Mein Freund Georg ist ein ordnungsliebender Mensch, und nichts liebt er mehr, als Dinge in eine Struktur zu bringen. Da ihn jedoch seine Beziehungen mit der Welt regelmäßig in ungeordnete Krisen stürzen, hat er neuerdings die Philosophie als Disziplin für sich entdeckt. Er studiert in letzter Zeit Buch über Buch, gerät dabei jedoch zunehmend in Unruhe.
Ich sitze mit ihm am Tisch, als er zu mir sagt: „Lieber Emil! Was ich erkenne ist, dass die Philosophie viel mit den Dingen dieser Welt zu tun hat. Meine Bücher bringen mich da nicht weiter. Das ist zu theoretisch.“
Er macht eine kurze Pause. Ich signalisiere ihm, er solle fortfahren. Was er tut.
„Lieber Emil, du bist doch ein Mensch, der sich viel mit den Dingen der Welt beschäftigt. Könntest du nicht mal rausgehen zu den Dingen der Welt, fort von den Büchern, und mir dann berichten, was du erfahren konntest?“
Es erscheint mir eine große Aufgabe, die mein Freund Georg mir da stellt. Doch er hat Recht – nichts interessiert mich mehr als die Dinge der Welt. Meine Neugier ist grenzenlos. Ich verspreche also, mich um sein Anliegen zu kümmern.
Eine große Aufgabe beginnt man am besten mit kleinen Schritten. Ich gehe raus ins Freie, das erscheint mir sinnvoll. Da finde ich die Dinge der Welt am ehesten, glaube ich. Ich sehe eine Pflanze am Wegrand stehen. Sie ist zweifelsohne ein Ding der Welt. Ich frage sie: „Wie geht es dir in deinem Grünsein?“ Sie gibt mir keine verbale Antwort. Natürlich nicht. Das wäre doch eine große Überraschung, wenn mir die Pflanze eine verbale Antwort gäbe. Doch gibt sie mir wirklich gar keine Antwort? Sie erscheint mir plötzlich viel grüner als wenn ich sie nicht gefragt hätte. Ich treffe einen Mann und frage ihn: „Wie geht es dir in deinem Mannsein?“ Er schaut mich irritiert an und sagt: „Sonst geht’s dir gut? Du hast vielleicht Probleme!“ Dann geht er weiter. Ich treffe ein Kind und frage es: „Wie geht es dir in deinem Kindsein?“ „Ich verstehe deine Frage nicht“, sagt das Kind, „aber sie ist lustig. Wollen wir etwas spielen?“ Gerne würde ich mit dem Kind etwas spielen, aber ich habe eine Mission: etwas zu erfahren über die Dinge der Welt.
Allmählich denke ich mir jedoch, dass mich diese Fragerei nicht weiterbringt. Ich sollte mich aufs Beobachten verlegen. Ich beobachte Menschen. Sie scheinen ganz nett miteinander umzugehen, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass sich viele von ihnen dauernd anschreien mit ihren Blicken und Gesten. Sie haben gequälte Gesichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die hatte oft ein gequältes Gesicht. Aber sie hat nie erzählt, was sie denn so quält. Einmal habe ich sie so lange getriezt deswegen, bis sie zwar nicht geschrien, aber geweint hat. Es klingt komisch, aber das war der schönste Moment, den ich mit meiner Großmutter hatte. So nah waren wir uns vor diesem Moment nicht und danach auch nie mehr wieder. Soll ich die Menschen, die ich beobachte, die scheinbar so nett miteinander umgehen, fragen, ob sie, nur für eine Minute, mal offen miteinander schreien? Vielleicht würde das ihre Gesichter von den gequälten Ausdrücken befreien? Ich befürchte, viele von ihnen würden sagen: Wenn ich zu schreien anfange, müsste ich mich selbst erklären. Das will ich vermeiden. Ich bleibe lieber stumm. Und außerdem: Wenn jeder schreit, wo kommen wir denn da hin? Doch ich will ja keine Fragen mehr stellen, nur beobachten. So ein Gesichtsausdruck sagt mehr als tausend Worte, die ihn widerlegen oder verheimlichen wollen, denke ich mir.
Ein weiterer Gedanke kommt während des Beobachtens zu mir: Der Mensch ist immer auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn das stimmt, wieso fällt es mir dann so schwer, mich mit mir selbst zu befassen? Wieso ist es ein scheinbar automatisiertes Muster, auf andere zu zeigen, obwohl ich selbst der Betroffene bin? Was ist so schlimm an mir, dass mir dabei unbehaglich werden könnte? Mir kommt jetzt die entscheidende Frage in den Sinn, die ich mir zu stellen habe: „Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ Das ist die entscheidende Frage, und nur wenn ich sie mir beantworte, können die Dinge der Welt einen Sinn für mich ergeben.
Ich breche meine Beobachtungen ab und gehe voller Freude über diese Erkenntnis zu Georg. Ich setze mich zu ihm und sage: „Georg, wenn du den Dingen der Welt auf den Grund gehen willst, dann frage dich zuallererst: ‚Georg, wie geht es dir in deinem Georgsein?‘ Als ich mir selbst diese Frage stellte, erschienen mir die Pflanzen plötzlich viel grüner, die Menschen viel menschlicher und die Sonne viel heller.“
„Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, musstest du rausgehen? Das ist herzlich wenig. Ich habe dich losgeschickt, um etwas über die Dinge der Welt zu erfahren, und du wirfst mir alles wieder zurück? Hättest du mir das nicht gleich sagen können?“
„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen“, murmle ich für mich, durch Georgs Aussage an meinen eigenen Gedanken mich erinnernd.
„Was?“ fragt Georg
„Nein“, sage ich, „hätte ich nicht. Ich hätte es dir nicht gleich sagen können“, beantworte ich Georgs Frage.
„Nein! Was du gerade gemurmelt hast meine ich!“
„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.“
Enttäuscht wendet Georg seinen Blick von mir ab. Er sieht zum Fenster hinaus und beachtet mich nicht mehr. Ein gequälter Ausdruck liegt in seinem Gesicht. Ein stiller Schrei liegt in der Luft. Ich entscheide mich zu gehen. Georg jetzt allein zu lassen erscheint mir das einzig Sinnvolle. Leise schließe ich die Tür. Ein Gedanke kommt zu mir: Um sich selbst zu erfahren, geht der Mensch hinaus zu den Dingen der Welt und begegnet ihnen.
„Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ frage ich mich. Ich gehe hinaus in den Tag, der noch lange nicht zu Ende ist.