Ich fand mich in der Heilpraktikerpraxis Oberschopf ein, um mich einer Oberschopf-Behandlung zu unterziehen.
Auf dem Weg zur Praxis Oberschopf
In der Praxis begrüßte mich eine Dame mit mächtigem Oberschopf. Sie bat mich, mich freizumachen, sie meinte, das Freimachen sei der erste Schritt zur Heilung. Also machte ich mich frei und legte mich bäuchlings auf die Behandlungsmatte. Anschließend untersuchte Frau Oberschopf meinen Oberschopf und kam zu der Erkenntnis, dass mein Oberschopf bereits zu verkümmert sei, um an ihm eine Behandlung durchzuführen:
In der Praxis nach erfolgter Oberschopf-Untersuchung
„Warum darf ein Oberschopf nicht verkümmert sein, um an ihm eine Behandlung durchführen zu können?“ fragte ich daraufhin.
„Die Behandlung besteht meist darin, kräftig am Oberschopf zu ziehen, um durch dieses Ziehen das gesamte Energiesystem zu aktivieren. Manchmal führe ich die Energetisierung auch subtiler an einzelnen Haaren durch, aber selbst dafür dürften die Haare bei Ihnen nicht mehr ausreichen. Ich empfehle Ihnen aber einen Kollegen, der sich auf Unterschopfbehandlung spezialisiert hat. Die sollte bei Ihnen gut möglich sein.“
Während ich mich aufrichtete, um mich wieder unfrei zu machen, sagte Frau Oberschopf:
„Warten Sie, bleiben Sie liegen!“
Sie dachte eine Weile nach, um dann zu sagen: „Vielleicht kann ich Ihnen anders helfen. Ich werde versuchen, Sie statt mit einer Oberschopf-Behandlung durch direktes körperliches Berühren zu energetisieren. Erlauben Sie, dass ich mich dazu auch frei mache?“
„Ich erlaube!“ sagte ich und legte mich wieder hin, damit Frau Oberschopf loslegen konnte.
Frau Oberschopf berührte mich daraufhin zuerst mit ihren Händen, anschließend mit ihrem gesamten Körper. Ihr Berühren war sehr angenehm, oder, wie sie es sagen würde: heilend. Ja, ich glaube sagen zu können, die heilende Wirkung ihrer Berührungen gespürt zu haben und bin ihr sehr dankbar dafür.
Anschließend lagen wir noch eine Weile still da. Ich genoss die Stille, auch beim Aufstehen und Anziehen sprachen wir nicht, bis ich sie beim Hinausgehen doch noch fragte, was mir unter den Nägeln brannte: „Warum haben Sie eine Heilpraktikerpraxis und nicht einfach eine Heilpraxis?“
„Ich habe herausgefunden, dass eine Heilpraxis eine solche ist, in der hauptsächlich der sogenannte Heiler sein Heil sucht. Ihr eigenes Heil können Sie dort nicht erwarten, im Gegenteil: Sie können froh sein, wenn Sie heil wieder hinauskommen. Eine Heilpraktikerpraxis hingegen versucht sich an Praktiken, die umfassendes Heil bewirken, für Heiler und Heilsuchenden, wie zum Beispiel Oberschopf-Behandlung oder, wie eben: Berühren.“
Das war für mich eine einleuchtende Erklärung, hatte ich doch eben umfassende Heilung erfahren. Ich fühlte mich heil und glaubte zu bemerken, dass auch Frau Oberschopf sich heil fühlte. Gleichzeitig fragte ich mich, wieso ich unbedingt eine Erklärung haben wollte, anstatt die Heilung Heilung sein zu lassen. Mein schmerzgeplagter Verstand glaubte wohl noch nicht an die Heilung.
Anschließend verabschiedeten wir uns, ich machte mich auf den Weg und beschloss, die empfohlene Unterschopf-Behandlung vorerst nicht in Anspruch zu nehmen.
Was waren das letztes Jahr für schöne Weihnachten! Lockdown für alle, wir waren gemeinsam einsam. Es gab keine Impfungen gegen das Corona-Virus, die Gesellschaft war nicht in Geimpfte und Nichtgeimpfte eingeteilt. Es herrschte Einigkeit in der Einsamkeit. Wir saßen in unseren Wohnungen und wetzten die Messer, um den Kampf gegen das Corona-Virus aufzunehmen.
Dieser Tage wäre meine Großmutter hundert Jahre alt geworden. Ich dachte daran, dass ich ihr zu ihrem siebzigsten eine Pappkrone bastelte – ich nannte die Pappkrone Omikron. Und jetzt kommt Omikron in einer neuen Variante des Corona-Virus über uns. Trotz der Wunderwaffe der Impfungen! Ja, Herrschaftszeiten, was taugt denn die Wissenschaft, wenn sie dieses Virus nicht endlich unter Kontrolle kriegt? Wir Menschen haben doch diese Erde unter Kontrolle! Von diesem Glaubenssatz sollen wir nicht abweichen. Sonst sind wir verloren!
Aber das Schlimmste ist: Noch immer ist kein entspanntes geselliges Biertrinken möglich wegen dieses Virus! Apropos Bier: Bier enthält in unseren Breiten Hopfen. Obwohl Hopfen, wie Hildegard von Bingen anmerkte, die Seele des Menschen trübsinnig macht und seine inneren Organe belastet. Nein nein, sagen bayrische Reinheitsapostel dazu: Hopfen beruhigt, schläfert ein, und das ist das Wichtigste in dieser trübsinnigen Zeit, sich zu beruhigen und vor den Sorgen wegzuschlafen. Ich habe mir indessen das Gegemteil überlegt. Ich will mir zur Impfung einen zusätzlichen Booster, einen zusätzlichen Antrieb für das Leben in der Pandemie schenken: Ich werde mir Bier brauen, aber statt mit Hopfen mit Bilsenkraut. Bilsenkraut schläfert die Nerven nicht ein wie Hopfen, sondern bringt sie gewaltig durcheinander, Praktiker sagen, es führe einem das perfekte Bild des Wahns vor Augen. Das klingt nach prallem Leben!
Am Heiligen Abend, nachdem ich mein Bilsener genossen habe, werde ich deshalb wie ein Waldteufel durch den verschneiten Wald wandern, um an einem einsamen Waldsee meine Runden als Schlittschuhläufer zu drehen:
Wer nicht auf Teufel komm raus in den Wald will, um einen Waldsee zu suchen, der kann Weihnachten wieder so feiern wie letztes Jahr. Irgendwie ist es ja doch wieder dasselbe. Weihnachten da capo halt:
Die Flaneuse flaniert in Flanell, jetzt, im Winter, wo es kalt ist.
Im Sommer dagegen, als es warm war, saß sie mit einigen Anderen in einem Raum, als einer der Anderen sagte: „Würden Sie sich bitte bekleiden! Nacktheit im Beisein von Anderen entspricht nicht meiner Moral.“ Woraufhin sich die Flaneuse erhob und sagte: „Wenn ich das Wort Moral höre, muss ich den Raum verlassen.“ Ich wusste nicht, dass sie mit diesem Satz Kieślowski zitierte, jetzt weiß ich es, ich glaube die Flaneuse selbst hat mich später darauf hingewiesen, dass sie Kieslowski zitierte, er sprach über seinen Dekalog, ein ethisches und kein moralisches Werk, wie sie betonte, jedenfalls ging die Flaneuse, nachdem sie Kieślowski zitiert hatte, zur Tür die ins Freie führt, und als sie die Tür geöffnet hatte, in ihr stand und bevor sie sie hinter sich schloss, sagte sie: „Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg.“ Dann ging sie aus der Tür, schloss sie hinter sich und ließ die Anderen im Sarg zurück.
Ich kenne die Geschichte, weil ich daraufhin der Flaneuse begegnete, wie sie nackt die Straße entlangflanierte. Freudig begrüßte sie mich und meinte, sie habe soeben Blumfeld zitiert mit Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg, und die Anderen im Sarg belassen, während sie nun die Freiheit im Freien genieße, sicher, meinte sie weiter, der harte Asphalt unter meinen Füßen passt nicht zur Weichheit meiner Haut, ich träume vom weichen Wiesengrund, der mich zum wilden Wasser führt, der weiche Wiesengrund ist eine kulturelle Errungenschaft, während der harte, knorrige, wurzelige Waldboden die Realität ist, eine Realität vor dem Menschen, sofern man in der menschlichen Welt von Realitäten sprechen kann, mir erscheint alles wie ein Traum, meinte die Flaneuse, und sie fügte an, dass der harte, knorrige, wurzelige Waldboden mit weichem Moos durchsetzt sei, woraufhing sie vorschlug, den harten Asphalt der Stadtstraßen zu verlassen und in den Stadtwald zu gehen, um dort auf weichem Moos zu ruhen.
Wir flanierten nun zu zweit die Straßen entlang, wobei: Bei mir war es eher angespanntes Gehen, ich sah in den Augen entgegenkommender Leute deren Moral aufblitzen, als ich mit der nackten Flaneuse die Straßen entlangging, ich war kurz davor, vor dieser Moral zu kapitulieren, doch die Flaneuse setzte unbeirrt einen Schritt vor den anderen, dieser Unbeirrtheit konnte ich mich nicht entziehen. Ich begann aber – wohl, um mich von meiner eigenen Moral abzulenken – unentwegt zu plappern, irgendwelches Zeug, sodass ich mich – das weiß ich erst jetzt, im Nachhinein – den wunderbaren Welten, die die Flaneuse mir eröffnet hatte, zu entziehen begann.
Ich wünschte wir wären gemeinsam im Stadtwald angelangt, wo ich mich spätestens auf weichem Moos ebenfalls entkleidet hätte, um mit der Flaneuse unter offenem Himmel die wunderbaren Welten zu erkunden. Doch dazu ist es nicht gekommen: Ich ließ die Flaneuse allein weiterflanieren, bog selbst hart in eine Seitenstraße ab, um mich meiner Moral zu ergeben.
In dieser harten Seitenstraße, die im Winter noch härter ist, flaniert sie nun, die Flaneuse, in weichen Flanell gepackt. Ich sehe sie gehen, wie sie einen Schritt vor den anderen setzt, ich fühle mich wie in einem Sarg, unfähig, einen Schritt mit ihr zu gehen, und wie ich sie so gehen sehe, weiß ich nicht: Ist es ein Traum, oder ist es die Realität der ich nicht ins Auge blicken kann?
Ich wachte auf und hatte zunächst eine verträumte Säuselei in meinen Ohren. Es klang nach Lottofee. Dann jedoch ging die Säuselei in tanzende und springende Basstöne über, ich versuchte die Basstöne zu erfassen, ich hörte dreimal die Abfolge C-D-G, abgeschlossen mit einem A-G-F-Diminuendo, ich kann es aber nicht genau sagen, ich fühle Musik nur und denke sie nicht, deshalb berührt Musik mein Innerstes und nicht nur meinen Kopf.
Ich hatte keine Ahnung, was die verträumte Säuselei und die tanzenden und springenden Basstöne mir sagen wollten, ich stieg aus dem Bett und begann den Tag wie üblich mit einem Blick in den Badezimmerspiegel. Musik, dachte ich mir, ja, Musik, während mich die verträumte Säuselei und die tanzenden und springenden Basstöne weiter verfolgten, ich dachte an die Pastorale von Beethoven, an seine sechste Sinfonie, aber ich konnte nur denken, nicht fühlen, ich war voll von verträumter Säuselei und tanzenden und springenden Basstönen, die Basstöne wurden nun dominanter und drängten die Säuselei in den Hintergrund, ich nahm meine Gitarre in die Hand und versuchte, die Basstöne zu spielen:
Es begann kläglich, doch ich spielte mich in einen Rausch, ich konnte nicht mehr aufhören, es war ungewiss, ob ich ein Ende finden würde, als ich plötzlich eine Frau singen hörte, eine tiefe zarte Frauenstimme, die eine Melodie zu den tanzenden und springenden Basstönen sang, mündend in den Chorus: Oh I, I wanna be with you, Ephriweh – oh ich, ich will mit dir sein, Ephriweh.
Das hätte ich nun als vollkommenen Unsinn abtun können und mit diesem vollkommenen Unsinn diese Aufzeichnungen hier beenden können, wenn ich schon mein Gitarrenspiel der Basstöne nicht beenden konnte. Ich beendete jedoch, zu diesem Zeitpunkt völlig unerwartet, das Gitarrenspiel der tanzenden und springenden Basstöne, und jetzt fing alles an. Ich begriff, dass die tanzenden und springenden Basstöne einem Lied entstammen, dass ich bereits als Kind gehört habe: Der Knabe springt über sonnenbeschienene grüne Wiesen und hört die verträumte Stimme singen: I wanna be with you, Ephriweh. Wer ist Ephriweh? Ephriweh bin ich selbst, aber in einer höheren, freieren Dimension. Nein – das ist Unsinn: Ephriweh bin ich und bin nicht ich, Ephriweh ist was ich weiß und was ich nicht weiß, und es ist Unsinn, etwas über Ephriweh zu schreiben. Bin ich nun endgültig an dem Punkt angelangt, diesen Unsinn zu beenden?
Can you hear me calling out your name? Kannst du mich hören, Ephriweh? Ein spiritueller Meister, der nun zwar überraschend aber nicht unpassend die Szenerie betrat, sagte: Ephriweh ist dein befreites Selbst, vielleicht sogar dein universelles Selbst, aber seine Worte verschallten ins Nichts, denn ich fiel ins Bodenlose, ohne Angst vor dem Aufprall zu haben, weil es keinen Boden mehr gab. Doch der Fall hielt nicht an, ich hörte Stimmen sagen: Ist er nicht sonderbar? Wir hören Ramones, und er hört Fleetwood Mac.
Als meine Füße den Boden wieder erreicht hatten, noch immer von tanzenden und springenden Basstönen durchdrungen, hatte sich das Rätsel gelöst: Fleetwood Mac also, mit dem Gesang von Christine McVie. Sie singt nicht Ephriweh, sondern Everywhere, aber ich höre nur Ephriweh, überall wo ich bin.
Über der Schotterebene leuchtete noch die Sonne, ganz flach lag sie im Westen auf der Erde, in diesem satten Licht konnte ich mir nicht vorstellen, dass es bald dunkel werden würde, ich rollte weiter, mit großer Geschwindigkeit, auf einer Asphaltpiste, die Autobahn Acht genannt wird und von der Schotterebene ins hügelige Alpenvorland führt, durch die große Geschwindigkeit hatte ich das hügelige Alpenvorland bald erreicht, ich hatte das satte Licht hinter mir gelassen, jetzt dämmerte es, und Tanja, die zu meiner Überraschung neben mir saß, während wir mit großer Geschwindigkeit die Asphaltpiste entlangrollten, sagte: Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist.
Ich versuchte daraufhin, die Wirklichkeit so gut ich konnte zu erfassen, ich entgegnete Tanjas Aussage mit meiner Feststellung: Die Mangfall haben wir bereits überquert, nun schmiegt sich die Asphaltpiste in das Tal der Leitzach, um uns danach auf den Irschenberg zu führen. Mag sein, sagte Tanja, aber was hat das mit der Wirklichkeit zu tun?
Vom Irschenberg aus sahen wir ins Inntal nach Osten, die dämmerige Welt lag wie ein Traum vor uns, während im Rückspiegel das Licht der untergehenden Sonne leuchtete. Ich betrachte den erleuchteten Punkt vor uns, der Rosenheim genannt wird, sagte Tanja nun, und es kommt mir so vor, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin und wo ich mich befinde. Vielleicht befinde ich mich in der unmittelbaren Unwirklichkeit.
Die Asphaltpiste leitete uns weiter durch die Unwirklichkeit, und ich dachte an Tanjas Worte, als wir aus der Schotterebene in die Unwirklichkeit eingetaucht waren: Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist. Am Chiemsee verließen wir die Asphaltpiste, es erschien unwirklich, hatte die Piste uns doch wie in einem Traum durch das dämmerige Land geleitet, am Chiemsee war es dunkel, das Sonnenlicht im Westen nur noch zu erahnen, die Sterne über uns hell aber nicht erleuchtend, ich verlor vollkommen die Orientierung, was Tanja wortlos zur Kenntnis nahm, ich hatte nicht das Gefühl, als wolle sie etwas gegen diese Orientierungslosigkeit unternehmen, mitten in dieser Orientierungslosigkeit erreichten wir Sonjas Haus, dort hielten wir, und Tanja sagte: Ich steige aus und gehe zu Sonja ins Haus.
Für einen Moment dachte ich, dass auch ich steige aus und gehe zu Sonja ins Haus, doch in diesem einen Moment fiel etwas Licht auf Johannas Gesicht, Johanna saß mit den Kindern hinten, woher das Licht kam, das auf Johannas Gesicht fiel, weiß ich nicht, mittlerweile bilde ich mir ein, dass es von mir kam, ich weiß auch nicht, wieso Johanna mit den Kindern hinten saß, Tanja war inzwischen ausgestiegen und ging zum Haus, und ich wusste jetzt, dass ich mit Johanna und den Kindern an den See fahren würde, wir waren schon am See, trotzdem würde ich mit Johanna und den Kindern weiterfahren, an den See, vielleicht an einen anderen See, vielleicht an den gleichen See an anderer Stelle, Johannas Mutter wohnt am See, so wie Sonja, wir würden zu Johannas Mutter fahren, wo ist eigentlich Johannas Vater? Wo sind überhaupt die Väter in dieser unmittelbaren Unwirklichkeit?
An mehr kann ich mich nicht erinnern, sicher ist, dass ich weiß wo ich mich befinde, die Sonne scheint hell am See, ich weiß, dass ich lebe, aber in alledem fehlt etwas, als wäre es nicht wirklich, eher unwirklich, wie ein Traum, und immer wieder kommen Tanjas Worte über mich, dass im Dämmerlicht die Welt wirklicher ist, weil sie so unwirklich ist.
Gerd Müller, der Fußballer aus Nördlingen im bayerischen Schwaben, dort im November 1945 geboren, schoss einst so viele Tore wie sonst keiner. Im August 2021 ist er gestorben, und weil man ihn zu Lebzeiten wegen seiner vielen geschossenen Tore zu einer Legende gemacht hatte, sagte man im August 2021: Eine Legende ist gestorben.
Gerd Müller hätte als Legende leben können, wenn er nicht 1974, nach dem Finale der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland, seinen Mannschaftskameraden und Funktionären des deutschen Fußballbundes (DFB) verraten hätte, dass er in Wahrheit Merd Güller heißt. Er hatte im Finale zuvor als Gerd Müller mit seinem Tor die deutsche Mannschaft zum Fußball-Weltmeister gemacht, dann mit seinem Geständnis für viel Hektik vor allem unter den Funktionären des DFB gesorgt. Die einen sagten: Wollen wir uns wegen zweier vertauschter Buchstaben verrückt machen? Merd, Gerd, Güller, Müller? Ja, aber – sagten die anderen, der hat doch so dunkle Haare, natürlich ist das ein Türke, der Gerd Müller, der heißt sicher Merd Güller, und noch andere sagten: Aber nein, ein Türke ist er nicht, aber sein richtiger Vater war ein Zigeuner, das hört man doch immer wieder, und da sagte Hermann Neuberger, seinerzeit hoher Funktionär und wenig später Präsident des DFB: „Ich kann weder Türken noch Zigeuner in meiner Mannschaft brauchen. Gerd Müller, wenn er denn Merd Güller heißt, was ja erwiesen ist, er hat es ja selbst gesagt, kann nicht mehr in meiner Mannschaft spielen, auch wenn er noch so viele Tore schießt.“
Jeder wunderte sich, warum Gerd Müller ab 1974 nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft spielte, denn alle dachten, außer die paar Eingeweihten des DFB, dass er Gerd Müller heißt, und ein Gerd Müller kann natürlich in der deutschen Nationalmannschaft spielen, vor allem, wenn er so viele Tore schießt. Während ein Merd Güller natürlich nicht in der deutschen Naitonalmannschaft spielen kann, der sollte schon in der türkischen spielen, das dachte sich auch Hermann Neuberger, aber er konnte es nicht sagen, dem deutschen Volk sollte nicht sein Glaube an Gerd Müller genommen werden, und deshalb hieß es, dass Gerd Müller nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft spielen wollte, obwohl Merd Güller nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft spielen sollte.
Merd Güller war spätestens seit 1974 ein gebrochener Mann. Er spielte nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft, aber er spielte noch für den FC Bayern München, wo ein gewisser Wilhelm Neudecker als Präsident das Sagen hatte, und Neudecker sagte: „Gerd Müller, sag ja niemandem, dass du Merd Güller heißt. Und wenn du keine Tore mehr schießt, dann kannst dich schleichen, du Scheißtürk!“
Merd Güller schoss noch einige Jahre Tore für den FC Bayern München, dann sagte er zu Wilhelm Neudecker: „Präse, ich kann nicht mehr! Ich will allen sagen, dass ich Merd Güller heiß!“
„Bist du wahnsinnig!“ schimpfte Neudecker: „Eher gehst zum Franz nach Amerika! Der soll dir deine Flausen austreiben.“
Franz Beckenbauer, der Gott des deutschen Fußballs, spielte zu dieser Zeit schon nicht mehr für den FC Bayern München, sondern für Kosmos New York. Auch bei Beckenbauer überkam Neudecker kurzzeitig die Sorge, ob er nicht auch Türke oder sonstwas Komisches sei, er beriet sich mit seinem Verwaltungsbeirat, man vertauschte die Buchstaben wie bei Müller und kam zur Erkenntnis, das Banz Freckenbauer zwar komisch, aber keinesfalls türkisch, sondern am ehesten deutsch klingt.
Merd Güller ging also zu Franz Beckenbauer nach Amerika, ohne allen zu sagen, dass er Merd Güller und nicht Gerd Müller heißt. Drei Jahre schoss er in Amerika noch Tore, aber dann war es endgültig vorbei mit dem Toreschießen, mit der einzigen Beschäftigung, die ihn vergessen ließ, dass er Merd Güller und nicht Gerd Müller heißt, und wieder war er unglücklich, als er merkte, dass er für die Welt Gerd Müller und nicht Merd Güller heißt. Er begann mehr Alkohol zu trinken als bisher. Er kam wieder nach Deutschland zurück, um noch mehr Alkohol zu trinken.
Nach einigen Jahren, in denen Merd Güller sich weitgehend unbemerkt seiner Alkoholsucht hingegeben hatte, kam Uli Hoeneß ins Spiel. Uli Hoeneß ist eine kleine deutsche Fußballerlegende und heute eine Managerlegende. Damals sagte Uli Hoeneß, als Manager des FC Bayern München, zu Fußballgott Franz Beckenbauer: „Franz, wir müssen uns um den Gerd kümmern! Der ist eine FC-Bayern-Legende und als solche wichtig für uns!“
„Ah, du meinst den Merd?“ entgegnete Beckenbauer.
„Den Gerd mein ich, Franz. Hör mir auf mit dem Merd!“
Uli Hoeneß kümmerte sich daraufhin um die Sache, zahlte eine teure Entzugsbehandlung, um die Legende Gerd Müller trocken zu kriegen. Und er sagte zu Merd Güller: „Das alles mache ich, damit du Gerd Müller bleibst. Verstanden!“
Und so blieb Merd Güller die Legende Gerd Müller, der so viele Tore schoss wie keiner, und nebenbei war er Co-Trainer von Nachwuchsmannschaften des FC Bayern München.
Fast zwanzig Jahre vergingen auf diese Weise, kein Mensch wollte mehr wissen, dass Gerd Müller, die Legende, der so viele Tore schoss wie sonst keiner, in Wahrheit Merd Güller heißt, auch kein DFB-Funktionär, als Merd Güller zu Uli Hoeneß sagte: „Uli, ich mag nicht mehr. Ich sag allen, dass ich Merd Güller heiß!“
„Einen Teufel wirst du tun!“ schimpfte Hoeneß: „Du bist Gerd Müller. Der Mann, der so viele Tore schoss wie sonst keiner!“
Und so blieb Merd Güller wieder Gerd Müller, aber es fiel ihm noch schwerer als früher, Gerd Müller zu sein, die Legende, die so viele Tore schoss wie sonst keiner, er wollte nun endlich Merd Güller sein, aber es ging nicht mehr, zu viel war passiert, zu viele Tore waren geschossen, von ihm, für den FC Bayern München, und für Deutschland. Zu viele Jahre waren vergangen, in denen er Gerd Müller war und nicht Merd Güller. Seinen Toren, die er als Gerd Müller geschossen hat, hat er alles zu verdanken, vor allem diesem einen Tor, das Deutschland zum Weltmeister machte, 1974, sein letztes Tor für Deutschland:
Er ist Gerd Müller, der so viele Tore schoss wie sonst keiner, die Legende, aber er wollte nicht mehr Gerd Müller sein, und weil es keinen anderen Ausweg mehr gab, vergaß er einfach, dass er Gerd Müller ist, er vergaß es immer mehr, er vergaß seine Tore, eines nach dem anderen, er vergaß auch, dass er Merd Güller ist, denn er würde es nie sein können. Man nannte es Demenz, das Vergessen des Merd Güller.
An seinem 70. Geburtstag, als ihn alle feiern wollten, die Legende, die so viele Tore schoss wie sonst keiner, hatte er alles vergessen, fast alles, außer das Tor 1974, sein letztes für Deutschland, das hatte er noch nicht vergessen. Die Feier wurde abgesagt. Es wäre zu peinlich gewesen, eine Legende zu feiern, die so viele Tore schoss wie sonst keiner, die diese Tore aber vergessen hat, vergessen wollte. Schließlich gingen noch einige Jahre der Selbstvergessenheit des Merd Güller ins Land, ins deutsche Land, bis er in seinem 76. Lebensjahr alles vergessen hatte, und seine Existenz als Gerd Müller endete.
Ich betrachte das Bild
und bilde mir ein
das sei Bildung
bis ich begreife
dass Bildung heißt
mir selbst ein Bild zu machen
und nicht nur andre Bilder
zu betrachten
Vorderbrandner sagt, er habe viele Rückfragen zum Text Alfrederika erhalten. Die meistgestellte Rückfrage war: Wieso steht am Ende der Geschichte ausgerechnet die im Tierheim weilende Dackeldame Berta? Vorderbrandner sagt, er habe auf die meisten dieser Rückfragen nicht geantwortet, auf eine aber habe er geantwortet, weil es ihm aus einem Gefühl heraus opportun erschien, auf eine zu antworten. Er habe mit folgender Antwort geantwortet: Die im Tierhiem weilende Dackeldame Berta steht am Ende der Geschichte, weil es das Ende der Geschichte ist. Er hätte diese Begründung natürlich ausführlich begründen können, hätte anfügen können, das Eric Rohmer einen Film dort beendete, wo er mit dem nächsten anfangen wollte, aber ihm schien seine Antwort ausreichend, mehr noch, sie schien ihm wohlbegründet, sei es doch die Freiheit des Künstlers, sein Werk dort zu beenden, wo er es will, ohne dies begründen zu müssen, und überhaupt, jedem Ende wohnt ein Anfang inne, es gibt überhaupt kein Ende ohne Anfang, vielleicht, das fällt mir jetzt ein, sagt Vorderbrandner, sollte man das Ende – als Gegensatz zum Anfang – Ausfang nennen, man wird von einer Geschichte am Anfang gefangen genommen, aber am Ende, am Ausfang, wieder freigelassen. Es sei überhaupt nicht wichtig, wie eine Geschichte anfange, ebenso wenig sei es wichtig, wie sie ausfange, es sei überhaupt nicht wichtig, ob eine Geschichte sei oder nicht, sie ist sowieso, wenn man sie geschrieben hat, und wenn man sie liest, soll man sie nehmen wie sie ist, oder sie neu lesen, oder sie neu schreiben, aber nicht den Autor belangen, sie für einen neu zu schreiben.
Den alten Herrn sehe ich schon seit Jahren an der immer selben Kreuzung.
Die Kreuzung ist nicht vielbefahren, trotzdem war der Verkehr an ihr jahrelang durch Ampeln geregelt. Der alte Herr stand jedesmal wenn ich ihn sah an derselben Straßenecke an einer der beiden Ampeln. Immer war die Ampel, an der er stand, rot. Nie war die Ampel grün, nie ging er über die Straße, wenn ich vorbeikam. Er stand immer an einer der beiden Ampeln, wenn sie rot war. Das kam mir mit der Zeit merkwürdig vor.
Deshalb blieb ich eines Tages, als ich den alten Herrn wieder an der roten Ampel hatte stehen sehen und die Kreuzung passiert hatte, in einiger Entfernung selbst stehen, um ihn zu beobachten: Ich wartete gespannt, was er machen würde, wenn die Ampel grün wird – als sie grün wurde, ging er nicht über die Straße, sondern drehte sich um neunzig Grad und wechselte zur anderen Ampel, die rot war. Nun stand er an dieser Ampel. Als diese grün wurde, wechselte er wieder zur Ampel, die nun rot war. So ging das hin und her, er wechselte von der einen Ampel zur anderen. So war das also! Ich hatte genug gesehen. Ich hatte das Geheimnis des alten Herrn an der roten Ampel gelüftet und fuhr weiter.
Vor einigen Monaten wurden die Ampeln an der Kreuzung abgebaut und rechts vor links eingeführt. Ich sah den alten Herrn nun nicht mehr, was mir folgerichtig erschien: Es gibt ja keine roten Ampeln mehr, an denen er stehen kann. Trotzdem ging er mir nicht aus dem Kopf: Hatte er sich nun eine andere Kreuzung gesucht, an der er vor roten Ampeln stehen kann? Oder hat er sein Stehen vor roten Ampeln gänzlich aufgegeben?
Gestern kam ich wieder einmal an der Kreuzung vorbei, und der alte Herr stand, zu meiner Überraschung, ja, fast zu meiner Freude, wieder an der Straßenecke, so wie früher, als die Ampeln noch da waren. Er stand reglos und rührte sich nicht. Ich blieb stehen und gab ihm ein Zeichen, dass er die Straße überqueren kann. Er aber blieb stehen, reglos, mit starrem Blick, er setzte keinen Fuß auf die Straße. Nach einigen Momenten drehte er sich um neunzig Grad, ging ein paar Schritte an die Stelle, wo früher die andere Ampel stand, und blieb dort stehen.
Während dieser paar Schritte hatte er einen Zettel verloren. Der Zettel war zu Boden gefallen. Ich stieg vom Fahrrad und hob den Zettel auf, wollte ihn ihm geben, aber er reagierte nicht, blieb reglos stehen an der Stelle, wo früher die Ampel war. Ich faltete den Zettel in meiner Hand auf und las:
Ich bin Beamter geworden, weil mir schon damals klar war, dass Stillstand die sicherste Option im Leben ist. Alles muss geregelt sein, um nicht im Chaos des Lebens zu versinken. Meine Pensionierung war der erste Tod in meinem Leben, der erste Fall aus der Ordnung. Nun haben sie mir auch noch meine roten Ampeln weggenommen, die mir so viel Sicherheit gegeben haben. Wozu soll ich noch leben?
Ich hielt ein Manifest in Händen. Ein Manifest des Lebens des alten Herrn. Ich war ergriffen, so unvermittelt so viel über das Leben des alten Herren an der Kreuzung erfahren zu haben. Noch einmal unternahm ich einen zaghaften Versuch, ihm den Zettel zurückzugeben. Er aber ging an mir vorbei, als ob ich nicht da wäre, und wechselte zur anderen Ampel. Ich blieb eine Weile stehen und beobachtete ihn. Er ging in strengem Rhythmus hin und her, durch jahrelange Übung hatte er die Intervalle der Rot-Grün-Schaltungen verinnerlicht und brauchte die Ampeln gar nicht für sein Hin- und Hergehen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass die Ampeln wieder da sind, ich konnte sie sehen, durch sein rhythmisches Gehen. Es war wie früher, als wären die Ampeln nie abgebaut worden. Und gleichzeitig beschlich mich eine Ahnung, dass der alte Herr aus seinem Rhythmus ausbrechen würde, dass er die Straße betreten würde, sogar wenn die Ampel rot ist und niemand damit rechnen würde, nicht mal er selbst.
Ipien ist ein historischer Landstrich, in dem das Adelsgeschlecht der von Ipien herrschte. Heute gibt es Ipien nicht mehr beziehungsweise der Landstrich, der so genannt wurde, wird jetzt anders genannt oder ist Teil eines anderen Landstrichs mit anderem Namen geworden. Ebenso wenig weiß man von den von Ipien, es hat sich nur die Legende eines Prinzen von Ipien überliefert, der ein leidenschaftlicher Reiter gewesen sein soll. Es gefiel ihm, sich hoch auf einem edlen Ross zu zeigen. Er ließ Gemälde von sich anfertigen, die ihn voller Anmut hoch zu einem edlen Rosse zeigen. Diese Gemälde besitzen heute hohen ikonographischen Wert.
Zu seinen Lebzeiten aber hatte der Prinz panische Angst davor, dass das ikonographische Bild von ihm zerstört werden könnte. Was, wenn jemand ihn sehen würde bei seinen Ausritten wie er gerade gähnt oder in seiner Nase bohrt, ja wenn er nur die Augen zu hätte, wenn dieser Jemand ein begabter Maler wäre und die ungünstigen Posen zu Papier brächte? Der Prinz ritt deshalb immer durch einsame Gegenden, Ipien war eine einsame Gegend und bot ihm für seine einsamen Ausritte ausreichend Raum, aber dennoch erschien dem Prinzen das Risiko zu hoch, in einer ungünstigen Pose festgehalten zu werden, in einem unbedachten Moment des Nasenbohrens, sodass er verfügte, dass ihn fortan ein ganzer Tross von Reitern begleiten sollte bei seinen Ausritten, der Tross sollte ihn umgeben, sodass er von seiner Umgebung nicht gesehen werden konnte.
Als er fortan mit seinem Tross unterwegs war, war er dennoch nicht zufrieden. Es missfiel ihm, dass die Reiter vor ihm nach vorne schauten und nicht zu ihm, dass sie nicht seine anmutige Haltung hoch zu Rosse bewunderten, und so verfügte er wieder. Nämlich dass die Reiter vor ihm rückwärts auf ihren Pferden zu sitzen haben, um ihn bewundern zu können. Diese Reiter mussten aber gleichzeitig die Kontrolle über ihre vorwärtsreitenden Pferde behalten, denn der Prinz war ein flotter Reiter, bevorzugt war er im Galopp unterwegs. Spezielle Zügel wurden entwickelt, damit die Reiter das Pferd von hinten steuern konnten, weiters eine eigene Zeichensprache zwischen den Reitern, damit die Reiter hinter dem Prinzen, die nach vorne schauten, die Reiter vor dem Prinzen, die nach hinten schauten, vor Gefahren warnen oder Kurven und Hindernisse ankündigen konnten.
Ipien hat also durch den Prinzen und seine edlen Ausritte in der Kavallerie neue Maßstäbe gesetzt: im Rückwärtsreiten und in der Kavalleriekommunikation. Ipien aber gibt es nicht mehr beziehungsweise der Landstrich, der so genannt wurde, wird jetzt anders genannt oder ist Teil eines anderen Landstrichs mit anderem Namen geworden. Vom Geschlecht der von Ipien haben sich nur die Ikonographien des Prinzen erhalten, wie er hoch zu einem edlen Rosse sitzt, allein vor einem weiten einsamen Landstrich, die also, so ist sich die historische Forschung heute einig, ein völlig verfälschtes Bild von den täglichen Ausritten des Prinzen geben.
Auch rückwärtsreitende Reiter sieht man nur noch selten, vor allem nicht im Galopp. Das einzige, was sich aus dieser Zeit erhalten hat, ist der Begriff der Prinzipienreiter, der an die Reiter erinnert, die rückwärts auf ihren vorwärts reitenden Rossen saßen, um den Prinzen von Ipien zu bewundern.