In den Buchhandlungen gibt es Bücher zu kaufen, auf denen steht: „Papa, erzähl mal!“ Diese Bücher sind unbeschrieben und bestehen aus vielen weißen Seiten. Auf diese weißen Seiten sollen die Väter dann etwas hineinschreiben, also erzählen. Das klingt recht nett und niedlich. Trotzdem habe ich mich lange nicht getraut, so ein Buch zu kaufen und meinen Vater erzählen zu lassen. Das war mir nicht geheuer. Ich glaube, es ging ihm ähnlich, und so waren wir uns auf fatale Weise einig.
Um uns beide auszutricksen, habe ich bei meinem Urgroßvater angefangen und ihn gebeten, zu erzählen:
Urgroßvater (1883-1953)
Es war großartig. Ich hatte den Hof erworben mit der dazugehörigen Werkstatt. Alles lief prächtig. Die Kinder wurden geboren und wuchsen heran. Dann kam der Krieg. Anfangs dachte ich, das sei eine gute Sache, zu kämpfen für dieses unser schönes Land, zu kämpfen für den Kaiser. So etwas wie Niederlage kannte ich nicht. Es war doch nur bergauf gegangen bisher für mich.
Doch dann erlebte ich schreckliche Dinge. Ich sah Bomben die einschlugen und detonierten. Ich sah zerfetzte tote Körper, denen die Eingeweide heraushingen. Ich hatte Todesängste. Ich überlebte. Doch als es vorbei war und ich wieder nachhause kam an den Hof, war ich ein anderer. Ich bekam die Bilder nicht mehr aus dem Kopf, die Bilder des Leidens und Sterbens. Immer wieder diese Bilder. Am schlimmsten war es, wenn mein ältester Sohn, dein Großvater, mich in einem solchem Moment ertappte, wenn die Bilder wieder auftauchten; denn in solchen Momenten stand ich da wie schockgefroren, vollkommen hilflos, und ich schämte mich dafür.
„Was ist denn?“ fragte er dann immer wieder, und er fragte es immer genervter, je älter er wurde. Ich sagte es sei nichts. Und wie ich ihn so heranwachsen sah, hatte ich immer mehr Angst, dass er auch so etwas erleben muss.
Großvater (1910-1955)
Ich habe meinem Vater und seiner Generation nie verziehen, was er mir und meiner Generation angetan hat. Erst verlieren sie den Krieg, weil sie zu feige waren zum Kämpfen. Dann kommt er nachhause und lässt den Hof halb verlottern mit seiner Nichtstuerei. Oft ertappte ich ihn dabei, dass er einfach nur dastand und dumm in die Gegend schaute. Er machte mich rasend vor Wut. Die Zeiten wurden immer schwieriger, und er tat nichts. Er schaute einfach nur zu. Ich wollte weg, wollte dazugehören zu denen, die etwas taten. Und die Neuen, die Nationalsozialisten, die taten endlich etwas, stürzten das untätige etablierte Pack von seinem Sockel. Mein Vater würde schon sehen!
Wie hätte ich denn wissen sollen, dass ich so enttäuscht werden würde? Alles verloren, obwohl ich so viel investiert hatte. Ich war erschöpft, am Boden, und nicht sicher, ob ich froh sein sollte, überlebt zu haben.
Mein Vater übergab mir den Hof, und ich musste ihm auch noch dankbar sein. Ich war nicht gern zuhause. Manchmal wünschte ich mir, meine Söhne wären nie geboren. Zuhause sein war für mich Kapitulation; das Aufgeben von all dem, was ich mir vom Leben erhofft hatte.
Vater (1941-1997)
Mein Vater, dein Großvater, war ein großartiger Mann; ein Draufgänger und Genie. Ich verstehe bis heute nicht, warum sein Bruder und nicht er die Werkstatt bekommen hat. Er war kein Bauer, nein, er war ein Visionär mit großem technischem Verständnis.
Mein Vater und sein Vater mochten sich nicht. Ständig ging mein Vater seinem Vater aus dem Weg. Oft war mein Vater in der Wirtschaft und meine Mutter hatte dann immer große Angst davor, dass er sehr betrunken und übellaunig nachhause kommen würde. Ich verstand ihn. Sollte er gut gelaunt sein? Niemand mochte ihn, obwohl er so ein großartiger Mann, so ein Draufgänger und Genie war.
Ich wollte auch so sein wie mein Vater, aber ich kam nie dazu, denn ich musste immer zuhause sein und meine kleinen Brüder hüten. Wieso verstand meine Mutter nicht, was für ein großartiger Mensch mein Vater war?
Mein Vater ist früh gestorben, keine zwei Jahre nach seinem Vater. Obwohl er seinen Vater nicht mochte, fehlte er ihm trotzdem sehr, nachdem er gestorben war. Ich glaube, er war sehr verbittert, weil ihn niemand mochte.
Immer wollte ich so sein wie mein Vater, aber ich kam nie dazu, auch nicht später im Leben. Immer stellte sich mir jemand oder etwas in den Weg. Ich habe es einfach nicht geschafft.
Ich habe Angst, mein Sohn, dass sich auch dir jemand oder etwas in den Weg stellt und du dem genauso schutzlos ausgeliefert bist wie ich. Aber ich merke, dass ich dir nicht helfen kann, dass du mir entgleitest, so wie mir alles entgleitet ist im Leben, was mir jemals wichtig war.
War es gut, meine Väter erzählen zu lassen? Ich haderte. Doch jetzt bin ich froh, dass sie ihr Schweigen gebrochen haben. Ich habe ihnen endlich verziehen für alles was sie getan und nicht getan haben. Ich habe die Kraft entdeckt, die sie mir geben. Ich habe gelernt, sie zu lieben und zu achten. Ich habe gelernt, mich zu lieben und zu achten und meinen Weg zu gehen; und dass sie auf diesem Weg meine größten Fans sind.