Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Zart, ganz zart – oder: Wenn Mütter ihre Söhne verlieren (Teil 2 der Hirsch-Dilogie)

In diesem Moment passierte alles. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, sie, diese harte Frau, die so hart zu sich selbst war und so hart zur Welt. Alles war klar in diesem Moment. Ich spürte sie, die Klarheit. Ich wusste sie nicht. Sie war ungewusst. Die harte Frau löste den Dutt in ihrem weißen Haar und ließ es frei fallen, über Schulter und über Rücken, was sie sonst nie tat. Es beeindruckte mich, es hatte etwas Sinnliches und Zartes.

Dann ging sie, schluchzend, um Fassung ringend. Beschämt, dass sie mir ihre Tränen gezeigt hatte. Sie ging zur Anrichte und nahm von ihren Herztropfen, die nahm sie schon immer. Seit ich sie kannte, seit ich auf der Welt war, und das war für mich immer. Heute weiß ich: Sie nahm die Tropfen, seit ihr Herz gebrochen war. Heute weiß ich: Drei Jahre vor meiner Geburt war ihr Sohn gestorben. Nicht ihr leiblicher, sie hatte nur eine Tochter: meine Mutter. Ihr Ziehsohn. Ihre Schwester hatte ihn ihr anvertraut, weil er ledig geboren war und die Schwester ihn nicht versorgen konnte. Ihr Ziehsohn, sie hatte ihn geliebt wie eine Mutter ihren Sohn liebt. Das hat mir meine Mutter erzählt. Aber der Ziehsohn rebellierte, wusste nicht wohin mit seiner jugendlichen Kraft. Er zog in die weite Welt, kam zurück, verwirrt. Ging in seiner Verwirrung in die Berge, um zu sich zu kommen. Sah nur Abgründe und stürzte sich auf seiner verzweifelten Suche in diese.

Was für eine Trauer! Den eigenen Sohn zu verlieren! Aber die Trauer durfte nicht sein. Die Trauer war tief, abgrundtief. Machte Angst. Fassung war gefragt. Contenance. Sie ging nach dem Tod ihres Ziehsohns nie mehr auf Begräbnisse. Zu groß war die Trauer. Sie hatte Angst, dass sie wieder hochkommt. Die Trauer wurde immer größer. Ihre Gefasstheit, mit der sie die Trauer unterdrückte, war zuviel für ihr Herz. Es musste fortan mit Tropfen gestützt werden.

Ich war ein pubertierender Rebell. Wusste nicht wohin mit meiner Kraft. Ich hatte Lust auf die Abgründe in ihr, wollte sie rauskitzeln. Ich rüttelte heftig an ihrer Ordnung, ich brachte sie aus der Fassung, die Trauer war nicht mehr zu unterdrücken, sie kam hoch und mit ihr die Tränen, und mit ihnen die Angst, einen weiteren Sohn zu verlieren: ihren Enkelsohn.

In diesem Moment passierte alles, war alles klar. Ich war fassungslos ob der Trauer und der Angst, die sie mich durch ihre Tränen spüren ließ, auch wenn sie sofort ging und sich wieder fasste. Dieser Moment genügte, um das Ungewusste gewusst zu machen.

Nach ihrem Schlaganfall besuchte ich sie am Pflegebett. Sie befahl mir, das Geschirr zu spülen, obwohl keines da war, für sie war es da, Ordnung und Contenance behalten, gefasst sein: Mach es ordentlich, mein Sohn! Sei auf der Hut vor deinen Gefühlen! Sie sind zu groß für mich und auch für dich! Diese Warnung kam zu spät: Ich hatte mittlerweile ihre Gefühle übernommen, durch die vielen verbrachten Kinderstunden mit ihr, sah mich als traurigen und ängstlichen Menschen.

Ein paar Jahre nach ihr starb ein weiterer Sohn: ihr Schwiegersohn, mein Vater. Die Mutter meines Vaters, meine andere Oma, lebte da noch. Meine Vater-Oma war zehn Jahre jünger als meine Mutter-Oma, ich glaube, sie hatte ein starkes Herz, aber es war auch verschlossen, wie sonst hätte sie ihr Leben schaffen sollen, als früh Alleinerziehende von vier Söhnen? Wie soll man sein Herz der Liebe öffnen, wenn man es nie gelernt hat? Wenn man nur Unliebe erfahren hat? Am Grab ihres Ältesten, meinem Vater, schluchzte sie ergreifend, es schüttelte mich, und ich glaube zu wissen: Spätestens wenn ihre Söhne sterben, öffnen Mütter ihre Herzen.

So also wurde mein Ungewusstes zu Gewusstem. Ich setzte mich hin, unter die zarten Blätter des Baumes, und ließ mich tief in mich sinken. Ich spürte die Trauer meiner Großmütter, ganz tief. Kein Sichfassen, kein Sichverschließen, nein, ein weites offenes Land der Trauer öffnete sich vor mir. In dieses weite offene Land sang ich ein Lieb hinein, für meine Großmütter, die ihre Söhne verloren haben. Und die Trauer atmete auf und jubelte, dass sie endlich trauern durfte.

Wo ist die Liebe? fragt jeder Moment. In diesem Moment war sie da: zart, ganz zart. Alles war klar.

Gesungenes Lieb

Andre Ananas – eine Kindergeschichte

Diese Geschichte kann ich im Grunde gar nicht erzählen, sagt Uteto Fritz, denn ich habe aufgehört, mich mit der heilenden Wirkung von Sprache zu beschäftigen und bin deshalb auch nicht mehr als Sprachenergetiker tätig, als ich mich plötzlich mit Andre, Andreas und Anna in einem Raum befand, einem Raum, der wie ein Therapiezimmer wirkte, Familientherapie, sagte Andreas, wir brauchen Familientherapie, so wie wir früher Paartherapie brauchten, sagte Andreas, und blickte Anna an, so brauchen wir jetzt Familientherapie, und blickte Andre an.

Andre blickte neugierig im Zimmer herum, gut, dachte ich, sagt Uteto Fritz, er hat die Neugier eines Kindes noch nicht verloren, die geht ja oft verloren in der Obhut der Eltern, vor allem, wenn sich die Neugier auf das Leben der Eltern erstreckt, denn Eltern – das haben sie von ihren Eltern gelernt – halten ihr Leben gern versteckt, schließlich holte Andre einen Block heraus, einen Schreibblock, und Andreas kommentierte dieses Schreibblockherausholen sofort, er sagte: Ja, Andre schreibt schon, sehr viel, obwohl er erst in die dritte Klasse geht, in die dritte Klasse geht er und schreibt schon so viel, und er ist ein aufgewecktes Kind, wissen Sie, Anna und ich, wir sind stolz auf ihn, dennoch machen wir uns Sorgen, denn Andre isst für sein Leben gern Ananas, aber jetzt isst er nicht einmal mehr Ananas, im Gegenteil, ich reiche ihm eine Ananas und er wirft sie Anna ins Gesicht, mitten ins Gesicht, das geht doch nicht, was sollen wir denn da machen, das Leben ist die beste Therapie, ja, aber doch nicht so ein Leben mit so einem Kind, Familientherapie – Sie sind doch Familientherapeut? – Familientherapie ist unsere letzte Hoffnung, ich meine, das Kind weggeben, wir wollen nicht daran denken, aber es geht doch nicht, dass Anna und ich an diesem Kind zu Grunde gehen, wo wir so viele Jahre mittels Paartherapie an unserer Beziehung gearbeitet haben, Paartherapie, das hat uns geholfen, das hat uns auch das gewünschte Kind gebracht, wir konnten doch nicht ahnen, dass das Kind unser mühsam erarbeitetes Gleichgewicht so durcheinander bringen würde, wir –

Plötzlich stieß Andre einen lauten Schrei aus und richtete seinen Stift wie einen Pfeil gegen Andreas.

Sehen Sie! sagte Andreas, was sollen wir nur tun? Wir sind mit unseren Nerven am Ende!

Ich wandte mich Andre zu, sagt Uteto Fritz, und sagte: Du schreibst doch sehr gerne, Andre – schreib was über dich! Andre lächelte und schrieb, langsam und bedächtig, in seinen Schreibblock:

Beute und Beate 3: Hansis Brief

Fortsetzung von Teil 2

Wir saßen wie hingemalt im Gras, Ute und ich. Das Leben aber ging weiter. In diesem Weiter bestrahlte die tiefer werdende Sonne die grünen Baumkronen, auf denen die Vögel begannen, ihre Abendlieder anzustimmen. Ute schob mir langsam einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Ich faltete ihn auseinander und begann zu lesen:

Meine liebste Beute,

ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, vielleicht Bezogenheit auf dich, es ist auch nicht wichtig, jedenfalls fühle ich mich dir immer noch sehr verbunden, dir, die du in Unliebe zu dir selbst so oft mit dir unverbunden bist. Ich kenne das von mir, habe mich von Unliebe immer wieder anstecken lassen und mich dann selbst nicht geliebt. Vielleicht ist Unliebe die ansteckendste Krankheit dieser Welt, dabei wollen wir die Liebe, alle von uns, aber gleichzeitig haben wir Angst vor ihr, denn die Liebe ist groß und mächtig.

Ich bin fest entschlossen, die Liebe zu leben, durch alle Widerstände hindurch, und deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich nicht mehr sehen will, nicht weil ich dich nicht liebe, sondern weil ich dich liebe und weil ich spüre, dass wir uns in Unliebe verstricken und die Liebe nicht mehr sehen.

Heute Morgen fühle ich mich frei, ich spüre die Liebe. Ich kann über die Wut und Trauer, die ich dir gegenüber auch spüre, hinwegsehen und sagen: Ich wünsche dir und mir und der Welt die Freiheit für die Liebe, ich wünsche mir Begegnungen ohne Mauern, bei denen sich Herzen treffen und miteinander singen.

Fühl dich geliebt, von mir und der ganzen Welt!

                                Hansi

Ich legte den Zettel wieder in Utes Hand. Wortlos blickten wir über die Baumkronen zum blauen Himmel hoch. Lauschten den Abendliedern der Vögel. Die Sonne grüßte tief von Westen. Wir standen auf. Schritten durch grüne Auen. Langsam und bedächtig. Schweigend. Wir erreichten die Stadt. Selbst die harten Straßen lagen mild im sanften Dämmerlicht. Aus einem Fenster klang ein Klavier. Ich blieb unter dem Fenster stehen und sagte zu Ute: Das ist Hansi! Ute fiel mir in die Arme und drückte sich an mich, dass ich ihren Herzschlag spüren konnte.

Beute und Beate 1: Schreie und Stille

Ute saß im Gras. Ich ging zu ihr. Ich dachte: Heute ist der Tag, an dem wir uns näherkommen werden. Sie saß so hingemalt im Gras, dass ich dachte: Heilige Ute, sei meine Stute!

Als ich näherkam, bemerkte ich: Ute weinte. Ich blieb stehen. Ute sah zu mir hoch und lächelte kurz. Ich setzte mich neben sie ins Gras.
Es ist wegen meiner Schwester, sagte Ute. Wegen meiner älteren Schwester Beate. Ich komme gerade von ihr.
Was ist mit ihr?
Sie ist schwerbehindert.
Oh.

Ich war plötzlich unsicher, ob ich bei Ute im Gras bleiben will, doch unvermittelt, ohne mich zu fragen, ohne ersichtlichen Grund, fing sie zu erzählen an:

Unsere Mutter sagte oft zu Beate: Dir wird mal was Schreckliches passieren, du ungezogenes Mädchen! und Beate schimpfte daraufhin mit ihr: Mama, dir wird mal was Schreckliches passieren! Weil du es so willst! Hör auf mit diesem Gejammere! Mit deiner scheiß Angst vor allem und jedem!

Meine Mutter gelobte Besserung, trotzdem zog Beate bald aus. Sie hatte genug von diesem Scheiß. Sie suchte sich eine eigene Wohnung. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb auf Hansi eingelassen. Hansi ist ein Lieber und Netter. Hansi glaubte zum Beispiel, dass meine Schwester wirklich Ate heißt, so wie ich sie rufe, und ich sagte: Nein Hansi, sie heißt nicht Ate, sondern Be-Ate, ein schöner Name, nicht so ein Wurmfortsatz wie Ute, woraufhin Hansi sagte: Wenn Ate Be-Ate heißt, dann heißt du für mich Be-Ute. Hansi glaubte, dass er mir damit seine Liebe beweist, mit diesem Wortspiel-Scheißdreck, und es war ja auch lieb gemeint, aber ich sagte nur: Das wäre schön Hansi, wenn ich deine Beute wäre!

Ich glaube nämlich, Hansi hat Angst vor Muschis, ja, ich bin mir sicher, er hat Angst vor Muschis: An einem Abend wollte ich es endlich wissen, ich war geil, legte mich nackt vor ihm aufs Bett, spreizte meine Beine, fingerte an meiner feuchten und erregten Muschi herum. Er blickte erstaunt und erschrocken, mehr erschrocken als erstaunt, und sagte: Entschuldige, aber ich kann gerade nicht.

Dann such dir eine andere, du Schlappschwanz! brüllte ich und komplementierte ihn zur Tür hinaus. Ohne Widerstand ging er. Ich lag daraufhin auf meinem Bett, als ich meinen Vater nachhause kommen hörte.

Er kam zur Tür herein, schrie meine Mutter an, ich hörte, wie er sie schlug, er schlug sie oft, dann schrie meine Mutter, sie schrie entsetzlich, es erschreckte mich, denn meine Mutter schrie nie, wenn mein Vater sie schlug, obwohl er sie so oft schlug, aber jetzt schrie sie. Und dann, plötzlich, war es still, mucksmäuschenstill. Eine unheimliche Stille, eine unerträgliche Stille, die nie zu enden schien. Ich kroch vorsichtig aus dem Bett, öffnete lautlos die Tür. Da sah ich meinen Vater vor meiner reglosen Mutter.

Ich habe sie erwürgt, sagte er. Ich hatte ihn noch nie so still gesehen.

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Infidelia ziert sich

Zunächst sei Folgendes erwähnt: Ein Virus kam um die Ecke und wollte Infi zieren, doch Infi zierte sich, sich mit dem Virus zu zieren. Das kann man als Wortspiel ohne Sinn abtun, da Infi gar nicht Infi, sondern Infidelia heißt, womit das Wortspiel mit infizieren gar nicht mehr möglich ist, worauf sich Infi meldete und meinte, ein Virus könne sie ruhig zieren, weil sie sich ohnehin krank fühlt, seit ihrer Geburt sei sie ein krankes, moralisch verwerfliches Wesen. Ihre Mutter, sagt Infi, bezeichnet sich selbst als eine Hure, ihre Mutter sagt, Hure bedeute lieb und begehrlich, was für sie als Frau ein großes Kompliment sei, deshalb habe sie beschlossen, sich selbst als Hure, Infis Bruder als Hurensohn und Infi als Hurentochter zu bezeichnen. Ich, sagt Infi jedenfalls, bin aus einer Affäre meiner Mutter mit einem Engländer entstanden, der kurz nach meiner Zeugung zu meiner Mutter sagte: Your infidelity makes me sick, I don’t want to see you anymore! Meine Mutter sagt, das gefiel ihr, dass ihn ihre Untreue, ihre Infidelity, krank machte, denn Krankheit sei das Ehrlichste was es gibt, zu ehrlich, um geliebt zu werden, aber gerade deswegen liebe sie sie. Einmal hatte meine Mutter heftige Zahnschmerzen, erinnert sich Infi, und sie sagte: Danke Welt, dass du mich erinnerst, dass ich ein kleiner Mensch bin, der nicht so verbissen sein sollte!

Meine Mutter wollte mich Huora nennen, sagt Infi, nannte mich dann aber Infidelia, aufgrund der Aussage des Engländers, meines Vaters. Lange wollte ich Fidelia heißen, denn durch die Hurerei meiner Mutter erschien mir Treue als etwas sehr Erstrebenswertes. Außerdem bedeutet fidel in der deutschen Sprache nicht vorrangig treu, sondern vor allem lustig und vergnügt. Eine meiner liebsten Weisen lautet: Ich bin fidel, ich bin fidel, bis dass der Teufel holt meine arme Seel.

Als ich das meiner Mutter vorspielte, war sie kurz am Hadern, ob sie mich nicht doch Fidelia hätte nennen sollen. Oder Fidelia Huora, meinte sie in ihrer Euphorie: Was für ein wundervoller Doppelname!

Mittlerweile bin ich jedoch sehr zufrieden mit meinem Namen, weiß ich doch, dass die Untreue die Treue, der Kummer die Vergnügtheit, die Krankheit die Gesundheit einschließt und umgekehrt, weiß ich doch, dass das Leben alles einschließt, weshalb ich es leben will bis zum Tod.

In Zeiten des Krieges

Ich hatte mich noch einmal in die Stadt gewagt. An den leeren Regalen in den Läden erkannte ich: Jetzt ist der Krieg da! Ich habe es immer gewusst: Er war nie wirklich weg, war immer da, hat sich als Trauma tief vergraben in den Tiefen des körperlichen Gedächtnisses, als Trauma, das nie mehr hochgeholt wird, sondern auf dieser tiefen Ebene weitergegeben wird, klammheimlich, und doch mit einer Eindrücklichkeit, die berührt und aufrührt.

Da war er also, der Krieg, in den leeren Regalen, verleihte sich Ausdruck, endlich war ein Grund da, um ihn ausbrechen zu lassen, ich wusste, ich muss raus aus der Stadt, mich zurückziehen auf meinen einsamen Hof, wo ich alles habe, ein paar Tiere, ein paar Hektar Wiese, Obst- und Gemüsegarten, einen kleinen Wald. Sogar eine kleine Mühle am Bach. Nur Getreide habe ich nicht. Das hat mein Nachbar, der hat Felder weiter unten in der Ebene. Ich bekomme Getreide von ihm, dafür bekommt er Holz aus meinem Wald. Was tun, wenn er mir kein Getreide mehr gibt? Vielleicht ist jetzt, in Zeiten des Krieges, die Zeit gekommen, um eigenes Getreide anzubauen. Aber dazu brauche ich das Land des Nachbarn.

Ich kam zuhause am Hof an, der Hund bellte, etwas trieb mich, in Zeiten der Not, in Zeiten des Krieges, da ist es doch gerechtfertigt, an sich zu denken. Jeder ist sich selbst am nächsten. Ich holte mein Gewehr aus dem Schrank und tötete meinen Nachbar mit einem trockenen Schuss.

Jung und Frivol (ein Plädoyer für den Frühling)

Ich hatte den Anfang verpasst, ich war bereits unterwegs: mit Weidmann. Wir fuhren mit einem Bus, ich glaube, es war Weidmanns Bus, seltsam war nur, dass ich am Steuer saß und Weidmann Beifahrer war. Sonst war niemand im Bus, glaubte ich zumindest, aber Weidmann drehte sich immer wieder um, so als wäre jemand im Bus, so dass ich plötzlich das Gefühl hatte, Wendla, Moritz und Melchior wären im Bus, es fühlte sich an wie Frühlingserwachen, obwohl es dunkel war und ich keine Blumen auf der Wiese sehen konnte, nein, ich sah nur den Asphalt im Scheinwerferkegel vor mir.

Weidmann sprach davon, dass wir auf keinen Fall anhalten dürfen, auf keinen Fall, er sagte aber nicht warum, vielleicht fuhren wir von Italien nach Deutschland, durch Österreich, wo wir ja nicht anhalten dürfen, das wusste ich, aber ich dachte nicht an Tankinhalt und Harndrang, die uns zum Anhalten zwingen könnten, diese Gedanken kamen mir überhaupt nicht in den Sinn, ich konzentrierte mich auf den Scheinwerferkegel vor mir, auch Weidmann drehte sich nicht mehr um, zu Wendla, Moritz und Melchior, sondern konzentrierte sich auch auf den Scheinwerferkegel vor uns.

Vermutlich wären wir ohne Anhalten durch Österreich gekommen, als sich die Fahrbahn plötzlich teilte, nach links in ein bläulich kaltes dunkles Licht und nach rechts in ein gelblich warmes helles Licht, und mir war klar, dass für ein Weiterfahren ein Eintauchen in das bläulich kalte dunkle Licht erforderlich gewesen wäre, aber ich hatte Angst, in das bläulich kalte dunkle Licht einzutauchen, wie unter Zwang steuerte ich nach rechts, ins gelblich warme helle Licht, wo uns eine Polizeikontrolle erwartete, das war keine Überraschung, das war völlig klar, ich war willentlich in diese Kontrolle gefahren, obwohl wir doch gar nicht anhalten dürfen, ich sah Weidmann an, und er sah mich an. Ich drehte mich um, aber im Bus saßen nicht Wendla, Moritz und Melchior. Der ganze Bus war eine ebene Fläche, auf der sich niemand befand, nur ein kleines gelbes Büchlein, das sogleich von den Polizisten beschlagnahmt wurde. Solch verwerfliche Ware müssen wir konfiszieren! lautete die Ansage. Ich verstand nicht, von was die Rede war, bis mir einer der Polizisten das Büchlein unter die Nase hielt. Ich las:

Emil Hinterstoisser
Jung und Frivol
ein Plädoyer für den Frühling

Sie zerrten mich aus dem Bus, packten mich:
Sie sind verhaftet!
Aber ich bin doch nur ein Mensch, der das Leben liebt. Lesen Sie das Buch, und Sie werden es verstehen!
Ich wehrte mich, doch sie ließen nicht los, und ich war froh, dass Wendla, Moritz und Melchior nicht im Bus waren, ich bildete mir ein, sie im Mondlicht über die Hügel laufen zu sehen. Frühlingserwachen, ist das schön, dachte ich, und mir kamen vor Rührung die Tränen. Weidmann stand wortlos da, was mich beruhigte, und so sagte ich:
Na gut, gehen wir.
Die Polizisten ließen mich los und schauten mich ratlos an. Ich ging den Asphalt entlang, hinunter zu den grauen Häusern, und sie folgten mir ehrerbietig. Als unser Trauerzug die grauen Häuser erreicht hatte, legte ich mein Schuldgeständnis in musikalischer Form ab:

Von Brüsten, Gelen, Meisen und Unterorten (aus dem Leben des Max Klopfer) – Teil 2

Fortsetzung von Teil 1

…Ich war bewusstlos gewesen, hat man mir später erzählt.“
Max kaute an einem seiner Fingernägel, sah mich kurz an und erzählte weiter: „Barbara hat mich im Krankenhaus besucht und gemeint, dass es besser ist, wenn wir uns nicht mehr sehen. Sie stand an meinem Krankenbett, genauso überwältigt wie ich von unserem ersten Mal. Diese Nähe hatte uns aufgewühlt. Sie war total schockiert von meinem Sturz. Sie wusste, wie viel mir das Schispringen bedeutet und fühlte sich schuldig. Und ich? – Ich hatte das Vertrauen verloren. Ich verurteilte mich dafür, dass ich von Schanzen gesprungen bin, dass ich mich verantwortungslos den Kräften der Luft ausgeliefert hatte. Aber nicht nur für das Schispringen, für mein ganzes Leben hatte ich das Vertrauen verloren. Alle Frauen nach Barbara habe ich total kontrolliert, bis mich eine jede wegen meiner Eifersucht verließ. Keine Lust mehr auf Brüste, ohne dass ich mich zwanghaft an sie klammere. Ich kann nicht loslassen. Als hätte sich mein ganzes Leben damals in der Anfahrt auf der Kälberschanze vor mir gezeigt. Ich kenne das Gefühl nicht mehr, das ich hatte, als ich von den Schanzen gesprungen bin: totales Vertrauen, in die Luft eintauchen, sich tragen lassen. Zuversicht, dass das, was passiert, gut ist.“
„Und jetzt?“
„Was jetzt?“
„Was machst du jetzt?“
„Jetzt? Sitze ich vor dem Computer, um Geld zu verdienen. Abends spiele ich in der Band. Die Musik gibt mir ein bißchen Freiheit. Nicht so wie damals auf den Schanzen, aber wenigstens ein bißchen.“

In meiner Euphorie über unser Wiedersehen hatte ich die Idee, mit Max gemeinsam einen Abend zu gestalten. Max: Musik. Ich: Texte.
„Kennst du das Bürgerhaus in Unter…?“
„Kenn ich!“ unterbrach mich Max.
„Dann lass uns dort auftreten! Ich kenn den Leiter.“
„Ich auch.“

Josefine – ich hatte ihr geschrieben wo ich war – platzte in unsere Unterhaltung. Josefine zu treffen ist jedesmal ein neues Erlebnis. Ihre Neugier auf das Leben steckt mich an. Ihre Zufriedenheit mit ihrem Frausein gibt mir Zufriedenheit mit meinem Mannsein. Lächelnd grüßte sie Max und gab mir einen Kuss. Max musterte Josefine und fixierte anschließend seinen Blick auf ihre Brüste, obwohl es bei Josefine von der Größe her da gar nicht so viel zu sehen gibt.
„Alles in Ordnung, Max?“ fragte Josefine.
Max blickte verwirrt.
„Ich glaube, er findet dich schön“, sagte ich und dachte mir: Tiran mas dos tetas que dos carretas.

Am nächsten Tag rief ich im Bürgerhaus an. Wir konnten tatsächlich an unserem Wunschtermin auftreten. Ich informierte Max, er meinte, er hätte auch angerufen, aber niemand hatte etwas zu ihm gesagt von einem bereits gebuchten Termin. Wir machten uns deswegen aber keine weiteren Gedanken.

Unsere Proben für den Abend waren mühsam. Max moserte ständig rum, war nie zufrieden. Er probierte an seiner Musik, um schließlich alles Erarbeitete über den Haufen zu werfen. Meine Texte fand er unpassend. Einmal kommentierte er: Das ist so schlecht, das kannst du nicht bringen. Wir kamen nicht voran. Ich wollte hinschmeissen, das Ganze absagen. Aber ich tat es nicht. Ich glaube, Max tat mir leid. Oder war ich nur zu feige?

Der Tag unseres gemeinsamen Auftritts war ein lauer Frühlingstag. Um sechs Uhr abends verließ ich widerwillig Josefine und Clarissa, die bei mir waren, und radelte nach Unterschleißheim, zum Bürgerhaus. Zorn kam hoch in mir, Zorn auf Max und seine Unzufriedenheit. Zorn auf mich selbst, mich auf diesen Abend eingelassen zu haben. Erst im aufblühenden Frühlingswald vor Unterschleißheim beruhigte ich mich. Meine Gedanken blühten auf. Es waren faunische Gedanken: Die Sprache teilt Tiere in unlogische Kategorien ein, zum Beispiel die Gattung der Gele in die Untergattungen Igel und Vogel. Oder die Gattung der Meisen, ihrerseits eine Untergattung der Vögel, in Ameise und Kohlmeise. Was haben Igel und Vogel oder Ameise und Kohlmeise gemeinsam? Da haben doch Igel und Ameise mehr gemeinsam: Ihren Obergattungsnamen Gel und Meise werden lediglich die Vokale I und A vorangestellt. I und A, das ließ mich an den Ruf des Esels denken, und ich stellte mir Esel, Igel und Ameise als Unterschleißheimer Stadtmusikanten vor. Mit diesem Gedanken kam ich beim Bürgerhaus an.

Wieder kam Zorn in mir hoch. Max war noch nicht da. Was ich gut fand und ich ihm zugleich vorwarf. Wo war dieser verpeilte Arsch nur? Eine halbe Stunde vor Beginn – der Saal begann sich langsam zu füllen – war er immer noch nicht da. Ich rief ihn nicht an. Soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst! Meine Aufmerksamkeit begann sich auf den anstehenden Soloabend zu richten, mein Groll wandelte sich in unbändige Kraft. Ich fühlte mich frei, wie ein Schispringer, in die Luft geschleudert und ihr vollkommen ausgeliefert. Ich lieferte mich meinen Texten aus, tauchte in sie ein, erzählte zwischendurch von Gelen, von Meisen und von den Unterschleißheimer Stadtmusikanten und am Ende fühlte es sich an wie eine blitzsaubere Telemarklandung.

Zurück in der Garderobe, erschöpft und glücklich, rief ich Max an:
„Wo bist du?“
„Am Fröttmaninger Berg.“
„Was machst du am Fröttmaninger Berg?“
Max hatte aufgelegt. Ich schwang mich auf mein Fahrrad und trat heftig in die Pedale. Ich fuhr zum Fröttmaninger Berg. Dort fand ich Max unter dem Windrad, ans Geländer gelehnt, den Kopf gesenkt.
„Wo warst du?“
„In Föhring. Und du?“
„In Schleißheim.“
Wir hatten das kunstvolle Missverständnis produziert, dass Max im Bürgerhaus Unterföhring aufgetreten war und ich im Bürgerhaus Unterschleißheim.
„Wie war dein Auftritt?“
„Ich habe meine Gitarre zertrümmert und das Publikum beschimpft. Dann bin ich hierher gefahren.“
Wir schwiegen und sahen auf die Lichter der Stadt unter uns. Nach einer Weile sagte Max mit tränenerdrückter Stimme: „Ich hätte nicht aufhören sollen. Das Schispringen war doch alles für mich. Ich elender Feigling!“

Wir hörten hinter uns Geräusche und drehten uns um. Josefine und Clarissa stellten ihre Fahrräder ab. Max Augen zeigten großes Erschrecken beim Anblick der beiden. Er rannte weg und verschwand in der Dunkelheit.

Orte des Geschehens

Kleine Skisprungkunde mit Toni Innauer

Von Brüsten, Gelen, Meisen und Unterorten (aus dem Leben des Max Klopfer) – Teil 1

Max Klopfer und ich haben als Kinder viel Zeit miteinander verbracht. Besonders an unsere gemeinsam verbrachten Winter erinnere ich mich. Sobald genug Schnee lag, stapften wir mit unseren Schiern von unserer Siedlung zur nahegelegenen Leiten und fuhren sie runter, gingen sie rauf, fuhren sie runter, stundenlang. Eine besondere Leidenschaft entwickelten wir beim Bau von Schanzen, über die wir dann sprangen. Immer größer und tollkühner wurden unsere Schanzen. Wir übertrieben es: Einmal stürzte Max, holte sich unzählige blaue Flecken und brach sich einen Finger. Zwei Tage später aber war er schon wieder am Hang, mit einer Schiene an der Hand. Sein Vater war mitgekommen und belehrte uns:
„Jungs, ihr müsst eure Schanzen mehr in den Hang bauen, nicht so weit unten wo es schon flach wird.“
„Aber dann ist der Anlauf zu kurz!“ monierte Max.
„Der ist schon noch lang genug! Oder willst du dir Arme und Beine auch noch brechen!“
Max war ruhig.
„Außerdem“, meinte sein Vater weiter, „müsst ihr den Tisch der Schanze flacher und nach unten bauen. Dann katapultiert es euch nicht mehr so hoch in die Luft und ihr landet weicher.“
„Aber das ist doch langweilig!“ monierte Max.
„Nein, ihr springt dann flüssiger und weiter.“
Max Vater baute mit uns eine neue Schanze, die wir natürlich sofort nach Fertigstellung besprangen. Wir sprangen weiter und flüssiger, mit weniger Anlauf.
„Toll!“ sagte ich zu Max, als sein Vater gegangen war: „Woher weiß er das alles?“
„Das hat ihm sein Onkel Heini gezeigt.“

Max Leidenschaft für das Schispringen wurde so groß, dass unsere Leiten dafür zu klein wurde. Sein Vater fuhr mit ihm zu den Schanzen am Kälberstein, wo er immer weiter springen konnte. Schließlich ging er ins Sportgymnasium, weil er Schispringer werden wollte. Ich sah Max jahrelang nicht mehr, hörte nur über ihn und von seinem großen Talent fürs Schispringen. Jahre später, bei der deutschen Juniorenmeisterschaft auf der großen Kälbersteinschanze, habe ich zugeschaut. Max war einer der Favoriten auf den Sieg. Doch im ersten Durchgang stürzte er schwer. Seinen Sprung habe ich als sehr merkwürdig in Erinnerung: Völlig unkoordiniert und irgendwie leblos fiel er den Hang entlang, krachte hart und früh im Steilen auf und rutschte mit hoher Geschwindigkeit ins Flache. Unter den Zuschauern war große Unruhe, viele kannten ihn ja. Von ihm sah ich nichts im Getümmel, nur noch die blauen Lichter des Rettungswagens, der ihn abtransportierte.

Nun muss ich den Übergang zur näheren Vergangenheit herstellen. Diese nähere Vergangenheit ist einige Monate her, und sie gestaltete sich so, dass Max und ich uns über den Weg liefen. Nicht bei einem Heimatbesuch an der Leiten, wie zwei Nostalgiker, die auf ihr bisheriges Leben zurückblicken, sondern an einer Kreuzung, als wir mit unseren Fahrrädern auf das Grün der Ampel warteten. Genau genommen liefen wir uns nicht, sondern fuhren wir uns über den Weg. Nach über zwanzig Jahren fuhr ich meinem Kindheitsfreund Max Klopfer über den Weg. Max hatte einen Koffer auf seinen Rücken geschnallt, in dem eine Gitarre steckte. „Komme von der Probe“, sagte er. „Ich auch“, sagte ich. Anschließend gingen wir gemeinsam in eine Kneipe.

Als wir saßen, sagte ich: „Das letzte Mal habe ich dich gesehen bei deinem Sturz am Kälberstein.“
Max wurde nachdenklich: „Mein Sturz am Kälberstein…“, wiederholte er und blickte innerlich zurück, „der war ein Einschnitt in meinem Leben. Ich bin danach nie mehr von einer Schanze gesprungen.“
„Waren deine Verletzungen so schwer?“
„Nein, nein, das wäre schon wieder gegangen: Gehirnerschütterung, schwere Prellungen, aber sonst nichts. Ich hab mich wacker geschlagen. Nein, nein: Ich hatte kein Vertrauen mehr.
Ich hab mich damals, in den Wochen vor dem Springen, mit Barbara getroffen, meiner ersten Freundin. Und genau am Abend vor dem Springen haben wir zum ersten Mal so was wie Sex gehabt, naja…, wir kamen uns sehr nahe, es war das ungelenke und ängstliche Tun zweier Teenager, aber sehr schön. Sehr schön. Es hat mich total überwältigt. Ich hab bei ihr geweint, so überwältigt war ich. Jemandem so nahe zu sein, das hat mich umgehauen.
Am nächsten Tag auf der Schanze war es komisch. Ich hatte kaum geschlafen, musste mich aufrappeln. Ich hatte keine Lust auf das Springen. Das kannte ich nicht. Bis dahin war ich immer der erste an der Schanze gewesen. Der Probesprung ging in die Hose: Mit zitternden Beinen fuhr ich den Anlauf hinunter, erwischte den Absprung nicht gut, sprang kurz und landete wackelig. Im ersten Wertungsdurchgang saß ich auf dem Balken und fühlte mich völlig abwesend. Ich stieß mich ab mit einer Art ferngesteuerter Routine, und als ich den Anlauf hinunterfuhr, geschah etwas, das mich hinterrücks überraschte: Ich dachte plötzlich nur noch an Barbaras Brüste. Ich fand Barbara wunderschön, aber ihre Brüste hatten es mir besonders angetan, diese weichen zarten Äpfelchen. Ich dachte nur noch an ihre Brüste, ich bekam Panik, plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich das überhaupt nicht kann, mich mit Schiern an den Füßen in die Luft zu katapultieren und den Hang hinunterzugleiten. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz, wollte bei Barbara sein, da schleuderte es mich in die Luft, ich wusste nicht was ich tun soll, der Hang kam näher und dann war plötzlich alles dunkel…

weiter zu Teil 2

Hundert, Menschert und der Baum der Selbstachtung

Hundert Hunde laufen durch den stadtnahen Wald, kurz gesagt ein Hundert. Außer Hundert gibt es in diesem Wald nur noch Tiere, die bei eins auf dem Baum sind. Keine Beute mehr für Hundert. Nur Hundert. Dabei will Hundert jagen und erforschen. Aber Hundert in der Stadt wird gefüttert vom Mensch, ist abhängig vom Mensch, domestiziert seit Jahrhunderten, vom Jagd- und Hütegefährten zum Spielzeug umgewandelt. Hundert ist wie Kinder, die nie erwachsen werden, kleingehalten zur menschlichen Ergötzung.

Hundert kommt mit Menschen in den Wald. Es laufen also mit Hundert hundert und mehr Menschen durch den stadtnahen Wald, kurz gesagt ein bis mehrere Menschert. Hundert und Menschert im Wald. Der Wald im Würgegriff. Gewalt dem Wald. Ein Bellen, Pfeifen und Schreien wie im Krieg.

Ich sitze auf einem Baum, auf den ich geflüchtet bin. Auf eine alte Buche mit kräftigen Ästen. Ich fühle mich nicht wohl im Krieg von Hundert und Menschert. Ein Krieg ohne Feind, ein Krieg mit sich selbst, ein verzweifelter Krieg. Das Hundert schnuppert und bellt verzweifelt am Stamm der Buche, auf der ich sitze. Es riecht mich. Beute? Oder ein Freund? Das Menschert bemerkt mich gar nicht. Es quält sich mit Hundert durch die ihm fremde Umgebung: auf das Mobiltelefon starrend oder in es hineinsprechend oder Probleme, die es aus der Stadt mitgebracht hat, gemeinsam oder einsam wälzend. Ohne Gefühl für den Wald, für Hundert und für sich selbst. Sind das meine Artgenossen? Ich will nicht so sein, und bin bei eins auf den Baum geflüchtet, meinen Freund.

Menschert fühlt sich nicht wohl. Das fühle ich. Aber wozu braucht Menschert zu diesem Nichtwohlfühlen Hundert? Wozu geht Menschert zum Nichtwohlfühlen in den Wald? Nichtwohlfühlen geht auch ohne Hundert. Nichtwohlfühlen geht auch in der Stadt. Und Nichtwohlfühlen wird nicht besser mit Hundert und im Wald. Nichtwohlfühlen fängt bei Menschert selbst an. So wie Wohlfühlen. Aber Menschert missachtet sich selbst und in der Folge Hundert und Wald.

Dabei schreibt sich Menschert Folgendes auf sein Haus in der Stadt:

Vor Nichts nimm dich bei Tag und Nacht
so sehr als vor dir selbst in Acht

Frage nicht was andre machen
acht auf deine eignen Sachen

Selbstachtung, das ist ein Gefühl für die eigene Würde. Und wenn ich Menschert bei seinem unwürdigen Schauspiel mit Hundert im Wald sehe – ein Schauspiel, das im sozialen und politischen Leben unter Menschert seine Fortsetzung findet -, dann denke ich: Die Würde des Menschen ist scheinbar wirklich unantastbar, denn viele kommen nicht an ihre Würde heran, tasten im Dunkeln oder machen sich nie auf die Suche, als wäre Beschäftigung mit sich selbst eine viel größere Qual als sich mit Hunden durch den Wald zu quälen.

Ich umarme die Buche, meinen Freund, auf der ich sitze, auf die ich geflüchtet bin, und fühle den Krieg. In mir. Ich frage den Baum: Liebe Buche, ist das würdig, was ich hier treibe? Ich verurteile Menschert und verurteile mich selbst. Ich achte mich nicht: Statt auf dem Boden, für den ich gemacht bin, zu laufen und unter den Menschen zu sein, hocke ich auf dir herum. Die Buche sagt nichts, und durch dieses Nichtssagen weiß ich, dass sie mich versteht, mit der Weisheit ihrer vielen Jahre. Durch ihr Geerdetsein, das sich dem Himmel dankend entgegenstreckt, komme ich auf den tiefsten Grund meines Herzens, wo alles Verurteilen ein Ende hat und meine Selbstachtung sich erstreckt wie ein weiter See.