Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Carl-Philipps tragischer Tod

Carl-Philipp, den alle nur Gottlieb nannten, war ein sehr ängstlicher Mensch, mit preußischen Vorfahren, das sollte in diesem Zusammenhang vielleicht erwähnt werden, mit entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zu den von Clausewitz. Carl-Philipp also bewegte sich in Zeiten der COVID-19-Pandemie laufend im Parke fort, um sich körperlich zu ertüchtigen. Er lief nicht, er rannte, im sportlichen Gewande, um keine Zweifel an der Redlichkeit seines Tuns aufkommen zu lassen. Er kam dabei so ins Schwitzen, dass er, als er an einem Bach vorbeikam, auf die Idee kam, sich in dessen Wasser zu erfrischen.

Als er sich gerade seines Gewandes entledigte, bemerkte er eine herannahende Polizeistreife, die das Treiben im Park kontrollierte. Erschrocken über sich selbst, über seinen statischen, niedergelassenen und ihm recht unrechtmäßig erscheinenden Zustand, sprang er geistesgegenwärtig ins eiskalte Wasser des Baches, tauchte unter und hoffte, dass bis zu seinem Auftauchen die Polizei wieder verschwände. Die Polizei verschwand jedoch nicht, sondern das Herz von Carl-Philipp hörte im eiskalten Wasser auf zu schlagen. Er trieb leblos im Wasser, die Polizei barg ihn, alle Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen und entschied aufgrund der Umstände, den Toten in die Liste der COVID-19-Toten aufzunehmen.

Den Angehörigen Carl-Philipps wurde zu ihrem Trost mitgeteilt, dass er sich trotz seines tragischen Todes nichts habe zuschulden kommen lassen.

Ort der Erörterung (ein Bericht von Stephan Katzert)

Ein Mensch namens Katzert stand plötzlich in der Tür, ich hatte ihn noch nie vorher gesehen, und Katzert sprach davon, dass er es gut finde, dass ich die Nachsilbe ert in meine Texte aufgenommen habe: Ert sage soviel mehr als sein übliches Substitut Menge, ein Menschert sei viel plastischer als eine Menschenmenge. Wie man an meinem Nachnamen erkennt, komme ich aus einer Gegend, in der die Nachsilbe ert viel verwendet – ja, ich möchte fast sagen – exzessiv verwendet wird, sagte Katzert. Wobei man in meiner Gegend dem trockenen Menschert noch ge voran- und er zwischenfügt, um es blumiger lauten zu lassen: Man spricht vom Gemenscherert.

Er sei nicht verwandt mit einem gewissen Kratzert, der in derselben Gegend aufgewachsen sei, ja, sogar im selben Ort, das sei reiner Zufall, und das R in Kratzerts Namen mache einen großen Unterschied, so Katzert, denn sein Name bedeute Katzenmenge, was wohl auf ein Bauerngehöft mit vielen dort lebenden Katzen hinweist. Auf dem Katzengehöft, da hockt meine Familie schon seit Jahrhunderten, und alle erstgeborenen Männer heißen Stephan, seit Jahrhunderten, man möchte fast sagen, ein Stephanert, diese Katzerts, auch ich heiße so, Stephan Katzert, ja, Stephan Katzert im übrigen mein Name. Habe ich das bereits erwähnt?

Als Kind ging ich viel in die Kirche, mit meiner Mutter Maria ging ich hinein zur Messe, während mein Vater Stephan draußenblieb, um später zum Frühschoppen beim Kirchenwirt zu gehen. Stephan und Kirchen, das sind die zwei Worte, die mir einfallen, wenn ich an den Ort denke, wo ich aufgewachsen bin. Mein Großvater Stephan, den ich nur mit roter Nase kannte, kam nie zur Kirche, sondern ging gleich zum Kirchenwirt zum Frühschoppen. Wenn er nach dem Frühschoppen nachhause kam, schien mir seine Nase noch röter als sonst, er sprach dann oft vom Gemenscherert, das nach dem Krieg in den Ort kam und auf dem ehemaligen Kasernengelände wohnt. Komische Leute, alle miteinander, ein Gemenscherert halt, sagte Großvater Stephan. Mit denen kannst du nichts anfangen! Er meinte die Siedlung Haidholzen, die Heimatvertriebene nach dem Krieg gründeten, auf dem Gelände eines vormaligen Zwangsarbeitslagers. Mutter Maria wurde bei diesen alkoholgeschwängerten Reden von Großvater Stephan zornig und traurig, stürmte erbost aus dem Zimmer ins Schlafzimmer, um auf ihrem Bett einen Migräneanfall zu bekommen. Sie stammt selbst vom Gemenscherert, ist die Tochter von Heimatvertriebenen, und einmal hörte ich Großvater Stephan zu Vater Stephan sagen: Das verzeih ich dir nie, dass du so eine geheiratet hast, von diesem Gemenscherert. Schau an, wie krank sie dauernd ist! Ein andermal hörte ich Mutter Maria zu Vater Stephan sagen: Im Krieg hat er Leute erschossen, jetzt säuft er ohne Reue. Ich hasse deinen Vater! Als sie bemerkte, dass ich gelauscht hatte, machte sie drei Kreuze und bekam wieder einen Migräneanfall.

Als ich Vater Stephan fragte, was Großvater Stephan im Krieg gemacht hat und warum es Mutter Maria so schlecht geht, sagte er: Bub, wir haben es so schön hier – die Wiesen, die Wälder, der See, die Berge. Dabei blickte er traurig. Und dann lief er über die Wiesen und durch die Wälder, stundenlang, mit mir, und ich mache das heute noch, über Wiesen und durch Wälder laufen, stundenlang, so komme ich zu mir, und oft setze ich mich am See auf einen Stein oder an einen Baum, so wie mein Vater Stephan das oft gemacht hat, und schaue auf das Wasser, und manchmal weine ich, wenn ich auf dem Stein oder an einem Baum sitze und auf das Wasser schaue. Dann wird es leichter, denn ich bin auch ein Stephan, und manchmal ist es schwer, ein Stephan zu sein.

Katzert stand noch immer in der Tür, und sagte: Das wollte ich Ihnen sagen, über den Ort, wo ich herkomme, denn ich finde, ein Ort ist nicht einfach ein Ort. Ein Ort muss erörtert werden. Er wandte sich ab um zu gehen, drehte sich noch einmal um und sagte: Katzert mein Name, Stephan Katzert. Habe ich das bereits erwähnt? Und falls Sie meinen Text in Ihre Sammlung aufnehmen möchten, nennen Sie ihn bitte Ort der Erörterung. Das wäre mir wichtig.

weitere Erörterung…

Die Zeit im Lauf der Zeit

Betrachtungen zum 29. Februar 2020

Am Tag scheint die Sonne und in der Nacht scheint der Mond. Das war meine erste Wahrnehmung der Zeit. Dass eine Woche sieben Tage hat, ignorierte ich als Unwahrheit, denn eine Woche hat sieben Tage und sieben Nächte. Und die Länge dieser Tage und Nächte, zusammen immer vierundzwanzig Stunden, aber zueinander immer unterschiedlich, ist abhängig von den Jahreszeiten. Dem Phänomen der Jahreszeiten ging ich damals noch nicht genauer nach, denn ein Jahr war für mich eine unfassbar unendliche Zeiteinheit: Dreihunderfünfundsechzig Tage und Nächte – eine Ewigkeit. So entdeckte ich zunächst den Monat, mit seiner überschaubaren Zeitspanne von vier Wochen plus zwei oder drei Tagen und Nächten. Aber wieso ist ein Monat vier Wochen plus zwei oder drei Tage und Nächte lang? Was passiert in einem Monat? Der Mond umrundet in einem Monat einmal die Erde, bekam ich als Antwort, deshalb heißt der Monat Monat, abgeleitet vom Mond. Ich folgerte: Im April, Juni, September und November braucht der Mond dreißig Tage und Nächte um die Erde, während er im Januar, März, Mai, Juli, August, Oktober und Dezember etwas rumtrödelt und einen Tag und eine Nacht länger braucht. Im Februar dafür gibt er Gas und braucht nur achtundzwanzig Tage und Nächte, also genau vier Wochen. Im Februar ist sich der Mond scheinbar der Zeiteinheit der Woche bewusst. Aber warum nur im Februar, warum ist es ihm sonst egal? Zu meinem Entsetzen stellte ich außerdem fest – ich glaube es war in der Grundschule, als ich das erste Schaltjahr bewusst erlebte -, dass der Mond alle vier Jahre im Februar neunundzwanzig Tage und Nächte braucht, um die Erde zu umrunden, also vier Wochen und einen Tag und eine Nacht. Der Mond hat ein sehr schlampiges Verhältnis zu den Wochen.

Als ein der Zeit Verfallener und in einem Alter, als mein erstes bewusst erlebtes Schaltjahr schon einige Zeit vorüber war, erfasste ich den Zeithorizont des Jahres. Zwölf Monate ergeben ein Jahr. Der Mond umrundet also in einem Jahr zwölfmal die Erde? Ja, so ungefähr. Aber wichtiger ist eigentlich, dass die Erde in einem Jahr einmal die Sonne umrundet. Das Ungefähr in der Antwort machte mich stutzig, und brachte mich dazu, die Frage zu stellen, die mich schon länger beschäftigte: Wieso braucht der Mond unterschiedlich lang, um die Erde zu umrunden? Wieso sind die Monate unterschiedlich lang? Der Mond braucht nicht unterschiedlich lang: Er braucht siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsundreißig Sekunden. Die Nächte fehlten mir in dieser Antwort, aber ich hielt mich damit nicht auf, denn aus einem anderen Grund brach eine Welt in mir zusammen: Der Mond hält sich nicht an meine liebgewonnenen Monate beziehungsweise die Monate halten sich nicht an den Mond. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich den Wochen zuwandte mit ihren verlässlichen sieben Tagen und sieben Nächten, und erstellte folgende Rechnung (bei der ich die Tage und Nächte nun selbst zusammen vereinfachenderweise als Tage bezeichnete):

Januar      31
Februar     28
März        31
            90 Tage = 13 Wochen - 1 Tag

April       30
Mai         31
Juni        30
            91 Tage = 13 Wochen

Juli        31
August      31
September   30
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Oktober     31
November    30
Dezember    31
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Drei Monate eines Jahresquartals bestehen aus fast exakt dreizehn Wochen. Die dreizehnte Woche teilen sich die drei Monate geschwisterlich untereinander auf. Wobei mich das Fast in dieser Feststellung genauso stört wie das Ungefähr bei den Mondumrundungen der Erde. Ein Jahr besteht nämlich als Folge dieses Fasts nicht aus zweiundfünfzig Wochen, sondern aus zweiundfünfzig Wochen und einem Tag, in einem Schaltjahr sogar aus zweiundfünfzig Wochen und zwei Tagen. Auch die Arithmetik der Wochen befriedigte mich nicht.

Also zurück zu den Monaten: Wieso sind die Monate, mit Ausnahme des Februars, dreißig und einundreißig Tage (Ich verzichte im weiteren aus Vereinfachungsgründen gänzlich auf die Angabe der Nächte.) lang, wenn der Mond nur siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden braucht, um die Erde zu umrunden? Weil ein Jahr nicht aus zwölf Mondumrundungen um die Erde, sondern aus einer Erdumrundung um die Sonne besteht. Und die Erde braucht dreihunderfünfundsechzig Tage, fünf Stunden, achtundvierzig Minuten und sechsundvierzig Sekunden, um die Sonne zu umrunden. Der Monat, diese mir so liebgewonnene Zeiteinheit, steht also völlig willkürlich zwischen Tag und Jahr? Einem Jahr, das ich übrigens auch Sonnat nenne, abgeleitet von der Sonne. Unsere Zeitrechnung richtet sich nach der Sonne, nicht nach dem Mond. Und vielleicht sollte die Zeit überhaupt nicht lichtabhängig gesehen werden, sondern in Bezug auf einen fiktiven unendlich weit entfernten Fixstern ohne Eigenbewegung.

Das war zuviel für mich. Ich sah Tage und Nächte dahinschwinden und mich dabei verlieren in unendlicher Schlaflosigkeit im Licht des fiktiven Fixsterns, der die lichtunabhängige Zeit vorgibt. So wie die Dinge für mich sind, stehe ich auf dem Boden der Erde am Ende des Februars. Ich sehe die Sonne hinter den Bäumen untergehen, und zwar später und westlicher als noch vor ein paar Wochen. Der Frühling kommt, es wird lichter:

Bei diesem Anblick träume ich von lauen Sommernächten, in denen ich es mit der Realität wie Rilke halte, ganz fiktionsfrei:

Die Nacht liegt duftschwer auf dem Parke
und ihre Sterne schauen still
wie des Mondes weiße Barke
im Lindenwipfel landen will.

Weitere Betrachtungen zur Zeit

Unnutzenschema nach Hinterstoisser

Die Wirtschaftswissenschaft ist eine putzige Wissenschaft: Menschliche Phänomene, denen nach menschlichen Maßstäben eine Komplexität innewohnt, versucht sie in simple, triviale Formeln zu packen. Sie bedient sich dabei willkürlich und nach Lust und Laune der Psychologie und der Mathematik. In der komplexen Praxis greifen diese simplen, trivialen Formeln viel zu kurz. Sie sind viel zu kurz gedacht. Aber Langdenken geht in der Wirtschaftswissenschaft nicht, sie ist eine anwendungsorientierte Wissenschaft. Alles muss von Nutzen sein. Der Nutzen von Kurzdenken ist höher als der Nutzen von Langdenken, so die innewohnende Logik, denn Denken an sich bringt keinen Nutzen. Vielleicht ist das schon zu lang gedacht.

Ich wollte einmal eine Geschichte schreiben mit dem Titel Der Nutzen des Apfelbutzen, es wurde nur ein unnützes Gedicht daraus: Die Würmer krochen hinein, zersetzten ihn gar fein. Aber was interessiert Apple der Apfelbutzen: Es geht nicht um Würmer, sondern um schnieke Geräte, von denen Menschen abhängig gemacht werden, damit sie glauben, sie zu brauchen, oder, um es wirtschaftswissenschaftlich simpel und trivial auszudrücken: dem stofflich-technischen Grundnutzen wird ein geistig-seelischer Zusatznutzen aufgepfropft. Dies geht aus dem sogenannten Nutzenschema der Nürnberger Schule nach Vershofen hervor, das die Wirtschaftswissenschaft in jenen Bereichen zur Wahrheitsfindung heranzieht, in denen sie es als nützlich erachtet. Wahr ist, was nützlich ist, lautet der Leitsatz der Erkenntnis, kurz gedacht und wahr gemacht.

Als Freund der Dualität der Dinge leitete ich aus dieser Erkenntnis den Satz Unwahr ist, was unnütz ist ab und wollte daraus in einem ersten Schritt ein Unnutzenschema entwickeln, an dem sich die Menschen orientieren, die im Unnutzen mehr Unwahrheit sehen als im Nutzen Wahrheit. Ich kam jedoch bei meiner Arbeit, die ich zunächst am Schreibtisch verrichtete, nicht voran, ich sah keinen Nutzen in ihr und auch keinen Unnutzen, und so beschloss ich, einen physischen Schritt zu tun, einen unnützen, dem keine simple, triviale Formel zugrundelag. Ich ließ dem ersten unnützen Schritt weitere unnütze Schritte folgen, die mich zu meinem Fahrrad führten. Dann fuhr ich mit meinem Fahrrad in die Unnützstraße, eine unnütze Aktion, könnte man sagen, doch ich erhoffte mir dort neue Erkenntnisse, und tatsächlich: In der Unnützstraße hing die Sonne unnütz auf kahlen Bäumen rum:

Agnieszka, die Trampolin

Die Vorteile der U-Bahn weiß ich als Großstadtbewohner durchaus zu schätzen. Mit rasender Geschwindigkeit und ohne Hindernisse im Untergrund von A nach B zu gelangen, wie ein Hochgeschwindigkeitsmaulwurf: Es gibt kein schnelleres innerstädtisches Verkehrsmittel. Dennoch bewege ich mich lieber auf der Oberfläche, mit dem Fahrrad, oder, wenn ich Zeit habe, zu Fuß. Ich bin halt doch ein Mensch und kein Maulwurf.

Vor zwei Wochen, als ich Zeit hatte und es mir zu kalt und zu weit war, um zu Fuß zu gehen, nahm ich die Tram. Im winterlichen Sonnenschein stieg ich am Stachus ein. Ich war glücklich, mich fortzubewegen, dabei etwas zu sehen und mich nicht auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Umgebung, die an mir vorbeizog. Auf die Häuserfassaden in der Sonne und im Schatten und auf die Leute davor auf den Gehsteigen. Auf die kahlen Äste der Laubbäume im flachen Licht und den blauen Himmel dahinter. Die Tram selbst war locker gefüllt, und bei meinem Blick durch den Waggon fiel mir eine Frau auf: Dunkelblond, wohl zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt, hübsch, anmutig. Aber das ist nebensächlich, denn was mich vor allem faszinierte, war ihr Blick. Ein stolzer Blick, der die tiefe Sehnsucht hinter diesem Blick nicht verbergen konnte. Eine zarte Traurigkeit schimmerte durch. Kurz schauten wir uns in die Augen, aber ihr Stolz ließ sie sofort wieder wegschauen. Nach zwei oder drei Fahrminuten ertappte ich sie dabei, wie sie noch einmal zu mir schaute. Sofort schaute sie wieder weg. Für die Gewissheit meiner Bewunderung hätte sie fast ihren Stolz geopfert. Ich fühlte mich stark, begehrt, ich spürte die Liebe. Zufrieden stieg ich an der Schellingstraße aus und ging pfeifend am Gehsteig entlang zu mir nachhause.

All das hätte ich wahrscheinlich schon vergessen und würde es nicht erzählen, wenn ich nicht vor einer Woche wieder mit der Tram gefahren wäre und genau diese Frau wieder getroffen hätte. Unsere Blicke trafen sich, ganz kurz, immer sofort unterbrochen von ihrem Stolz. Ich stieg nicht aus an der Schellingstraße. Am Elisabethmarkt stieg sie aus. Ich auch. Ich folgte ihr durch die Marktstände. Dann ging sie geradeaus weiter in die Agnesstraße. Ich folgte ihr nicht weiter, sondern bog nach links ab. Pfeifend ging ich den Gehsteig entlang und stellte mir vor, dass die Stolze aus der Tram eine Polin ist. Ihre dunkelblonden Haare und ihr blasses Gesicht mit seinen etwas kantigen Zügen machen sie zu einer slawischen Schönheit. Ihr Stolz ist auch slawisch, der Stolz, mit dem sie ihre Unsicherheit überspielen will, ihre große unerfüllte Sehnsucht. Ach, was schreibe ich da über slawische Schönheit! Sie ist eine Polin! Punkt. Weil es mir so gefällt! Weil ich mich durch diese Geschichte noch mehr in sie verliebe. Kurz überlegte ich, ob ich sie Elzbieta oder Agnieszka nenne, entschied mich für Agnieszka und stellte mir vor, wie Agnieszka die Agnesstraße entlanggeht und sich nach der Liebe sehnt.

All das würde ich nicht erzählen, hätte die Geschichte mit Agnieszka nicht gestern eine Fortsetzung gefunden: Ich war in der Sauna. Zwischen meinen Gängen nahm ich ein Fußbad und las in der Charakteranalyse von Reich. Als ich kurz aufblickte, sah ich am anderen Ende des Raumes Agnieszka. Ich sah sie von der Seite, sie trocknete sich ab. Ich fand sie wunderschön mit ihrem nackten Körper. Ich konnte meine Blicke nicht abwenden. Dann blickte auch sie zu mir, und ich bilde mir ein, ja, ich bin mir sicher: Sie hat mich sofort erkannt. Sie drehte sich in meine Richtung und streckte ihren Oberkörper, sodass ihre Brüste, ihr Bauch und ihre Beine voll zur Geltung kamen. Stolz präsentierte sie sich. Flammend spürte ich mein Begehren. Im nächsten Moment warf sie sich ein Handtuch um und mir einen stolzen Blick zu. Dann schaute sie in die Weite, vielleicht in ihre Sehnsucht, und ging an mir vorbei aus dem Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Ich blieb sitzen, legte aber die Charakteranalyse zur Seite, in der ich nicht mehr gelesen, sondern mich nur daran festgehalten hatte. Agnieszka! Nur du! Jetzt! Ich fühlte mich sehr lebendig, vom Leben geküsst. Flammendes Begehren. Was jetzt? Ich nahm eine Dusche. Unter der Dusche sah ich die chaotischen Verstrickungen der Unliebe hinter Agnieszkas Stolz. Enttäuschte Liebe, von Kindheit an. Agnieszka ist verliebt in die Sehnsucht nach der Liebe und hat Angst vor der Liebe. Agnieszka? Wie komme ich überhaupt darauf, sie Agnieszka zu nennen? Was für eine lächerliche Geschichte! Ich gehe aus der Dusche und trockne mich ab. Ich beschließe, nicht weiter über Agnieszka nachzudenken. Ich beschließe, die kurzen liebevollen offenen Momente zwischen uns so zu belassen, wie sie sind, ohne weitere Kommentierung: Agnieszka, die schöne Polin aus der Tram, die ich in der Sauna getroffen habe.

Als ich das Handtuch zur Seite lege, sehe ich sie kommen.

Wo waren bloß die Aale?

Es war ein unruhiger Tag. Ich gewann mit Ela im Mixed-Wettbewerb des Tiereerkennens. So erlebte ich ihn:

Nach dem Finale
gab’s die Pokale,
dazu noch eine Schale.

Dann sahen wir die Wale,
dazu noch die Schakale.
Wo waren bloß die Aale?

Am Abend, in einer Art Rückschau auf den Tag, entwickelte ich folgendes Mantra:

Elanif Elakop Elasch
Elaw Elakasch Elaa

Dieses Mantra betete ich so lange, bis sich die Unruhe des Tages in Ruhe verwandelt hatte.

Für einen Rückblick auf das Jahr empfehle ich folgendes Mantra: Jahresrückblick

Sus und Mari (Zwei Schwestern)

Sus und Mari haben als Zweitnamen den Namen ihrer Mutter, nämlich Anne, weshalb sie Susanne und Marianne heißen. Sie haben nicht den selben Vater. Sus und Maris Mutter Anne schimpft über die Väter ihrer Töchter, von denen sie sich jeweils kurz nach der Zeugung getrennt hat. Keiner der beiden Väter ist bei der Geburt von Sus und Mari dabei gewesen. Keiner ist später im Leben der beiden dabei. Es ist ein Heranwachsen ohne Väter. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die beiden als Kinder beschließen, Nonnen zu werden.

Sus und Mari stellen gerne Situationen dar: Sus schwimmt durch einen Fluss, während Mari am Ufer bleibt. Als Sus am anderen Ufer ankommt, rufen sie einen Kameramann, der sich mit seiner Kamera auf einem Boot in der Mitte des Flusses befindet, er solle bitte ein Bild machen. Das Bild zeigt Mari auf der einen, Sus auf der anderen Seite des Flusses. Sus und Mari nennen das Bild Hierzulande und dortzulande, hier mit und dort ohne Gewande, denn Sus hat sich zum Schwimmen ausgezogen und steht nackt dort, während Mari sich hier Sus‘ Kleid so über den Kopf gezogen hat, dass nur ein Schlitz für ihre Augen freibleibt. Das Bild ist sehr bekannt. Es macht die beiden berühmt. Die Feuilletonisten stürzen sich auf das Bild, rätseln über sein Motiv und kommen fast einhellig zu dem Ergebnis, dass man dort, in der Fremde, nackt ist, und hier, in der Heimat, sich lächerliche Verkleidungen über seinen Körper wirft. Sus und Mari meinen dazu, das könne schon so sein. Kleidung werde schrecklich ideologisiert: Im Winter gehe ich gerne vollverschleiert, sagt Sus, weil es mich im nackten Gesicht genauso friert wie am restlichen Körper. Deswegen bin ich keine Muslime. Ich dagegen schon, sagt Mari, auf das berühmte Bild zurückkommend: Als ich mir Sus‘ Kleid über den Kopf zog, wollte ich eine Muslime sein. Oder war ich doch eine Christin, der das Kopftuch zu weit in das Gesicht gerutscht ist? Ich mit meinen rötlichen Haaren bin die nackte Hexe am anderen Ufer, sagt Sus. Wo ist der Scheiterhaufen?

Mari kennt Wolfgang und sagt: Wolfgang heißt Thomas, aber ich nenne ihn Wolfgang, denn er hat einen Gang wie ein Wolf. Von Wolfgang gibt es ein Bild, das ihn auf einer Kloschüssel sitzend zeigt. Das Bild heißt: Wolfgang beim Stuhlgang.

Mari hat ein Kind geboren. Ob Wolfgang oder Thomas der Vater ist, weiß sie nicht. Am liebsten sei ihr die Vorstellung, sie habe ein Kind von zwei Männern, sagt sie. Das Kind ist – nach langem Kampf – bei der Geburt gestorben. Mari hat dabei viel Blut verloren. Sus hat ein Bild gemacht mit Mari in ihrem verlorenen Blut. Sie nennen das Bild: Das ist mein Blut, das für euch Männer vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ein Feuilletonist kommentiert das Bild entnervt mit: Die kranken Schwestern, woraufhin Sus meint: Mari und ich werden keine Nonnen mehr, wie wir das als Kinder wollten, sondern Krankenschwestern. Denn die kranke Gesellschaft braucht ihre Schwestern.

Morgen hat gebrochen

Winter war es, irgendwann im Dezember oder Januar, wenn die Tage am kürzesten sind. Ich war früh erwacht, etwa um sieben denke ich, denn beim Blick aus dem Fenster erahnte ich das erste Morgenlicht. Ich beschloss, rauszugehen in den Morgen.

Als ich aus dem Haustor trat auf den Gehsteig, hörte ich Würgelaute. Jemand erbrach sich. Er trug dabei eine rote Mütze, und da wusste ich, es muss Dezember sein, irgendwann vor Weihnachten. Zu vermuten ist folgendes Szenario: Der Erbrechende hatte auf der Weihnachtsfeier maßlos getrunken, Alkohol war reichlich in seinen Körper geflossen, hatte ihn vergiftet, und nun wollte dieser Körper das Gift wieder loswerden. Ich ersann eine freie Übersetzung des Cat Stevens-Klassikers Morning has broken: Morgen hat gebrochen, es hat schlecht gerochen. So begann also mein Morgen, mein Morgen im Dezember.

Es sollte ein sonniger Tag werden, bald würde die Sonne flach am Horizont erscheinen, kalt und klar. Ich ging in den Park, und dort war es so: Die Dohlen hockten hart am Teich. Der Morgen passt besser zum Frühling als zum Winter. Ein Frühlingsmorgen, an dem der nasse Tau von der warmen Sonne bestrahlt wird, das ist ein Morgen, an dem die Dohlen weich am Teich weilen. Ein Wintermorgen ist kein Morgen. Winter ist Kerzenlicht in der Dunkelheit. Umso überraschender kommt der Morgen im Winter. Er ist wie der erste Morgen, an dem das Licht in die Dunkelheit kommt, als wäre es das allererste Licht.

Ich ging weiter, eine Amsel flatterte aus einem kahlen Busch mit leisem Gezeter, man könnte sagen: Im Geäst schwamm ein Klang in Moll. Langsam rollte sich die Sonne zum Horizont empor, und der Morgen, der zunächst auf den Gehsteig gebrochen hatte, war nun angebrochen, wie der erste Morgen. Die Dohlen hockten immer noch hart und weilten nicht weich. Die kalte Kälte trieb mich in meine warme Stube, dort hörte ich das Rauschen des heißen Wassers im Heizkörper. Gibt es etwas Schöneres als eine warme weiche Stube an einem kalten klaren Wintermorgen?

Ich sah meine Gitarre und mein Klavier und ich meine, ich spielte auf beiden gleichzeitig und sang dazu. Oder war jemand bei mir und spielte am Klavier und noch jemand der an der Gitarre spielte? Sang ich selbst, oder ließ ich singen? Es musizierte in mir und durch mich, es erklang ein Lied, und dieses Lied war für mich die einzige Möglichkeit, meine überwältigenden morgendlichen Erlebnisse zu verarbeiten:

Der Morgen ist angebrochen wie der erste Morgen. Die Amsel hat gesungen wie der erste Vogel. Ein Loblied auf ihren Gesang, ein Loblied auf den Morgen. Sie haben heute die Welt neu erschaffen.

Günstiger

In Günz haben sie eine Burg, und in Güns, obwohl es viel kleiner ist, haben sie einen Zoo, der in Güns Tsoo geschrieben wird. Auf ihren Tsoo sind sie immer sehr stolz gewesen, die Günser. Zwischenzeitlich überlegte man, den Ort, nach dem Vorbild vom größeren Günzburg, in Günstsoo umzubenennen. Doch seit einiger Zeit überlegt man in eine ganz andere Richtung: Man überlegt, den Tsoo aufzulassen. Die Tiere sind entweder gestorben oder wurden weggegeben. Nur noch ein Tiger ist übrig. In Güns sagt man deshalb nicht mehr Ich gehe in den Tsoo, sondern Ich gehe zum Tiger. Nichtgünser sagen Ich gehe zum Günstiger. Keine Rede mehr vom Günstsoo.

Der Günstiger ist zum Markenzeichen von Güns geworden. Er ist aber mittlerweile recht alt und verursacht hohe Kosten: Er muss rund um die Uhr gepflegt werden. Nahrung bekommt er nur noch intravenös, weil er nicht mehr beißen und kauen kann. Ständig kommt der Tierarzt. Der Bürgermeister von Güns hofft, dass er endlich stirbt, der Günstiger, um das Gemeindebudget nicht mehr zu belasten, doch weil er nicht stirbt, sah er sich in der letzten Gemeinderatssitzung zu folgender Aussage genötigt: Für Güns wäre es günstiger ohne Tiger. Daraufhin herrschte große Empörung unter den Gemeinderäten. Was ist denn Güns ohne seinen Tiger? Schlimm genug, dass es seinen Tsoo nicht mehr hat!

Ein Rat saß während der ganzen Empörung still in seinem Stuhl. Als die anderen auch wieder still in ihren Stühlen saßen, sahen sie ihn an, wie er still in seinem Stuhl saß, und er sagte in die Stille: Herr Bürgermeister, obwohl ich glaube, sie wollten nur einen billigen Wortwitz unter die Leute bringen, sage ich auch nö zum Tiger – anderes haben wir nötiger!

Thea Ter

Im Nachhinein scheint es natürlich selbstverständlich, dass Thea Ter Schauspielerin geworden ist. Theater-Schauspielerin nämlich. Dabei ist sie die Tochter eines Fabrikanten, eines Herstellers von Teekochern, der seine Produkte für den internationalen Markt T-Heater nennt.

Ist es also doch nicht so selbstverständlich, dass Thea Ter Schauspielerin geworden ist?