Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Die Wahrheit über Ingeborg Bachmann

Ich habe Angst, nichts zu wissen. Deshalb gehe ich ins Internet, in diese Mischung aus gigantischer Müllhalde und allwissendem Archiv. Das weiß ich nicht, das habe ich gelesen.

Ich lese, und das Lesen ist eine Tätigkeit, die ich oft mit Nichtstun verbinde, weil mein Körper dabei untätig herumhängt, während mein Kopf nach Bildern sucht. Um die Bildersuche zu erleichtern, schaue und höre ich. Ich höre Marcel Reich-Ranicki sprechen. Marcel Reich-Ranicki ist seit etwa drei Jahren tot, deshalb höre ich ihn nicht persönlich, sondern in einem Video, das 2001 aufgezeichnet wurde. Das habe ich gelesen, dass das Video im Jahr 2001 aufgezeichnet wurde, doch meine Fähigkeit reicht nicht so weit, mich ins Jahr 2001 zu denken, deshalb spricht Marcel Reich-Ranicki zu mir im Jahr 2016, beziehungsweise, um es weiter zu präzisieren: Er spricht heute. Er spricht über Ingeborg Bachmann, die damals, 2001, als er über sie sprach, schon lange tot war, nämlich seit 1973, so habe ich es gelesen. Weiß ich jetzt irgendetwas über Ingeborg Bachmann, weil ich Marcel Reich-Ranicki über sie sprechen höre, oder kann ich nur vermuten, wer Ingeborg Bachmann vielleicht war?

Ich lese ein paar Zeilen in Malina, dem Roman Ingeborg Bachmanns. Ich werde traurig über so viel Traurigkeit. Sind nur die Bachmann und meine Mutter so traurig, oder sind es alle Frauen? Kann man sich in Traurigkeit verlieren und sie zu einem permanenten Zustand ausgestalten? Traurigkeit in Permanenz, ist das noch Traurigkeit, oder nennt man das Depression? Ist es wichtig, wie man etwas nennt?

Ich traue meinen Begriffen nicht, will Klarheit in meine Sprache bringen. Deshalb lese ich Wittgenstein, der schreibt: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Da fällt mir auf, dass ich denke, dass das Gegenteil von Fall Aufstieg ist. Ist die Nicht-Welt also alles, was der Aufstieg ist? Da Wittgenstein schon tot ist, noch länger als Ingeborg Bachmann, und ich ihn nicht mehr dazu befragen kann, beschließe ich, den Gedanken nicht weiterzuverfolgen und lege das Buch Wittgensteins beiseite. Stattdessen höre ich wieder Reich-Ranicki zu, wie er über die Bachmann redet und könnte mir denken: Was Reich-Ranicki sagt, ist die Wahrheit, über die Bachmann und überhaupt. Doch ich will mir das nicht denken, denn es beschleicht mich ein Gefühl, dass das der Wahrheit nicht gerecht wird. Ist die Wahrheit das, was ich für sie halte, oder ist selbst das eine Lüge, die sich in meinem Kopf festgesetzt hat? Wechselt meine Wahrheit jeden Tag ihr Gewand, und es ist meine Aufgabe, ihr jeden Tag unters Gewand zu schauen? Bilde ich mir zu viel ein, bei den vielen Bildern, die ich in meinem Kopf erschaffe?

Mit dem Gefühl, nichts zu wissen, über die Bachmann im besonderen und über die Welt im allgemeinen, verlasse ich das Internet. Ich gehe aus der Wohnung, aus dem Haus, auf die Straße. Ich staune über den Boden unter und über den Himmel über mir. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Darüber, dass ich wirklich hier bin. Hier und heute. Und die Welt erlebe, mit all ihren Geheimnissen.

Marcel Reich-Ranicki über Ingeborg Bachmann

Das Wogen und das Ruhen der Menschheit

Vorderbrandner hat zu sich geladen, zum philosophischen Gespräch. Ich gehe immer mit einem gewissen Widerwillen zu diesen Abenden, denn ich finde: Während Vorderbrandner spricht, passiert das Leben.

Vorderbrandner sitzt in seinem Stuhl und sucht mit ausladenden Bewegungen seiner Arme und Hände seine Worte:“Die Menschheit bewegt sich in großen, wogenden Wogen, auf der Suche nach ihrer inneren Ruhe und ihrem inneren Gleichgewicht.“

Mitterbichler, der auch in unsere Runde gestoßen ist, sieht ihn an und sagt:“Die innere Ruhe meiner Kinder würde mir oft schon reichen zum Glück, der Rest der Menschheit soll in großen Wogen wogen, meinetwegen.“

„Wie kannst du von deinen Kindern verlangen, dass sie zu ihrer inneren Ruhe finden, während die Welt um sie herum unruhig wogt? Die Menschheit ruht und wogt gemeinsam, niemand kann sich da ausschließen. Vielleicht ist das schwer zu akzeptieren. Manche halten es nicht aus, das Wogen und das Ruhen, und dann schießen sie, mitten hinein in die wogende und ruhende Menge, so als wollten sie ausbrechen aus etwas, aus dem es kein Ausbrechen gibt, weil es ihr Leben ist. Vergewaltige deine Kinder nicht, Mitterbichler, lass sie wogen und ruhen im Rhythmus der Menschheit!“

„Vorderbrandner, red nicht solchen Käse! Du hast keine Kinder, die dir schlaflose Nächte bereiten, die dich jeden Tag aufs Neue herausfordern mit ihrer schonungslosen Art, dir deine Schwächen aufzuzeigen.“

„Nein, ich habe keine Kinder. Aber trotzdem schlaflose Nächte. Kürzlich, in so einer schlaflosen Nacht, ist mir bewusst geworden, warum viele Männer schwul werden. Aus Angst. Nicht aus Angst vor den Frauen, sondern vor ihrer eigenen Männlichkeit. Ich komme aus einem Landstrich, da bekommen die Männer folgende Vorgaben für ihre Männlichkeit: Es gibt die Jungfrau Maria, die es anzubeten gilt. Gedanken an Sex mit ihr sind streng verboten und moralisch äußerst verwerflich. Alle anderen Frauen aber haben sich die Männer untertan zu machen und mit ihrer Stärke zu dominieren. Männer haben keine Schwächen, Schwächen haben nur die Frauen. Gleichzeitig glauben auch viele Frauen an dieses Bild der Männlichkeit, sie unterwerfen sich ihm, glauben an ihre Schwachheit und eifern dem Ideal der unbefleckten Jungfrau Maria nach. Manche Männer nun, die mit diesem Rollenverständnis nicht zurecht kommen, suchen ihr Heil in gleichgeschlechtlicher Liebe.“

„Gut Vorderbrandner. Aber was hat das mit meinen Kindern zu tun?“

„Alles hat mit allem irgendwie zu tun. Es hat keinen Sinn, nach Ursache und Wirkung zu suchen. Vielleicht würde ich alles, was ich gerade gesagt habe, nicht mehr sagen. Aber ich habe es gesagt. Der Landstrich, aus dem ich komme, hat mich so geprägt, dass mein Verhältnis zu Frauen ein schwieriges ist. Doch gleichgeschlechtliche Liebe stellt für mich keine Alternative dar. Ist das der Grund für meine schlaflosen Nächte?“

Mitterbichler trinkt einen Schluck von seinem Wein, während Vorderbrandner beobachtet, wie der Nachhall seiner Worte den Raum erfüllt. Ich nutze diesen Moment der Ruhe, um die Runde zu verlassen. Mein Fahrrad wiegt mich nachhause mit rhythmischen Bewegungen. Josefine ist noch wach, als ich nachhause komme. Sie fällt mir um den Hals, als hätte sie mich sehnlichst erwartet. Ich reisse ihr und mir die Kleider vom Leib, mit der festen Absicht, Kinder zu machen.

Walentin Worderbrandner

Ich kam zur Tür herein und Vorderbrandner schaute mich missmutig an. Er sagte: „Ich zweifle an der Sprache – an ihrer Fähigkeit, irgendetwas zu sagen.“

„Ich weiß.“

„Was? Du weißt?“

„Heute ist Donnerstag, Redaktionstag, da zweifelst du regelmäßig an der Sprache, weil du etwas Geschriebenes liefern sollst.“

„Das meine ich nicht. Ich meine es wirklich ernst diesmal mit dem Zweifel. Gut dass du Geschriebenes erwähnst: Ich meine nämlich vor allem die geschriebene Sprache, an der ich zweifle. Wie kann etwas Geschriebenes etwas aussagen, wenn es sich durch nichts ausdrücken kann als durch Schrift, durch etwas Totes wie Schrift?“

„Weil du mit deinen Gedanken und deinen Gefühlen hinter dieser Schrift stehst und ihr etwas Lebendiges dadurch gibst.“

„Danke für die Belehrung, Herr Oberlehrer!“

„Du hast Recht. Ich wollte gerade etwas Weises sagen. Meist kommt Wirres dabei heraus. Aber es ist egal. Wichtig ist doch nur, welches Bild in meinem Kopf ist, das ich transportieren will. Ob das Bild, das ich im Kopf habe, beim Leser ankommt, ist eine andere Frage. Es ist als Schreibender bereits ein Riesenerfolg, wenn mein Bild überhaupt gelesen wird und irgendein Bild im Leserkopf kreiert wird.“

„Vielen Dank für das Kurzreferat! Ich betitle es mit: Das Wisuelle.“

„Das gefällt mir, Vorderbrandner: Das Wisuelle. Das ist ein noch viel passender Begriff als Das Bild. Es ist das Ganze: die Gedanken, die Gefühle – ist mir warm, ist mir kalt, bin ich verliebt, bin ich verlassen worden.“

„Das W machts eben – mit V wär es wieder nur ein Bild, das Visuelle.“

„Schön dass dir das W gefällt.“

„Gefallen? Ich arrangiere mich mit deinem W-Tick.“

„Mag sein, dass ich einen W-Tick habe. Aber die Welt hat einen noch viel größeren Tick: einen WWW-Tick. Alles hängt nur noch am Netz. Aber ich muss in der Tat aufpassen mit meinem W-Tick: Erinnerst du dich an Valentina, die mal zu uns stoßen wollte? Die hat es sich dann anders überlegt, als ich ihr mein WWW-Konzept (Weises, Wirres, Wisuelles) erläutert habe, weil sie plötzlich dachte, sie müsste sich fortan Walentina nennen, um mit mir zu arbeiten.“

Weises wirres wisuelles

„Nur deswegen ist sie nicht geblieben?“

„Ich glaube schon. Vielleicht ist es besser. Könnte sein, dass ich wohl nur scharf war auf Walentinas Wagina – oder Valentinas Vagina, das ist mir jetzt einerlei – und nicht auf ihre Schreibkünste.“

„Und sie auf Peters Penis und nicht auf deinen.“

„Vorderbrander, du machst dich! Haben wir deine Zweifel an der Sprache nun ausgeräumt?“

„Ich zweifle, dass ich nicht zweifle.“

„Solange du mir nicht sagst: ‚Ich lebe, dass ich nicht lebe‘, ist alles halb so schlimm. Ich werde dir deine Zweiflereien schon austreiben! An die Arbeit! Und verzeih mir, wenn ich dich ab jetzt manchmal Walentin Worderbrandner nenne!“

Nur Liebe

Sie lagen nebeneinander und spürten sich. „Liebst du mich?“ fragte sie ihn. „Ja, ich liebe dich!“ sagte er.

Was ist an diesem Dialog auszusetzen? Nichts. Er ist wunderschön. Der Haken ist: Sie dachte sich das Wort nur in diesen Dialog hinein. „Liebst du nur mich?“ – „Ja, ich liebe nur dich!“

Während er seine Antwort so dachte: „Ja, ich liebe dich! Weil ich mein Leben liebe, und du gibst meinem Leben Lebendigkeit.“

Durch ihr Nur war der Eifersucht Tür und Tor geöffnet. Ihre Beziehung entwickelte sich wie das Leben eines Vogels im Käfig, der seiner Kernfähigkeit, dem Fliegen, beraubt ist. Was ist eine Beziehung wert, die ihrer Kernfähigkeit, dem Lieben, beraubt ist?

Sterben wollen

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner.

„Dein Vater ist seit fast zwanzig Jahren tot“, sagte ich. Wir spazierten durch den Park. Es war abends, bereits dunkel. Der Mond schien hell.

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner. „Da!“ sagte er, und deutete auf eine Stelle vor sich. „Siehst du ihn denn nicht?“

„Wo denn?“

„Da! Sieh nur, wie aufrecht und aufgeschlossen er da steht. So kenne ich ihn nicht. Ich kenne meinen Vater nur als geknickten Mann, der einen großen Sack Trauer mit sich herumschleppt, den er mit niemandem teilt. Jetzt steht er da, aufrecht und selbstbewusst. Still! Er spricht zu mir:“

„Ich bin 53 Jahre alt. Ich will sterben. Es ist Zeit zu gehen.“

„Hast du das gehört? Wie er das gesagt hat! So gütig und würdevoll. Ich kann ihm nicht böse sein. Es ist gut. Mein Gott, siehst du ihn denn nicht?“ flehte Vorderbrandner mich an. „Wie das Mondlicht ihn bescheint! Sein Gesichtsausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben, weil ich ihn einfach nur bewundere.“

„Da! Da kommt ein zweiter Mann. Ich schwöre es dir! Ich weiß nicht, woher er kommt. Vielleicht ist er den kahlen Bäumen des März entstiegen wie eine Knospe im Frühling. Er stellt sich neben meinen Vater. Er ist etwas jünger als mein Vater, ohne Zweifel. Wer ist das?“

Vorderbrandner stand mit konzentriertem Blick neben mir, und ich spürte: Ich darf ihn nicht unterbrechen.

„Es ist mein Großvater“, sagte er plötzlich. „Natürlich, es ist mein Großvater. Wie sie dastehen, so voller Güte und dennoch seltsam entrückt und unnahbar. Sie sehen mich an. Sie sagen nichts. Nichts, was ich hören kann. Doch sie sagen ganz deutlich mit ihren Gesichtern: Wir wollen sterben.“

Dann war es still. Vorderbrandner sagte nichts. Sein Blick entspannte sich etwas, und doch war noch immer eine große Konzentration in seinen Augen.

„Was ist jetzt?“ fragte ich vorsichtig.

„Sie haben sich umgedreht und sind weggegangen. Dort vorne bei den Bäumen gehen sie, friedlich und einträchtig. Ich glaube es geht ihnen gut. Ich lasse sie gehen.“

Wir standen da, im Mondlicht des kalten Märzabends. Vorderbrandner redete weiter:

„Ich begreife jetzt, warum ich mich oft dem Tod so nahe, so vertraut gefühlt habe. Weil ich so sein wollte wie mein Vater. Und was will ein Sohn mehr als sterben, wenn sein Vater sterben will.“

Vorderbrandner fing laut zu schreien an. Er rannte wie wild umher und schrie aus voller Kehle:
„Nein! Nein! Ich will nicht sterben. Ich will leben! Ich liebe das Leben doch über alles!“
Er warf sich auf den Boden und begann hemmungslos zu weinen.

Ich stand daneben, im hellen Mondlicht. Es sprach aus mir wie ein Gebet:

„Vorderbrandner, du lebst! Und wie du lebst! Deine Wut und deine Tränen zeugen von deiner unbändigen Lebenskraft. Die Zeit wird kommen, da wirst auch du sterben wollen. Doch jetzt wirst du leben, leben, leben!“

 

Oskars Anfang und Ende

Oskar, der früher Emil hieß, ist ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums. Oskar spaziert gern durch die Straßen Münchens. Wir haben ihn schon einige Male dabei begleitet. Heute wollen wir uns die Frage stellen: Wer, außer ein Hagestolz, ist Oskar?

Oskar ist ein Wissenschaftler. Er ist mit der dualistischen Weltsicht groß geworden, hat sie verinnerlicht durch und durch. Einer seiner Grundsätze, ohne dass er es selbst weiß, lautet: Gebt mir das Böse, damit ich gut sein kann!

Wir erinnern uns, dass Oskar die Schleißheimer Straße in München begehen wollte, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Er hatte große Schwierigkeiten, den Anfang der Schleißheimer Straße zu finden, bis er feststellen musste, dass es den Anfang der Schleißheimer Straße gar nicht mehr gibt, weil der Anfang der Schleißheimer Straße jetzt Rudi-Hierl-Platz heißt (München, Schleißheimer Straße). Oskar, als Meister der Dualität, sagte sich: Wo ein Anfang, da ein Ende. Und schlussfolgerte nach seiner Erfahrung mit der Schleißheimer Straße: Wo kein Anfang – da kein Ende. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.

Er dachte an den Anfang und das Ende vieler Dinge, bis er schließlich bei seinem Leben angelangt war. Wann hat es begonnen? Als er den Leib seiner Mutter verließ? Als seine Mutter und sein Vater sich liebten? Oder irgendwo dazwischen? Oder gar schon davor?

Als Dualist, der sich sehr der Physik zugewandt fühlt, dachte er jetzt: Aus nichts kann nichts werden, also ist schon immer etwas da gewesen; wenn es auch nicht das war, was ich jetzt mein Leben nenne.

Oskar ging ins Bett. Von dort aus lief er die Schleißheimer Straße entlang, und sie nahm einfach kein Ende. Sie war wie ein endloser Raum. Das machte Oskar ganz schwindelig. Doch der Schwindel beunruhigte ihn nicht, nein – er wiegte ihn in einen tiefen und erholsamen Schlaf.

Agathe ohne Fenster

„Vor Monaten wollte ich dir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen (Agathe und das Fenster). Doch dann habe ich dir die Geschichte von Josefine und den Türen erzählt.“

„Ich glaube, du hast mir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählt. Ich kann mich aber nicht mehr an sie erinnern. Erzähl sie mir nochmal!“

„Die Geschichte ist schnell erzählt: Agathe steht an ihrem Fenster, während ich ins Freie eines schönen Tages laufe, über grüne Wiesen und durch bunte Wälder. Doch Agathe, anstatt mitzukommen, schließt das Fenster hinter mir.“

„Das ist eine schöne und eine traurige Geschichte.“

„Findest du? Es ist eine eingebildete Geschichte. Denn Agathe ist nie am Fenster gestanden als ich von ihr ging und schon gar nicht hat sie es zugemacht. Ich bilde mir das nur ein.“

„Vielleicht willst du es dir einbilden. Steht das Fenster für etwas, das du zwischen Agathe und dich schiebst, damit es euch trennt?“

„Wieso sollte ich wollen, dass uns etwas trennt?“

„Keine Ahnung. Ich suche nach Gründen, warum du mir seit Monaten die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen willst.“

„Gründe! Es gibt so viele Gründe, unendlich viele. Die ich noch nicht betreten habe.“

„Leg deine Scheu ab, diese Gründe zu betreten. Denk dir Agathe ohne das Fenster, ohne irgendetwas, das euch trennt.“

„Agathe ohne irgendetwas. Das ist gut. Das gefällt mir. Ich glaube, ich dringe zu den wahren Gründen meines Daseins vor.“

Kleine Philosophie des Lebens

Jeden Tag erwache ich und frage mich: Was ist das Leben? Dann lebe ich, den ganzen Tag, und vor lauter Leben vergesse ich die Frage, die ich mir am Morgen gestellt habe.

Abends gehe ich ins Bett und erinnere mich an die Frage die ich mir morgens gestellt habe: Was ist das Leben? Um eine Antwort zu finden, lasse ich den Tag Revue passieren und sage mir schließlich: Das ist es, das Leben. Und schlafe zufrieden ein.

Josef im Interview

Neulich bin ich in den Himmel aufgefahren und habe den heiligen Josef zu einem Interview getroffen.

Emil: Josef, die Menschen auf der Erde feiern wieder mal Weihnachten. Freust du dich darüber?
Josef: Ich weiß nicht recht. Ich bin etwas zwiegespalten.
Emil: Inwiefern?
Josef: Die Menschen feiern Jesus und Maria, und ich steh blöd daneben.
Emil: Wie war das damals, als Maria dir sagte, sie sei schwanger?
Josef: Sie druckste ganz schön rum. Klar, das Kind war ja nicht von mir, obwohl wir verlobt waren und heiraten wollten.
Emil: Von wem war denn das Kind?
Josef: Sie hat es mir nie gesagt. Ich vermute, sie hatte eine Affäre mit Hans dem Schreiner.
Emil: Was hat sie stattdessen gesagt?
Josef: Sie redete plötzlich davon, dass sie ein Kind von Gott empfange, und dass ihr, wie durch ein Wunder, ohne sexuelle Aktivität die Frucht in den Leib gelegt worden sei. Das fand ich komisch. Denn so schlimm finde ich sexuelle Aktivität nicht, dass man auf so ein Wunder hoffen müsste. Außerdem machte ich mir ernsthaft Sorgen um sie. Hatte sie solche Panik, dass ich sie verlasse, was sie dazu veranlasste, eine solch abstruse Geschichte zu erfinden? Oder geht mit Schwangeren generell die Phantasie durch?
Emil: Du bist aber dennoch bei ihr geblieben.
Josef: Ja. Da kam der Beschützerinstinkt in mir durch. Außerdem fand ich sie schon wahnsinnig toll. Sie hat sich ja auch trotz des Kindes für mich und gegen Hans den Schreiner entschieden. Außer beim Sex. Da blieb sie hartnäckig.
Emil: Wie? Sie hatte danach noch Sex mit Hans dem Schreiner?
Josef: Das weiß ich nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Ich vermute, ihr damaliger PR-Manager, wie hieß der nochmal – Petrus, glaube ich – hatte großen Anteil daran. Also, ich weiß nicht ob sie mit dem auch was hatte, ist auch nicht wichtig, aber auf alle Fälle wollte der die Nummer mit dem Sohn Gottes groß rausbringen.
Emil: Du willst also sagen, Maria hat aus PR-technischen Gründen keinen Sex mit dir gehabt?
Josef: Als das Ding voll am Laufen war, also die Story mit dem Sohn Gottes und der Jungfräulichkeit, waren Maria und ich einmal sehr leidenschaftlich über uns hergefallen, als sie plötzlich von mir abrückte und sagte, sie dürfe keinen Sex mit mir haben, denn Petrus hätte gemeint, sie müsse als Jungfrau authentisch wirken. Wenn sie mit mir Sex hätte, würde man das merken. Da wurde ich wirklich zornig auf Petrus und wollte dafür sorgen, dass Maria aus dieser Nummer rauskommt. Sie aber meinte, ich solle bedenken, wieviel wir verdienen mit ihren Auftritten als Jungfrau Maria im Gegensatz zu meinem kärglichen Zimmermann-Lohn. Da habe ich klein beigegeben.
Emil: Und dein Sohn, ääh, ich meine Jesus, welche Rolle hat der dabei gespielt, als er auf die Welt gekommen war?
Josef: Bei seiner Geburt waren wir bei meinen Eltern im Bethlehem. Als bei Maria die Wehen einsetzten, verordnete Petrus, wir sollen in den alten Stall gehen, er habe dort bereits alles arrangiert. Der Stall war schön mit Kerzen und Fackeln ausgeleuchtet. Vier Reporter waren da: Lukas, Matthäus und… wie hießen die beiden anderen jetzt? Schließlich kamen auch noch drei maskierte Typen, als ob wir Fasching hätten, und haben sich als Heilige Drei Könige ausgegeben. Sie hatten Zeug dabei, das hat so gestunken, dass ich nach einer Weile unauffällig zum Holzhacken gegangen bin.
Emil: Wie ging es Jesus, als er so im Scheinwerferlicht heranwuchs?
Josef: Ich glaube, er hat es vom ersten Moment an genossen, im Mittelpunkt zu stehen. Er war ein Star, der Sohn Gottes, mehr geht nicht, und dazu seine Mutter, die ewige Jungfrau. Die Frauen kamen wegen ihm, die Männer wegen ihr. Später hat sich der Junge dann gewaltig inszeniert! Ein gigantisches Spektakel hat er abgezogen. Der Eselsritt zum Beispiel, ein Wahnsinn! Ich glaube, irgendwann hat er übertrieben und sich viele Feinde geschaffen. Einer der Jungs, die ständig an seiner Seite waren und mit ihm rumhingen, ich glaube es war Judas, ist dann von der Clique abgesprungen und hat den Römern gesagt, dass Jesus einen an der Klatsche habe.
Emil: Auffallend viele Frauen sind während der dramatischen letzten Stunden Jesus‘ gesehen worden.
Josef: Kein Wunder, er hat ja mit vielen was gehabt. Vor Verehrerinnen konnte er sich nicht retten. Richtig sexsüchtig war er, der Sohn der ewigen Jungfrau. (lacht)
Emil: Wie ging es Maria, als ihr Sohn gekreuzigt wurde?
Josef: Ich glaube, sie fühlte sich wie eine alte Jungfrau. (lacht wieder) Sie war traurig wie eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Sie wusste, mit Jesus war ihr kongenialer Gegenpart von ihr gegangen. Wer konnte schon ahnen, dass dieser PR-Coup des Petrus eine derart langandauernde Wirkung über den Tod Jesu hinaus haben würde.
Emil: Auch du wirst sehr verehrt von den Menschen. Es gibt viele Kirchen und Plätze auf der Erde, die deinen Namen tragen.
Josef: Ich habe keine Ahnung wieso. Ich finde, ich habe in dieser Geschichte ja schon die Arschkarte gezogen. Aber es ist halt wie es ist. – Wer hat das geschrieben? Sigmund Freud, euer neuer Gott?
Emil: Der Dichter Erich Fried hat geschrieben: Es ist was es ist, sagt die Liebe.
Josef: Auch gut. Ich geh jetzt holzhacken. Diese Tradition habe ich mir auch im Himmel beibehalten. Schöne Weihnachten!

Emil Hinterstoisser 2014 und 2015

Gewissheiten

Ich übe täglich, Ungewissheit zu akzeptieren. Das ist meine schwerste Übung. Ich hätte gerne Gewissheit.

Vor kurzem sagte jemand zu mir, die einzige Gewissheit bestehe aus Holz und sei viereckig. Doch nicht einmal dieser Gewissheit stimme ich zu: Was ist, wenn am Tag nach meinem Tod ein Gesetz erlassen wird, das die Verwendung von Holzsärgen verbietet? Dann würde mir die einzige Gewissheit genommen, an die ich in meinem Leben geglaubt habe. Was ist, wenn ich verfüge, verbrannt und in einer Urne bestattet zu werden? Dann nehme ich mir selbst diese Gewissheit.

Ein Großindustrieller baute sich eine Villa und wollte Gewissheit haben, dass nicht eingebrochen wird. Also ließ er dicke Stahlbetonmauern bauen, unterbrochen nur von dicken Stahltüren und Fenstern aus Panzerglas. Die Fenster konnte man aus Sicherheitsgründen nicht öffnen. Das Haus musste aufwändig klimatisiert werden. Als nach seinem Tod niemand mehr in diesem Gefängnis wohnen wollte, hatte man größte Schwierigkeiten, das massive Bauwerk abzureißen. Der Großindustrielle kam zu mir und sagte: Ich wollte Gewissheit haben und habe ein Gefängnis geschaffen.

Ich nehme an, dass morgen die Sonne aufgeht. Ist es gewiss? Ich habe mir angewöhnt, mich jeden Tag überraschen zu lassen von der Sonne und mich zu freuen, wenn sie wieder da ist. Ich glaube zu wissen: Der neue Tag bringt viele Überraschungen, aber ganz gewiss keine Gewissheiten.