Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Prinzessin aus dem Osten

Im Zentrum ist die Residenz, sowieso, im Norden Schloss Schleißheim, im Westen Schloss Nymphenburg, im Süden Schloss Fürstenried. Nur im Münchner Osten, wo du geboren und aufgewachsen bist, wo du lebst, gibt es kein Schloss. Bist du trotzdem die Prinzessin aus dem Münchner Osten? Oder bist du die Proletin aus dem Münchner Osten, die gerne Prinzessin wäre, und ich der dahergerittene selbsternannte Prinz, der dir ein Schloss im Münchner Osten baut?

Letzte Nacht träumte ich, die Kreillerstraße entlangzugehen, diese breite Aus- und Einfallschneise des Münchner Ostens. Im flachen Sonnenlicht des Morgens erschien sie mir wie eine königliche Allee. Mein Flanieren führte mich an der Behr-Villa vorbei, Hausnummer 25. Ich sah dich am Fenster stehen, und für einen Moment dachte ich: Das ist es, das Schloss im Münchner Osten, in dem meine Prinzessin wohnt. Ich ging unter dein Fenster, und du sprangst mir mit deinem weiten weißen Kleid entgegen, direkt in meine Arme. Das war eine Realität, die meinen Traum beinahe beendet hätte.

Doch wir landeten nicht hart, sondern federten und schwebten gemeinsam auf die Kreillerstraße, auf unsere königliche Allee, und gingen weiter, ostwärts. Wir gingen mit unseren kleinen menschlichen Schritten, die sich groß anfühlten, wie ein Larghetto, ja jemand spielte das Larghetto aus Händels Concerto Grosso in A-Moll und begleitete unseren Gang:

Ich fragte mich, wo wir hingehen, und ich fragte mich nicht, denn es war klar, dass wir nach Osten gehen, es kann nie östlich genug sein mit dir, du Prinzessin des Ostens, du Prinzessin der aufgehenden Sonne.

Mich beschlich eine Ahnung, dass dieser Traum zu Ende gehen soll, dass es Zeit ist, die Augen zu öffnen und in der Realität anzukommen. Ist die Kreillerstraße nicht eine der häßlichsten Straßen Münchens, eine Straße im Münchner Osten, an der kein Schloss steht? Wann geht diese Täuschung vorbei, um mich zu enttäuschen?

Der Traum ging nicht vorbei. Wir gingen immer weiter diese königliche Allee entlang, der aufgehenden Sonne entgegen, und ich dachte mir: Was braucht der Münchner Osten ein Schloss, wenn er eine Prinzessin hat?

Nachtweining

Die Legende besagt, dass eine Münchnerin sich verirrte und im Dorf Taglaching, etwa dreißig Kilometer östlich von München gelegen, strandete. Sie sah und hörte die Leute im Dorf lachen und dachte: Nomen Est Omen – kein Wunder, dass im Dorf Taglaching die Leute viel lachen. Das Lachen der Leute um sie gefiel ihr. Sie beschloss zu bleiben und quartierte sich im örtlichen Wirtshaus ein.

Es kam der Abend, und dann die Nacht über Taglaching, und in der Nacht hatte die Gästin aus München ein bitteres Erwachen – denn in der Nacht, das ist die Kehrseite von Taglaching, in der Nacht weinen seine Bewohner bitterlich. Deshalb heißt Taglaching Taglaching und nicht nur Laching – der Name impliziert das nächtliche Weinen. Nach einer schlaflosen Nacht, in der sie schließlich selbst bitterlich zu weinen angefangen hatte, verließ die Gästin das Dorf.

Sie erzählte FreundInnen in München von ihrem nächtlichen Erlebnis in Taglaching, und eine FreundIn regte an, in Taglaching digitale Ortsschilder aufzustellen, die in der Nacht nicht Taglaching, sondern Nachtweining anzeigen. Eine andere FreundIn meinte, das würde nichts bringen, denn man müsse tagsüber, im größten Lachen, gewarnt werden, dass in der Nacht das große Weinen einsetzt, weshalb sie vorschlage, Ortsschilder mit dem Doppelnamen Taglaching/Nachtweining anzubringen.

Vielleicht, meinte schließlich die aus Taglaching zurückgekehrte und vom lachenden Tag und von der weinenden Nacht noch gezeichnete, vielleicht sollte Taglaching überhaupt nicht Taglaching heißen – vielleicht wäre dann Schluss mit dem zeitgebundenen Gelache und Geweine.

Cocker Daniel

Viele wissen nicht, dass Joe Cocker einen Sohn mit einer Münchnerin hatte. Doch die, die es wissen, wissen, dass dieser Sohn Daniel heißt.

Daniel Cocker wuchs in München auf und lebt heute noch dort. Früher sah man ihn oft mit seinem Cocker Spaniel durch die Stadt laufen, und die ihn erkannten, sagten: Schaut’s hin – da läuft der Cocker Daniel mit seinem Cocker Spaniel.

Oft hörte man die zwei auch durch die Straßen laufen, weil Daniel gerne den Song N’Oubliez Jamais I Heard My Father Say seines Vaters sang, während der Spaniel seinen Gesang bellend begleitete.

Man hat die zwei nun schon länger nicht mehr durch die Stadt laufen gesehen und singen gehört, und es ist anzunehmen, dass der Cocker Spaniel verstorben ist.

Gefühlssüchtig

Liebe die süchtig macht ist keine Liebe
Anne Wilson Schaef

die Sonne geht auf
ich denke an dich
die Kaffeetasse
ich denke an dich
ich will dich so
es ist als ob ich meinen Verstand verliere

der Morgen endet
ich denke an dich
ich rede mit Freunden
und denke an dich
und wissen sie es?
es ist als ob ich meinen Verstand verliere

den ganzen Nachmittag
verrichte ich die täglichen Dinge
die Gedanken an dich sind immer mit mir
manchmal bleibe ich unvermittelt stehen
gehe nicht links, gehe nicht rechts

ich dimme das Licht
und denke an dich
verbringe schlaflose Nächte
um an dich zu denken
du sagtest du liebst mich
oder warst du nur nett?
oder verliere ich meinen Verstand?

Begierde und Zierde (drei Schwestern im Goldenen Tal)

Berta, Gitta und Zita sind drei Schwestern, deren Vater einst in das Goldene Tal zog, um dem Großstadtleben zu entfliehen. Das Goldene Tal hat einen besonders fruchtbaren Boden, was dem Vater jedoch egal war, obwohl er umfangreiche Ländereien im Tal erworben hatte.

Als der Vater verstorben war, intensivierten Berta und Gitta die Bewirtschaftung der Ländereien, während Zita zurück in die Stadt zog, wo die drei Schwestern einst mit dem Vater hergekommen waren. Bald jedoch wurde Berta und Gitta der Obst-, Gemüse- und Getreideanbau und die Viehhaltung zu mühsam, und sie beschlossen, keine Pflanzen mehr anzubauen und kein Vieh mehr zu halten, sondern nur noch die fruchtbare Erde selbst zu vermarkten. Sie vermarkteten die Erde unter den Namen Begierde, also kurz für Berta-und-Gitta-Erde.

Die Erde verkaufte sich anfangs gut, auch in der Stadt, und so kam die jüngste, in der Stadt wohnende Schwester Zita, zurück ins Goldene Tal und bestand auf ihrem Teil des Erbes der Ländereien. Nach einigen Rechtsstreitigkeiten traten Berta und Gitta ihr einen Teil der Ländereien ab, und Zita vermarktete fortan Erde aus dem Goldenen Tal unter dem Namen Zierde.

Die Zierde verkaufte sich jedoch nicht so gut wie die Begierde, woraufhin Zita einen medienwirksamen Streit mit ihren Schwestern anzettelte, der dazu führte, dass sich in der Öffentlichkeit die Meinung bildete, die besondere Qualität der Erde aus dem Goldenen Tal sei ein Schwindel der Schwestern, die Erde habe nur ihre besondere Qualität, wenn sie im Goldenen Tal verbleibe und dort auf ihr Gemüse, Obst und Getreide angebaut und Vieh gehalten werde. Umfangreiche Rückrufaktionen von Konsumentenschutzverbänden wurden daraufhin organisiert. Tonnenweise brachten Lastwägen die Erde in das Goldene Tal zurück, woraufhin Berta und Gitta nichts anderes übrig blieb, als die zurückgebrachte Erde wieder auf ihre Ländereien zu verteilen und darauf Gemüse, Obst und Getreide anzubauen und Vieh zu halten, während Zita ihren Anteil wieder an ihre beiden älteren Schwestern zurückgab und sich fortan gänzlich in die Stadt zurückzog.

Das Lied vom sonnigen Sonntag

Valentin, der sich auch Karl nennt, ist ein Freund von mir, der sich der gesellschaftskritischen Kleinkunst verschrieben hat. Doch es ist nicht leicht, sich der gesellschaftskritischen Kleinkunst zu verschreiben, sagt Valentin, denn die Leute wollen mich nicht leben lassen, wenn ich sie kritisiere.

Am meisten, sagt Valentin, hasse er die Sonntage, denn da haben die Leute Zeit und tragen ihre Neurosen, die er an ihnen kritisiert, spazieren. An Sonntagen tritt ihm die Gesellschaft so geballt gegenüber und überfordert ihn, und er muss sich nur noch über sie aufregen und ist nicht mehr fähig, sie konstruktiv zu kritisieren.

Er geht deshalb an Sonntagen nicht in den Stadtpark, wo er sich sonst gerne aufhält, denn dort lungern am Sonntag die Leute aus der Stadt herum. Sie wollen sich von ihrem neurotischen Leben entspannen und bringen doch nur ihre neurotische Anspannung mit. Und sie bringen ihre Hunde mit, sagt Valentin, und ein Hund, der in der Stadt lebt und keine natürliche Aufgabe habe, entwickle zwangsläufig eine Neurose, sagt Valentin, und außerdem nehme der Hund die Neurosen seiner Halter an. Ein Stadthund leide also an einer Doppelneurose: an einer Umgebungs- und an einer Halterneurose, sagt Valentin.

Nun ist es jedoch so, dass in der kalten Jahreszeit die Sonnenstunden rar sind und Valentin deshalb im Winter auch an einem Sonntag, wenn er schon sonnig ist, in den Stadtpark gehen möchte. Er hat deshalb beschlossen, seinen Frieden mit der neurotischen Gesellschaft zu schließen. Diesen Frieden will er mit einem Ritual schließen. Er hat ein Lied zum sonnigen Sonntag komponiert und will es im Stadtpark vortragen. Dazu tragen ich und weitere Freunde von Valentins Kleinkunst eigens sein Piano von seiner Wohnung in den Stadtpark. Dick eingepackt wegen der winterlichen Temperaturen schwitzen wir in der tiefen Wintersonne, aber Valentin ist wildentschlossen, sein Ritual durchzuführen. So schleppen wir ächzend und stöhnend das Piano weiter. Endlich angekommen, bauen wir das Piano im Amphitheater des Stadtparks auf. Um ums herum setzt der übliche Sonntagstrubel ein. Leute spazieren zuhauf vorbei und starren neugierig auf das Piano. Valentins Friedensbeschluss mit dem sonnigen Sonntag beginnt zu bröckeln, und als schließlich ein Hund das Piano laut bellend anbrüllt, befiehlt Valentin, das Ritual abzubrechen und das Piano wieder nachhause zu tragen. Alles Zureden hilft nicht: Nach einiger Zeit machen wir uns wieder auf den Weg und schleppen das Piano zurück in Valentins Wohnung.

In seiner Wohnung hat Valentin ein kleines permanentes Auditorium aufgebaut, wo er Probekonzerte seiner Werke für den engeren Bekanntenkreis gibt. Wir ermunteren ihn, sein Lied zum sonnigen Sonntag für uns zumindest hier vorzutragen. Nach anfänglichem Zögern stimmt er zu, doch hat Elisabeth, die sich auch Karlstadt nennt, wie zum Hohn einen Hund mitgebracht:

Trotzdem gefahren

Jeder sagte
ich solle nicht
zum Verfahren fahren
die Straßen
seien voller Gefahren
und nicht zu befahren

Sie sagten:
Lass das Verfahren
fahren

Ich bin
trotz aller Gefahren
gefahren
nur um mich
auf dem Weg zum Verfahren
zu verfahren

Posi und Nega (bringen die Brühe zuwega)

Der Posi und die Nega sind zwei Gebirgsflüsse, die sich in der Ebene vereinigen und von dort gemeinsam weiterfließen. Der Posi durchfließt Gebirge mit rötlichem Gestein. Sein Wasser hat von Anfang an eine rötliche Färbung. Das Wasser der Nega ist im Gebirge kristallklar, ehe sie in der Ebene vor dem Zusammenfluss mit dem Posi eine Moorlandschaft durchfließt, was ihr Wasser schwärzlich färbt.

Ab ihrem Zusammenfluss werden die beiden Flüsse Brühe genannt, sodass jedes Kind aus dem Posi-Nega-Brühe-Gebiet lernt: Posi und Nega bringen die Brühe zuwega.

Beim Zusammenfluss hat die Nega das tiefere Flussbett, sodass ihr schwarzes Wasser unter das rote des Posi taucht. Die Brühe ist deshalb einige Kilometer lang ein roter Fluss wie der Posi, ehe das schwarze Wasser der Nega mehr und mehr nach oben drängt und sich die Wassermassen zu einer rot-schwarzen Brühe vermischen.

Manchmal aber führt der Posi Hochwasser und die Nega nicht. Der Posi führt dann so viele rote Mineralien mit sich, dass sein rotes Wasser, weil es mit den Mineralien sehr schwer ist, sich sofort mit dem schwarzen Wasser der Nega mischt. An solchen Tagen sagt man: Heute ist die Brühe von Anfang an eine Brühe.

Symbolische Darstellung des Posi-Nega-Zusammenflusses anhand zweier Batterieladekabel

Ate, Ute und Ete

Beate und Ute sind zwei Schwestern. Während Ute von ihrer Schwester so genannt wird, wie sie heißt, nämlich Ute, wird Beate von Ute Ate genannt.

Oft passiert es den beiden, dass jemand sie nicht unterscheiden kann. Wenn jemand Beate fragt: Bist du Ute?, dann sagt Beate: Nein, ich bin Ate. Wenn jemand Ute fragt: Bist du Beate?, dann sagt Ute: Nein, ich bin Beute. Denn wenn Ate zu Beate wird, dann wird Ute zu Beute. Und wenn Beute zu Ute wird, dann wird Beate zu Ate. Wir heißen Beate und Beute, aber wir nennen uns Ate und Ute, sagen die beiden zur Erklärung. Obwohl sie doch eigentlich Beate und Ute heißen, und sich abwexhselnd Ate und Ute oder Beate und Beute nennen.

Beate und Ute sind acht Jahre alt, als ihre Mutter, die noch immer jung ist, ein weiteres Mädchen gebärt, dem sie den Namen Angelika gibt. Beate und Ute fremdeln mit ihrer kleinen Schwester, auch weil sie so anders heißt als sie beide. Doch sie bemühen sich sehr, sie in ihre Welt aufzunehmen. Sie gehen mit Klein-Angelika spazieren und schieben sie im Kinderwagen durch den Park. Als sie an Blumenbeeten vorbeikommen, hat Ate eine geniale Idee und sagt zu Ute: Vergiss den Namen Angelika – ich heiße Beate, du heißt Beute, und Angelika heißt ab sofort Beete.

Und wir nennen sie Ete! ruft Ute freudestrahlend vor dem Blumenmeer hinter ihr.