Auf dem Weg ins Krankenhaus dachte er:
Also – wenn meine Frau Beatrix dieses Kind auf die Welt bringt, wird es sehr deutsch erzogen! Denn die deutsche Kultur muss gepflegt werden! Das habe ich gerade an meinen Studenten festgestellt, die zu stark den frankophilen Einflüssen unterliegen. Das soll bei meinem Kind nicht passieren!
Wie ich diese deutsche Erziehung am besten bewerkstellige, das werde ich mir in aller Ruhe beim Angeln überlegen: Petri Heil!

Künstlerische Reaktion auf Bernd Dachlukes Hochhaus, das tatsächlich gebaut wurde:

Kronendorne

Ich rede zu viel von meinem Gefängnis, sagt Vorderbrandner, so werde ich ihm nie entkommen. Ich halte mich an ihm fest. Der Kopf will Neues, das Herz hält an Altem fest, auch wenn es daran zugrunde geht. Ich sehe die Gefängnisse anderer, weil ich selbst in einem bin. Nur weil ich selbst in einem bin. Nur wer im Gefängnis ist, sehnt sich danach, frei zu sein. Wer nicht im Gefängnis ist, weiß gar nicht, dass er frei ist. Er ist einfach frei, ohne es zu wissen. Warum sollte er es wissen wollen? Warum sollte er es wissen müssen?

Das Fatale: Ein gefangener Mann wie ich, sagt Vorderbrandner, verliebt sich nur in gefangene Frauen. Die Gefangenheit zieht mich magisch an, sagt Vorderbrandner. Je unfreier die Frau, desto mehr verfalle ich ihr. Je mehr bürgerliche Verklemmtheiten ich an ihr beobachte, desto mehr begehre ich sie. Desto mehr muss ich sie haben. Desto mehr träume ich von den lustvollen Gärten hinter diesen Verklemmtheiten. Aber diese Gärten sind zu fern, als dass ich sie jemals erreichen könnte. Weil ich sie nicht erreichen will. Weil ich mich in meinen eigenen Gärten verstecke und dabei verrückt werde bei meinem Kreisen um mich selbst.

Ich setze meine Kronendorne auf und höre ein Lied in meinem verklemmten Gefängnisgarten, als Ausdruck meiner unerfüllten Sehnsucht, als Ausdruck der Verklemmung, dem Gefängnis. Dieses Lied trägt meine Mischung aus Trauer, Zorn und Lust. Wenn ein Bild mehr aus tausend Worte sagt, sagt ein Lied mehr als zehntausend Worte:

Kronendorne

Oh oh  Oh oh  Oh oh  Oh oh

Du gehst mir durch Mark und Bein
Du gehst mir durch Mark und Bein
Du glaubst du bist ein Gemüse
Kommst niemals aus deinem Kühlschrank
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen
Oh oh  Oh oh

Du bist eine sterbende Rasse
Du bist eine sterbende Rasse
Einst warst du ein Inka
Jetzt bist du ein Cherokee
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen

Schlag zu! Schlag zu!

Au Huh Au Huh Au Huh Au Huh

Wart auf mich am blauen Horizont
Blauer Horizont für jeden
Warte auf mich an einem neuen Horizont
Neue Horizonte für jeden

Einmal will ich eins mit dir sein
Einmal will ich eins mit dir sein
uh uh uh uh uh

A-ah A-ah A-ah A-ah

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Innen außen   zurück nach vor
oben unten   einmal rundherum
herum herum herum

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Oben unten   innen außen
zurück nach vor   einmal rundherum

Nach unten  nach unten  nach unten  nach unten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten

Huuuhh

Dann nehme ich meine Kronendorne wieder ab. Ich kehre zu mir zurück, sagt Vorderbrandner, und mache mich daran, meine Freiheit zu erobern, abseits der verklemmten Schönheit. Schluss mit der fatalen Schwärmerei! Raus aus dem Gefängnisgarten! ICH BIN FREI, ALLES IST MÖGLICH!

Reiner Felix und die Erfindung des Referats

Es war einmal ein Mann, der hieß Reiner Felix. Sein älterer Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nannten, nannte Reiner Felix Refe. Reiner und Heiner Felix hatten noch einen jüngeren Bruder namens Kleiner Felix, aber das nur nebenbei.

Reiner Felix stand oft an der Straße. Es war wie ein Hobby für ihn. Als er eines Tages wieder an der Straße stand, kam jemand vorbei und sagte: Ich möchte über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du über die Straße! Kurz darauf kam jemand anderer vorbei und sagte: Ich möchte nicht über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du nicht über die Straße! Reiner Felix hatte Spaß daran, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es gewöhnte es sich an, allen, die vorbeikamen, einen Rat zu geben.

Es kam auch der Lehrer vorbei, den alle Quälix nannten. Lehrer Quälix sah, wie Reiner Felix allen, die vorbeikamen, einen Rat gab. Toll, dachte sich Lehrer Quälix, wie der allen einen Rat gibt! Er ging zu Reiner Felix und fragte ihn, was für einen Rat er denn den meisten Leute gebe.
Den meisten sage ich, dass sie über die Straße gehen sollen oder dass sie nicht über die Straße gehen sollen, sagte Reiner Felix.
Toll! sagte Lehrer Quälix und meinte weiter: Könnten Sie mit mir in die Schule kommen und den Rat auch meinen Schülern geben?

Irritiert ging Reiner Felix mit Lehrer Quälix in die Schule. Dort stellte sich Lehrer Quälix vor die Klasse und sagte: Dieser Mann wird uns nun etwas sagen über das Überdiestraßegehen. Ach, guter Mann, wie heißen sie eigentlich? wandte er sich an Reiner Felix.
Reiner Felix, aber mein Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nennen, nennt mich Refe.
Die Schüler lachten.
Lehrer Quälix unterband das Lachen, indem er laut zu Reiner Felix sagte: Gut, Refe, leg los!

Reiner Felix räusperte sich kurz, dann stieg er in seinen Vortrag ein:

Über das Überdiestraßegehen

Beim Überdiestraßegehen gibt es folgende Möglichkeiten: Entweder man geht über die Straße oder man geht nicht über die Straße. Man kann jedoch auch sowohl über die Straße gehen als auch nicht über die Straße gehen, indem man zunächst über die Straße geht, dann jedoch, wenn man auf der anderen Seite der Straße angelangt ist, nicht mehr über die Straße geht.

Danke Reiner Felix, danke Refe, danke! sagte Lehrer Quälix und applaudierte. Dann wandte er sich an die Schüler: Liebe Schüler, dieser Vortrag von Reiner Felix soll ein Vorbild für euch sein. Den Rat, den er uns darin gibt, will ich künftig auch in euren Vorträgen sehen!

Die Schüler hatten sich lediglich gemerkt, dass Reiner Felix von seinem Bruder Heiner Refe genannt wird, und nannten fortan die Vorträge, die sie bei Lehrer Quälix halten mussten Referat, also Rat nach Reiner Felix.

Reiner Felix (gespielt von Georg Stürzer) beim Referat

…Untermann…

Die Nächte voll quälender Unruhe. Jede Nacht der Fall ins Bodenlose. Oleg surft davon auf dem wilden Wasser, während ich in die schwarzen Fluten des Atlantiks stürze. Schweißgebadetes Aufwachen vor dem vermeintlichen Ertrinken.

Ich hatte mich aufgerappelt, aber ich stand in der Ecke wie ein Mauerblümchen. Völlig geschafft von diesen geträumten nächtlichen Abstürzen. Ich war kurz davor zu gehen. Da spürte ich die bewundernden Blicke von Jannick auf mir. Kokett blickte ich zu ihm auf. Wie schön, bewundert zu werden! Er näherte sich mir. Nein, komm mir nicht nahe! Nein, lass mich in Ruhe! – Doch! Komm her! Komm her! Ich lächelte ihn an. Er kam zu mir, ganz nah zu mir. Er gefiel mir. Mein Gott, er war jung! Noch keine zwanzig, oder gerade mal so. Jannick redete, aber ich nahm das nur undeutlich wahr. Ich wollte nur, dass er mich erlöst. Ja, Jannick, sei mein Erlöser!

Als er mich am nächsten Morgen verließ, war sein Rücken voller Kratzer, so fest hatte ich mich an ihn gekrallt. Ich hielt mich fest an ihm. Ja, durch Jannick würde dieses Fallen ins Bodenlose aufhören, dieses allnächtliche Ertrinken im Strudel meiner Gefühle. Wir trafen uns wieder und wieder und wieder. Jannick wurde mein neuer Oleg. Nein, Jannick ist nicht mein neuer Oleg! Bei Oleg taumelte ich. Bei Jannick stehe ich fest. Bei Jannick habe ich die Kontrolle. Ich habe die Reife. Ich habe das Geld. Ich habe die Macht. Er hat den Schwanz, über den ich herrsche.

Aber da ist die Geschichte mit Emil. Emil spricht von seiner Übermutter und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich kann mit dem, was er sagt, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redet ganz normal mit mir, die ganzen Jahre, die wir uns mittlerweile schon kennen. Er verwirrt mich. Ich fühle mich bedroht. Er ist nämlich ein Mann. Ein gefährlicher Mann!

Mit Emil, das hat so angefangen: Ich fühlte mich sehr entspannt an jenem Abend. Ich war in die Sauna gegangen. Da saßen wir auf unseren Handtüchern und schwitzten, nur er und ich in der Kabine, und lächelten uns an. In der Dusche, im Ruheraum, im Gang: Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Schließlich stieg ich wie eine Meerjungfrau vor ihm ins Warmwasserbecken und räkelte mich darin. Er kam zu mir, und ich sprach ihn an.
Künstlerin? fragte er.
Ja! sagte ich.
Künstler sind verlorene Seelen, sagte er. Wir sind zwei verlorene Seelen, die im Wasser schweben.
Wir zwei schwebten im Wasser. Freiheit! Er sagte, er werde nun ins Dampfbad gehen, und ich sagte: Ich auch! Im Dampfbad räkelte ich mich auf den Fliesen. Als ich das Dampfbad verlies, wurde mir klar, dass ich rausmuss aus dieser Nummer. Er aber passte mich in der Umkleide ab und fragte, ob wir nicht noch gemeinsam ins Café gehen nebenan. Ich zierte mich. Wir schlenderten vor die Tür. Er reizte mich. Mit seiner gelassenen Beharrlichkeit. Schließlich willigte ich ein. Ich kann mir diese Einwilligung nur so erklären: Wir waren jetzt angezogen. Die Nummer war nicht mehr so heiß wie in der Sauna, als wir beide nackt waren.

Ich merkte, wie er mich verliebt ansah, als wir am Tisch saßen. Ich merkte, wie toll er es fand, dass ich Künstlerin bin. Zwei verlorene Seelen, die sich gefunden haben. Mitten in seine Euphorie hinein erwähnte ich Jannick. Ich schob Jannick als Riegel zwischen uns. Jannick als Stoppschild gegenüber anderen Männern. Die meisten von ihnen ziehen sich dann zurück, wenn sie merken, dass nichts geht. Emil aber zog sich nicht zurück. Zwar meldete er sich wochenlang nicht. Dann aber plötzlich und unerwartet. Ich merkte, wie ich mich freute, dass er sich meldete. Wir trafen uns immer wieder, im Abstand von Wochen, manchmal im Abstand von Monaten. Halbe Nächte lang saßen wir beisammen und redeten und redeten. Er sagte, es wäre doch gut, dass wir beide einen Partner hätten, so wäre das ganze unbefangener, und ich versuchte ihm zu glauben, aber ich glaubte ihm nicht. Ich vermisste etwas bei unserem Gerede, eine Berührung, einen Kuss, aber gleichzeitig fürchtete ich mich davor, vor einer Berührung, vor einem Kuss. Ich hatte das Gefühl, eine Berührung, ein Kuss, könnte meine ganze Welt ins Wanken bringen.

An einem schönen Frühlingstag verabredeten wir uns im Park. Ich trug ein tiefes Dekolleté. Das wurde mir erst bewusst, als wir uns gegenüberstanden und er es betrachtete. Was will ich eigentlich von ihm? Was will er von mir? Wir setzten uns ins Gras. Dann streckte er sich und legte sich hin.
Leg dich doch auch hin! sagte er.
Nein, nein! sagte ich: Ich bleibe lieber sitzen!
Viel zu gefährlich, dachte ich, sich neben ihm ins Gras zu legen. Viel zu gefährlich mit ihm, alles, sowieso, dachte ich plötzlich. Wie hatte ich ihn nur so anmachen können damals in der Sauna!

Er lag im Gras und redete von den Blumen neben uns und dem Himmel über uns und plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich mich neben ihn ins Gras gelegt hatte.
Er schaute zum Himmel und sagte: Vera und ich haben uns getrennt. Ich will mein Leben endlich in meine eigenen Hände nehmen, und ich habe das Gefühl, dass ich das mit ihr nicht schaffe. Dann schaute er mich an und meinte: Durch dich, Liliane, habe ich gemerkt, dass ich, wenn ich eine Frau will, erst ein Mann sein muss.

Ich schreckte hoch. Jetzt brachen die Dämme, und die schwarzen Fluten über mich herein. Er redete weiter: Der erste Schritt in mein neues Leben ist, ehrlicher zu sein. Ehrlicher zu mir selbst. Ehrlicher zu anderen. Und deshalb, Liliane, sage ich dir jetzt, was ich gerade denke. Deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich berühren, dass ich dich küssen will.

Nein! Nein! Jetzt ging er zu weit! Was erlaubt er sich? Warum berührt und küsst er mich nicht einfach? Was labert er da herum? Männer sind Alphatiere, die sich nehmen was sie wollen und reden nicht davon. Nein! Nein! Ich will nicht, dass er mich berührt und küsst! Die schwarzen Fluten stürzten auf mich ein. Ich begann zu zittern. Oleg! Oleg! rief alles in mir. Ich liebe dich doch noch immer! Vater, du Schuft, so hilf mir doch! Jannick! Ja, Jannick, ich muss zu dir! Rette mich! Ich stand auf und rannte weg, ich rannte so schnell ich konnte. Die Wiese so grün und der Himmel so blau, doch um mich herum nur schwarze Fluten. Ein Schluchzen in mir, dass die ganze Umgebung erfasste und alles fortriss und ich konnte nicht anders und weinte und weinte und weinte…