Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Wie aus vererbter Angst Miserablismus wird

Es gibt etwas, sagt Vorderbrandner, das ich vererbte Angst nenne. Es steckt in mir und in vielen anderen in diesem Land. Über die vererbte Angst in mir kann ich Folgendes sagen: Mein Urgroßvater hat große Angst erfahren im Ersten Großen Krieg und sie in die Familie eingebracht. Mein Großvater war erster Erbe der Angst meines Urgroßvaters, um dann selbst die große Angst im Zweiten Großen Krieg zu erfahren. Mein Vater war dann Erbe der Angst aus zwei großen Kriegen, ohne selbst diese große Angst zu erfahren. Er hatte sie im Blut. Das Konzept der großen Angst dominierte sein Leben. Ein anderes Konzept kannte er nicht. Es klingt fatal und es ist auch so: Er sollte das Konzept der großen Angst bis zu seinem Tod nicht aus sich herausbekommen.

Dann kam ich als nächster Angst-Erbe, der nicht den geringsten Hauch der tatsächlichen großen Angst im Krieg selbst erlebt hat. In den 1980er-Jahren, dem Jahrzehnt meiner Kindheit, sangen viele andere von der Angst, zum Beispiel Die Schmidts und die Jungs aus der Tierhandlung. Am Ende dieses Jahrzehnts, am Beginn meines Übergangs zum Erwachsenwerden, veröffentlichten die Jungs aus der Tierhandlung ein Lied namens Miserablismus, das so einprägsame Aussagen enthält wie: Verneine Glück als eine Option und du wirst nicht mehr enttäuscht sein! Liebe ist ein unmöglicher Traum. Dein Leben ist als Drama inszeniert: Jede Vorstellung hat kein glückliches Ende aber eine deprimierende Botschaft. Blicke um der Sache willen immer finster drein (Angst! Angst! Angst!), das zeigt der Welt deine Substanz und Tiefe! Das Leben ist ein unmöglicher Entwurf und Liebe ein nicht wahrnehmbarer Traum. Es wird die Philosophie des sogenannten Miserablismus entworfen, eine Art Manifest der kultivierten Angst. Und diese Philosophie wurde meine Religion für mein beginnendes Erwachsenenleben. Natürlich war mir damals nicht bewusst, dass ich ein Anhänger des Miserablismus geworden war. Es gab für mich einfach kein anderes Leben, so sehr war die große Angst meiner Väter in mir verankert. Leben bedeutete Miserablist sein, nichts anderes. Ich unterfütterte diese Lebensform mit der Musik der Schmidts und der Jungs aus der Tierhandlung. Apropos Schmidts: Vor etwa zehn Jahren wurde mein miserablistisches Elend so groß, dass ich Schmidts-Platten hervorkramte und das Lied Der Himmel weiß wie elend mir zumute ist in Dauerschleife anhörte. Ich war auf dem Höhepunkt des Miserablismus angelangt, musste jedoch erkennen, dass Miserablismus in zu harten Dosen zum Tod führt. In der Todesangst, der scheinbaren Erfüllung jedes Miserablisten, entschied ich mich für das Leben.

Nun war der Gang ins Leben jedoch nicht so einfach, denn die geerbte Angst stand mir hartnäckig im Weg, wie ein großer und steiniger Berg. Trotzdem begab ich mich auf Wanderung, kletterte über steile Hänge und kroch durch dunkle Höhlen, weil ich eine Ahnung von dem bekommen hatte, was ein Leben ohne geerbte Angst sein könnte. Angst an sich, sagt Vorderbrandner, ist ein gutes lebenserhaltendes Gefühl, zum Beispiel die Angst vor dem Tod im Krieg. Wenn sich die Angst jedoch im Körper festsetzt wie Krebs, ohne ersichtlichen äußeren Grund, wird sie zum lebenszersetzenden Albtraum.

Es war ein harter Weg über und durch diesen steinigen Berg. Auf steilen Hängen und in dunklen Höhlen begegnete ich dem Manifest meines bisherigen Lebens, dem Lied Miserablismus der Jungs aus der Tierhandlung. Wie magisch angezogen tauchte ich tief ein in die Tiefen dieses Lieds. Bei diesem Tiefgang entdeckte ich, dass im Refrain gesungen wird: Miserablismus ist und ist nicht, und im Mittelteil: Aber wenn „ist“ nicht war und „ist nicht“ war, dann kannst du nicht sicher sein: Aber du könntest große Freude finden. Eine Logik, die für mich plötzlich sehr logisch war, obwohl ich sie so viele Jahre überhört hatte. Jetzt war mir klar: Die Jungs aus der Tierhandlung singen gar keine Hymne auf den Miserablismus, sondern eine Persiflage auf die Lieder des Elends der Schmidts. An diesem Tag, auf dem steilen Hang am Eingang zur dunklen Höhle, erkannte ich den Miserablismus als verwerfungswürdiges Konzept und begann voll Zuversicht an ein Leben zu glauben, in dem ich große Freude finden kann. An ein freies und selbstbestimmtes Leben jenseits der vererbten Angst, sagt Vorderbrandner.

Abschied ist ein Schaf so schwer

Ich spielte mit meinen Kindern im Wohnzimmer, sagt Mitterbichler, da kamen meine Schwiegereltern noch einmal herein für den Moment, vor dem sie sich eigentlich drücken wollten: Gleich würden sie zum Bahnhof fahren und in einen Zug einsteigen, der sie nachhause nach Bremen bringt. Sie drückten ihre Enkel, meine Schwiegermutter sehr körperlich, mein Schwiegervater mehr in Gedanken. Meine Schwiegermutter meinte, es hätte schlimmer kommen können: Amerika, Australien, zum Beispiel. Da ist es doch ein Glück, dass es nur München geworden ist. München – Bremen, das ist doch eigentlich keine Entfernung in der heutigen Zeit. Und trotzdem: Abschied ist ein Schaf so schwer, sagte meine Schwiegermutter, um dem Schmerz mit Humor zu begegnen, sagt Mitterbichler.

Als sie das sagte – Abschied ist ein Schaf so schwer – kamen Erinnerungen in mir hoch, sagt Mitterbichler. Erinnerungen an Abende auf dem Sofa, als Kind, als im Fernsehen die ZDF-Hitparade lief mit Dieter-Thomas Heck und Roger Whittaker Abschied ist ein scharfes Schwert sang. Zu dieser Zeit starb mein Großvater, der Vater meiner Mutter, meint Mitterbichler daraufhin: Ich spürte die Traurigkeit zuhause im Wohnzimmer, wo die Familie versammelt war. Ich stellte mich auf einen Stuhl, als eine Art Bühne, und sang voller Inbrunst Abschied ist ein scharfes Schwert. Ich glaube, es war das erste eigene Konzert das ich gab, als damals Achtjähriger. Meine Mutter weinte hemmungslos, sagt Mitterbichler.

Später, als Student, trat ich mit meiner Band auf Festen und Bällen auf, wo wir Schlager interpretierten, um Geld zu verdienen. Bald kam mir die Idee, Abschied ist ein scharfes Schwert als Schlusslied bei diesen Festen und Bällen zu spielen. Wir probten das Lied. Unser Bassist und unser Schlagzeuger waren sehr gelangweilt wegen der Eintönigkeit ihrer Linien in diesem Lied. Ich versuchte dem zu begegnen, indem ich es mit dem Whittakerschen Akzent ziemlich übertrieb und hatte großen Spaß dabei. Oder war der Spaß nur so groß, weil so großer Ernst dahinter war? Zwischen Konsti, meiner ersten großen Liebe, und mir kriselte es damals nämlich gewaltig. Außerdem wollte sie nach Göttingen zum Studieren. Ein Abschied stand im Raum. Bei den Proben war ich deswegen einmal so durcheinander, dass ich statt scharfes Schwert Schaf so schwer sang. Abschied ist ein Schaf so schwer waren seitdem geflügelte Worte innerhalb der Band. Scheinbar auch in Bremen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass meine geflügelten Worte von meiner Schwiegermutter zitiert wurden, sagt Mitterbichler.

Als wir für einen großen Ball engagiert wurden, beschlossen wir, das Lied zum ersten Mal vor Publikum zu spielen. Ich setzte mir eine große Brille auf, wie Roger Whittaker sie immer trug, und versuchte, seinen schmachtenden Akzent so gut wie möglich nachzuahmen. Konsti und Kathi waren als Backgroundsängerinnen dabei, obwohl Konsti und ich uns gerade getrennt hatten. Da flossen bei mir die Tränen hinter der dicken Brille, sagt Mitterbichler.

Meine Schwiegermutter drückte ihre Enkel noch einmal an sich, während mein Schwiegervater die Wohnung schon verlassen hatte. Es ist anzunehmen, dass er im Treppenhaus, wo er wartete, ein paar stille Tränen verdrückte, sagt Mitterbichler. Da war er also, der Moment des Abschieds. Opa Oma Bahnhof, sagte meine Tochter zu mir, als wir am Fenster standen und den beiden nachsahen und winkten. Als wir sie nicht mehr sahen, nahm ich meine Gitarre und gab ein kleines Konzert, wie in alten Zeiten:

Die Welt in schwarz und bunt

Da kommt mir also folgender Satz in den Sinn: Ich sehe eine rote Tür, aber sehen will ich sie schwarz, und ich weiß nicht, ob es bloß ein musikalisches Zitat ist oder ein ernstzunehmender Gedanke, denn es fühlt sich an wie eine Wahrheit.

Allmählich, ganz langsam und schleichend, übernimmt das musikalische Zitat die Macht über mich und ich entgleite mir und meinem Leben. Die Menschen auf der Straße sind nicht schön in meiner schwarzen Welt, im Gegenteil, sie öden mich an, speziell die Frauen, die ich speziell verachte, und nun, als ich mich so in meiner schwarzen Welt bewege, fällt mir Josefine ein, und ich verachte sie umso mehr, noch mehr als alle anderen, und ich kann nicht verstehen, wie ich jemals an unsere Beziehung glauben konnte.

Es fällt mir schwer, diese Geschichte nun weitererzählen, denn meine Welt wird immer schwärzer und man möchte meinen, dass es nicht mehr viel zu erzählen gibt. Doch als meine Welt am wohl schwärzesten Punkt angelangt ist, beschleicht mich plötzlich eine Ahnung, dass es auch eine andere Welt als die schwarze geben könnte. Diese Ahnung hat es schwer gegen meinen festen Glauben an die schwarze Welt, denn so schwarz die schwarze Welt auch ist, sie bietet mir Schutz gegenüber dieser anderen Welt die ich vermute, und ich vermute sie bunt und mein schwarzer Glaube malt lauter Gefahren in diese bunte Welt.

Nichtsdestotrotz – im Nachhinein ist es wie ein Wunder – entwickelt sich diese Ahnung von einer bunten Welt zu einer Neugier, die mich beschließen lässt, jeden Tag ein Stück der bunten Welt zu entdecken, bevor ich mich nachts wieder in die schwarze Welt zurückziehe, um mich auszuruhen von meinen Entdeckungen in der bunten Welt. Auf meinen täglichen Streifzügen gehe ich zunächst, um es mit den Farben nicht zu bunt zu treiben und mein schwarzes Gemüt nicht zu überfordern, über grüne Wiesen. Ich bestaune die Gräser an meinen Füßen. Bald getraue ich mich, zum Himmel hochzublicken und das Blau zu bestaunen, das ich bei diesem Hochblicken wahrnehme. Bei einem meiner Streifzüge komme ich schließlich an eine Wiese, die mir besonders gut gefällt. Ich lege mich in das Gras dieser Wiese. Im Liegen sind die Gräser neben mir noch grüner und der Himmel über mir noch blauer. Ich stehe wieder auf und beschließe, die Wiese, die mir so besonders gut gefällt, weiter zu erkunden, denn nun fühle ich mich bereit, nach dem Grün der Gräser und dem Blau des Himmels die Wiese nach bunten Blumen zu durchsuchen.

Bei diesem Suchen kommt eine Frau in mein Blickfeld. Sie liegt in der Wiese zwischen den Gräsern. Meine Neugier treibt mich, ich nähere mich der Frau zwischen den Gräsern. Beim Näherkommen bemerke ich, dass die Frau zwischen den Gräsern Josefine ist. Ich bekomme heftiges Herzklopfen. Es ist ein neues Gefühl, Josefine in der bunten und nicht in der schwarzen Welt zu begegnen. Meine Neugier darüber, wie es ist, Josefine in der bunten Welt zu begegnen, ist größer als alle meine Sorgen und Bedenken, die ich aus der schwarzen Welt kenne, ja ich glaube so ist es, denn ich gehe freudig auf sie zu und setze mich zu ihr ins Gras. Wir sitzen im Gras und erzählen uns von unseren Sorgen und Nöten, von unseren Freuden und Glücksmomenten, und die Welt – im Nachhinein ist es wie ein Wunder – hört nicht auf, bunt zu sein.

Josefine sagt, sie hatte sich bereits entschlossen, fortzugehen, sie war innerlich schon fort, doch vor ein paar Tagen hat sie entschieden, hier zu bleiben.

Dann bist du ja neu hier! sage ich und stelle fest, dass Josefine zwar aussieht wie immer, aber sich in meinen Augen verändert hat. Ich glaubte sie zu kennen, aber jetzt merke ich, dass ich sie nicht kannte und dass ich sie gerade neu kennenlerne.

Ich habe mir angewöhnt, jeden Tag als etwas Neues zu betrachten, sagt Josefine, als die Sonne schon tief hinter ihr steht.

Deine Haare waren nie blonder und die Sonne nie goldener als jetzt, und obwohl es nicht regnet, leuchtet alles um dich herum in den Farben eines Regenbogens, sage ich, und wieder weiß ich nicht, ob mich lediglich in musikalischen Zitaten bewege, doch es ist zu vermuten, dass dieses musikalische Zitat eine Annäherung an das ist, was ich als meine bunte Welt erlebe.

 

Der Buchhalter, dem sein Geld nichts mehr wert war

Auf der Suche nach unumstößlichen, über alles erhabenen Werten landete ich beim Geld. Ich zählte es, ich führte Listen über seine Bestände und Bewegungen. Allen Dingen maß ich einen Wert in Geld bei. Es fiel mir schwer, meine Beziehung zu Josefine in Geld zu bewerten. Deshalb beendete ich sie und ging dazu über, Frauen zu kaufen. Ich hatte einen unkalkulierbaren Posten entfernt und einen neuen geschaffen, den ich mit klar definiertem Wert in meine Geldbilanz aufnehmen konnte.

Ich kam an den Punkt, an dem ich absolut überzeugt war vom unumstößlichen, über alles erhabenen Wert des Geldes. Stolz betrachtete ich meine Bilanzen, die ich als Altare der Wahrheit bezeichnete. Mein ganzes Leben opferte ich, um bei ihnen Halt zu finden.

Es trieb mich immer weiter zum Geld, so weit, dass ich begann, es intensiv zu studieren. Bei meinen Studien stieß ich auf die Inflation, also auf das Phänomen, dass Geld nichts mehr wert ist. Es gibt also tatsächlich die Möglichkeit, dass Geld nichts mehr wert ist; eine Möglichkeit, die bisher in meinem Denken undenkbar war. Mich beschlich die Ahnung, dass Geld nur den Wert hat, den man ihm beimisst und den man glaubt, dass es hat. Ansonsten, wenn man das nicht glaubt, ist es nur aufwändig bedrucktes Papier. Anfangs sträubte ich mich, dieser Ahnung nachzugehen, doch schließlich beschlich sie mich so stark, dass der Grundwert meiner Existenz, der Wert des Geldes, wertlos wurde. Ich saß melancholisch über eine Stunde lang bewegungslos da, mit einem Zwanzig-Euro-Schein in der Hand. Ich betrachtete den Schein von allen Seiten, bis ich ihn schließlich zerriss und in den Müll warf. Eine Welt ohne Wert, in die ich nun geraten war.

Um Trost in dieser Trostlosigkeit zu finden, ging ich zu einer käuflichen Frau. Ich sagte ihr jedoch, dass ich nicht mehr an das Geld glaube und ich sie heute nicht bezahlen werde. Daraufhin verweigerte sie mir ihre Dienste. Das Geld hatte für sie nicht seinen Wert verloren, musste ich erkennen. Ich schlich von dannen, als mich wieder eine Ahnung beschlich: Es gibt wohl doch noch andere Werte als Geld, die ich aber allesamt für das Geld geopfert habe. Eine unheimliche Schlucht tat sich plötzlich vor mir auf, eine Welt ohne Geld, die ich mir bis eben nicht hatte vorstellen können. Ich fiel ins Bodenlose, das mich jedoch, zu meiner Überraschung, erstaunlich sanft in seinen Händen trug, so als warteten in diesem Bodenlosen Werte, die es für mich zu entdecken gilt.

Der tägliche Kampf gegen den Faschismus

Matjaz sagt: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Immer wieder sagt Matjaz das. Dazwischen sagt er shit und fuck und dann sagt er wieder: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Matjaz sagt nicht, was er unter einem Faschisten versteht. Ich will ihn fragen, was er unter einem Faschisten versteht. Aber ich traue mich nicht, weil er so in Rage ist. Shit! Fuck! Faschisten! dröhnt es an mein Ohr. Matjaz muss ein Faschist sein, denke ich. Sonst könnte sein Kopf nicht so voll sein von diesem Wort.

Ich versuche, mir in meinem Kopf Klarheit zu verschaffen: Wenn ich an einen Faschisten denke, denke ich an jemanden, der anderen Vorwürfe macht, um von sich selbst abzulenken. Ist das auch, was Matjaz unter einem Faschisten versteht? Oder meint er etwas ganz anderes? Ich weiß es nicht, weil ich ihn nicht frage, nehme also an, dass er das meint.

Matjaz beruhigt sich, aber nur ein wenig, und sagt: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Mit Ausnahme der Deutschen, die dürfen keine Faschisten mehr sein. Weil sie die Schuld haben. Die Deutschen haben es mit den Vorwürfen an die Juden übertrieben, seitdem dürfen sie keine Faschisten mehr sein, obwohl sie gerne welche wären. Die Schuld klebt an ihnen. Stalin konnte im Windschatten der Judenvernichtung und unter dem Deckmantel des Kommunismus die Nachfolge Hitlers antreten. Seitdem besteht ganz Osteuropa aus Faschisten.

Krasser Vortrag! Was sagt Matjaz? Matjaz ist Slowene, der deutsch spricht. Er schreit es heraus: Slowenen! Faschisten! Aber auch Italiener, Spanier, Franzosen, Briten – alles Faschisten! Matjaz redet sich in Rage: Österreicher – Faschisten! Kärntner – die größten Faschisten, vor allem gegen die Slowenen! Kärntner – faschistische Arschlöcher! schreit Matjaz mit einer schrecklichen Fratze im Gesicht.

Matjaz macht eine Pause. Atmet durch. Dann sagt er: Ich bin Faschist. Matjaz klagt sich an und spricht sich schuldig. Matjaz ist Faschist gegen sich selbst. Gefangen im Selbstfaschismus. Ist Selbstfaschismus der erste Weg zur Selbsterkenntnis, oder ist er noch fataler als Fremdfaschismus?

Matjaz hört mir nicht zu als ich sage: Ich bin auch Faschist. Oft genug mache ich anderen Vorwürfe, um von mir selbst abzulenken. Täglich mache ich das. Wenn ich den Faschisten in mir bemerke, halte ich inne und sage zu ihm: Lieber Faschist! Ich weiß, dass du Angst hast, Angst vor dir selbst. Halte sie aus, diese Angst, sie wird vergehen! Es ist gut, wie du bist, genauso wie alle anderen gut sind, wie sie sind. Habe Mut zum Leben, wie es ist! Schau es an, und du wirst dich mit ihm versöhnen! Vertrau! Hier also beginnt der Kampf gegen den Faschismus: Bei mir selbst, und nirgends sonst. Alles Faschisten. Aber der einzige Faschist, den ich ändern kann, bin ich. Hoffentlich!

Matjaz hat sein Gesicht in seine Hände fallen lassen. Ich möchte Matjaz gerne umarmen. Es drängt mich dazu. Andererseits weiß ich nicht, ob Faschisten sich umarmen lassen.

#DesmondandMollyJones

Es ist unglaublich, wie bekannt die Geschichte von Desmond und Molly Jones ist, obwohl sie kaum jemand kennt. Ich will sie kurz, in all ihrer sozialkritischen Schärfe, erzählen:

Desmond betreibt einen kleinen Stand am Markt #Kapitalist. Molly singt in einer Band #Kreativ. Desmond sagt zu Molly: Du gefällst mir sehr. Molly sagt das auch zu ihm und nimmt seine Hand #RomantischeLiebe.

Desmond geht zum Juwelier und kauft einen goldenen Ring #Materialist. Molly wartet zuhause #Hausfrau, und als Desmond ihr den Ring gibt, fängt sie zu singen an #Reichtum.

Nach ein paar Jahren haben sich die beiden ein eigenes Heim gebaut #Zersiedelung. Ein paar ihrer Kinder rennen auf dem Hof herum #Übervölkerung.

Fröhlich geht es zu auf dem Markt #Kapitalismusverherrlichung. Desmond lässt sich am Stand von den Kindern helfen #Kinderarbeit. Molly bleibt zuhause und macht sich schön #ÄußereZwänge. Am Abend singt sie noch immer in der Band #Kreativ.

Die Geschichte von Desmond und Molly Jones ist nicht von mir, sondern von Paul McCartney. Als begnadeter Musiker hat er sie in ein Lied gepackt, nahm seine Gitarre und spielte sie den anderen Beatles in getragener und bedächtiger Weise vor, um ihre Bedeutung und Dramatik zu unterstreichen. John Lennon und George Harrison fanden McCartneys Vortrag furchtbar und verließen aus Protest das Studio. So viel Sozialkritik auf einmal hält kaum jemand aus! McCartney ärgerte sich maßlos und verließ ebenfalls das Studio, bestand jedoch auf der Aufnahme des Lieds.

Später kehrte Lennon alleine ins Studio zurück. Er setzte sich ans Klavier und klimperte hastig darauf herum. Nach und nach kamen die anderen auch zurück. Teil von Lennons Geklimper wurde schließlich der neue Auftakt des Lieds. McCartney, von den anderen genötigt, seine akustische Gitarre zur Seite zu legen und das Lied in höherem Tempo als von ihm vorgeschlagen zu spielen, nahm seinen Bass und rotzte ihn recht eintönig dahin. Er war frustriert von der Entstellung seiner Geschichte, aber von ihrer Wichtigkeit nach wie vor überzeugt und ließ sich auf die musikalischen Kompromisse ein. So klimperten und schepperten und alberten sich die Beatles durch den Song, bis das herauskam, was wir heute kennen:

#Obladioblada (yorubisch: Es kommt, wie es kommt).

Bei aller Sozialkritik in der Geschichte von Desmond und Molly Jones stimmt der eingeschobene Chorus optimistisch: Es kommt wie es kommt, das Leben geht weiter. Brah! #Optimismus #Freude

Barfuß bis zum Hals

Das Eigenartige ist, dass von allem immer auch das Gegenteil wahr ist. Wenn ich sage, es geht mir gut, impliziere ich damit, dass es mir auch schlecht gehen kann. Wenn ich nur sage, es geht mir, ohne gut oder schlecht, so halte ich mir damit die Möglichkeit offen zu sagen, es steht mir, vielleicht sogar bis zum Hals. Wenn ich sage Hals, erkläre ich alles andere am Körper zum Nicht-Hals. Neulich las ich: barfuß bis zum Hals. Der das schrieb, verneint alles am Körper vom Fuß bis zum Hals, was er ebensogut bejahen könnte.

Barfuß bis zum Hals, so ging ich auf der Wiese, um im See zu baden, was eine Dame, die mir entgegenkam und mich mit entsetztem Blick betrachtete, nicht tat, nein, sie tat das Gegenteil: Sie war nichtbarfuß bis zum Hals, was man als vollständig bekleidet bezeichnen könnte, und hatte nicht vor zu baden. Ich fragte sie – ob ihres entsetzten Blickes – ob sie noch nie einen Mann nackt gesehen habe. Sie nickte und sagte, ihr Mann und sie wären selbst beim Sex nie vollständig nackt und hätten ihn außerdem nur im Dunkeln. Ihr Schamgefühl erlaube ihr nicht, einen Mann nackt zu sehen und sich einem Mann nackt zu zeigen. Dann hoffe ich, sagte ich, dass es dunkel war, als Sie geboren wurden, ansonsten wären Sie bereits zu diesem Zeitpunkt ihrem Schamgefühl schutzlos ausgeliefert gewesen.

Ich ging weiter, als sich mir eine andere Frau näherte, die sich im selben Zustand befand wie ich, nämlich barfuß bis zum Hals oder mit unbedecktem Hals bis zu den Füßen, je nach Sichtweise. Diese Frau gefiel mir, doch ehe ich ihr das sagen konnte, sagte sie zu mir, dass ich ihr gefalle und dass ihr mein Penis gefalle und ob es mir gefallen würde, ihren Penis zu streicheln und zu lecken. Ich sagte ihr, dass ich nicht genau wissen würde, was sie damit meine, also sagte sie mir, dass ihre Klitoris zwar Klitoris heiße aber in Wahrheit ein Penis sei, ein kleiner aber feiner Penis. Mich erregte, wie sie das sagte und ich stimmte zu, ihren kleinen feinen Penis zu streicheln und zu lecken. Ich kniete mich vor sie und sie spreizte ihre Beine ein wenig, damit ich sie besser streicheln und lecken konnte. Während ich ihren Penis namens Klitoris streichelte und leckte, bewegte sich mein eigener Penis in die Höhe, oder – das ist vielleicht die bessere Beschreibung – er bewegte sich in die Tiefe, denn er zeigte zum Himmel, und nur im Himmel sind die tiefsten, unendlichen Tiefen, während die Erde zwar tief ist, aber irgendwann kommt man auf der anderen Seite wieder raus. Galilei stellte fest: Die Erde ist eine Kugel und keine Scheibe mit Höhen und Tiefen.

Ich streichelte und leckte weiter die Klitoris, und mir war, als ob sich alles Gegensätzliche auflösen würde, als ob die Welt eins und ganz wäre. Da sagte die Frau: Jeder Moment ist da, um zu vergehen. Alles bewegt sich, immer und fortwährend, und alles Körperliche ist nur dazu da, uns die Existenz des Unkörperlichen zu zeigen. Da entdeckten wir unsere Körper abseits von Klitoris und Penis, wir erkundeten ihre Oberflächen und Öffnungen. Diese Erkundungen erregten mich sehr, ließen mich fallen in einen Zustand der Glückseligkeit. Ich ringe nach Worten, und mir scheint, das Nicht-Wort wäre in dieser Situation angebrachter.

Plötzlich ging Wittgenstein neben uns ins Wasser zum Baden. Ja, es war Wittgenstein, barfuß bis zum Hals, und ich rief zu ihm hinüber: Du hast recht, Ludwig – wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, während er kopfüber ins Wasser tauchte, ohne ein Wort.

Org Geder

Einer meiner Klassenkameraden hieß Georg Eder. Er war aber kein Kamerad. Er war ein isoliertes Subjekt in der Klasse. Keiner mochte ihn. Ich schämte mich für Georg, so peinlich war mir seine Erscheinung. Die dicke Hornbrille in seinem Gesicht wäre vielleicht noch zu verschmerzen gewesen, aber wie er ging, das ertrug ich nicht. Er hinkte nicht, und er hinkte doch. Alles schien schief zu sein an seinen Beinen. Seine Füße setzte er auf den Boden mit schiefem Tritt. Es war ein Wunder, dass er nicht bei jedem Schritt aus dem Gleichgewicht kam und hinfiel. Der hat Klumpfüße, sagte Peter, der Rudelführer in der Klasse und in dieser Funktion ein Verkünder der Wahrheiten. Die restliche Klasse stimmte dieser Wahrheit bei: Georg Eder hat Klumpfüße, so wie der geht!

Eines Tages war die ganze Klasse beim Bürgermeister im Rathaus zu einem Empfang eingeladen. Natürlich war Georg Eder auch mit dabei, er war ja Teil der Klasse. Er schleppte seine krummen Beine mit uns in das Rathaus. Wir standen versammelt vor dem Bürgermeister. Dem Bürgermeister muss Georg aufgefallen sein, denn er ging geradewegs auf ihn zu und fragte ihn nach seinem Namen. Georg bekam ein hochrotes Gesicht, schluckte so angestrengt, als müsse er seinen ganzen Mageninhalt zurückhalten, um anschließend herauszupressen: Org Geder.

Org Geder hatte dieser Idiot gesagt! Org Geder. Nicht mal seinen eigenen Namen konnte er sagen! Einige kicherten. Ich schämte mich in Grund und Boden für Georg, wie er dastand, mit seiner Hornbrille und den schiefen Beinen. Es war erbärmlich anzusehen. Unerträglich.

Auch der Bürgermeister schien peinlich berührt zu sein, denn er wandte sich sofort wieder von Georg ab und unserer Lehrerin zu. Während also der Bürgermeister mit unserer Lehrerin sprach, was er ohnehin, so mein Eindruck, lieber tat als mit uns Schülern zu sprechen, denn unsere Lehrerin war sehr hübsch und ich heimlich in sie verliebt, dachte ich über Georgs Versprecher nach. Aufgrund meines Nachdenkens erschien er mir jetzt logisch, der Versprecher: Georg hatte vor Nervosität die Vorsilbe ge seines Vornamens verschluckt. Diesen Verschlucker wollte er korrigieren, indem er die verschluckte Silbe seinem Nachnamen Eder voranstellte. In seinem gestressten Kopf war es scheinbar eine logische Vorgehensweise, die einzig richtige Möglichkeit, Org Geder zu sagen. Die Welt des Georg Eder – eine konfuse Welt, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Und die mir doch so nahe ging.

Nach dem Empfang standen wir noch eine Weile vor dem Rathaus herum. Georg dagegen hinkte alleine davon mit seinen krummen Beinen. Peter rief ihm hinterher: Org geder, der Eder! Was in unserem Slang so viel bedeutete wie: Arg, entsetzlich, grauenvoll geht er, der Eder! Und es stimmte, ja: Es war entsetzlich, grauenvoll anzusehen, wie Georg mühsam und einsam seines Weges ging. Ich werde dieses Bild nicht mehr vergessen: wie er mit seinem krummen Beinen sich vom Rathaus wegkämpfte und wir ihm alle nachsahen. Peter hatte wieder einmal die Wahrheit gesprochen.

Seit diesem Tag hieß Georg Eder in der Klasse nur noch Org Geder. Und ich habe an diesem Tag beschlossen, mich nicht mehr für Georg zu schämen, sondern ihn einfach zu ignorieren. Die Welt des Org Geder war mir zu erbärmlich. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben.

Peter, der ehemalige Rudelführer in unserer Klasse, ist aktuell in einem Kreisverband für die AfD aktiv. Der Verkünder der Wahrheiten. Was aus Georg Eder geworden ist, weiß ich nicht. Wieso will ich das wissen? Wieso kann ich Org Geder und seine konfuse, entsetzliche, grauenvolle Welt nicht einfach vergessen?

Münchner Fürstenwege, Teil 3

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, fuhr mit seiner Begleiterin Sophia auf der Pferdekutsche die Fürstenrieder Straße entlang. Die Kutsche wirkte wie ein Fremdkörper aus einer anderen Zeit. Sie bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Kilometern pro Stunde fort, die Autos rauschten an ihr vorbei. Die zwei Pferde zogen die Kutsche mit rhythmischen und anmutigen Bewegungen vorwärts.

Als sie die Autobahn nach Lindau überquerten, schaute Oskar zu Sophia. Sie schauten sich in die Augen, woraufhin Sophia Oskars Hand nahm. Ein heißer Schauer durchzuckte daraufhin Oskar am ganzen Körper, als stünde Sophias Hand unter Starkstrom. Das war keine Kutschfahrt mehr, das war ein wilder Ritt! Was passierte hier? War der Wahnsinn ausgebrochen? Er war ausgebrochen, in Oskars Kopf. La Folie! Mit diesem Wahnsinn in Oskars Kopf ging es weiter die Fürstenrieder Straße entlang.

Schließlich erreichten sie den Waldfriedhof, dessen hohe Bäume sich rechts der Fürstenrieder Straße auftürmen. In Oskar tobte es, doch er versuchte, sich gefasst zu geben und erläuterte:
„Das ist der Vorbote des Schlosses. Der ehemalige Schlossforst. Seit gut hundert Jahren der Waldfriedhof.“
„Wir sind also bald da?“
„Der Friedhof ist riesig. Wir fahren noch einige Kilometer an ihm entlang.“

Am Ende der Fürstenrieder Straße waren sie immer noch nicht am Ziel angekommen, sondern bogen nach rechts ab, in eine Lindenallee, und fuhren in südwestlicher Richtung weiter, zwischen Waldfriedhof und Autobahn nach Garmisch. Der Wahnsinn ging weiter. Sophia blickte zu den Autos auf der Autobahn, die parallel von ihnen, sehr nahe und doch seltsam entrückt, links vorbeizogen. Die Pferde zogen unverdrossen die Kutsche vorwärts.

„Jetzt fahren wir direkt auf das Schloss zu. Du musst dir das so vorstellen: Wir fahren unter einer Lindenallee. Auf der anderen Seite der Autobahn gab es früher genauso eine Allee. Eine doppelte Auffahrtsallee, wie in Nymphenburg.“ erläuterte Oskar. Er klammerte sich an seine Worte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.

„Und was war früher anstelle der Autobahn? Auch ein Kanal wie in Nymphenburg?“

„Nein, ein tapis vert, ein grüner Teppich. Ein breiter Grünstreifen, der damals, vor dreihundert Jahren, aufwendig angelegt und gepflegt werden musste. Es gab noch keine Rasenmäher, und so waren Gärtner im Dauereinsatz damit beschäftigt, mit Sensen den grünen Rasenteppich zu stutzen und zu hegen.“

„Lauter Möchtegern-Louis-XIV waren das, diese bayrischen Monarchen! Aber irgendwie waren sie auch sehr romantisch. Fous, complètement fous! Wahnsinn!“ Sophia lächelte.

Oskar machte große Augen: Fous, complètement fous! Wie Otto! La folie, der Wahnsinn! Sie blickten von der Kutsche über die Autobahn hinweg zur Lindenallee gegenüber und konnten erahnen, wie breit und imposant dieser grüne Teppich gewesen sein muss.

Die Autobahn führt zwar geradewegs auf das Schloss zu, macht kurz davor aber einen geradezu abweisenden Linksschwenk Richtung Süden, um ihren Weg fortzusetzen. Die Kutsche fuhr indessen geradeaus weiter ans Tor des Schlosses, wo Oskar und Sophie ihr entstiegen. Endlich angekommen! Würde der Wahnsinn jetzt ein Ende nehmen?

Dem Himmel war anzumerken, dass sich der Tag langsam auf sein Ende vorbereitete. Die Wolken waren verzogen, sodass die Luft im zartrosa Licht der letzten Sonne lag. Oskar hätte den Kutscher gerne in die königliche Schwaige des Schlosses geschickt, aber die gibt es nicht mehr, sodass er ihn stattlich bezahlte für die königliche Fahrt. Dann zog die Kutsche ohne die beiden ab.

Oskar ging auf das Eingangstor des Schlosses zu, auf dem ein königliches Wappen prangt.
„Ein seltsam verlassener Ort. Hierher sind immer Leute gekommen, die sich zurückziehen wollten: Maria Amalia von Österreich und Maria Anna Sophia von Sachsen, als sie Witwen waren. Und Otto, der unglücklichste König Bayerns.“
„Und wir“, sagte Sophia.
Sie drehte sich um und ging über den Schloßvorplatz Richtung Autobahn. Dort setzte sie sich auf eine Bank, die sehr prominent und einsam steht. Die Autos donnerten auf sie zu, um dann links abzudrehen. Ihr Blick ging über die Autos hinweg auf die Frauenkirche im Zentrum Münchens, die in der Ferne sichtbar ist. Oskar schaute ebenfalls über die sitzende Sophia hinweg zur Stadt. Hinter der Frauenkirche ist die Residenz. Dort war Oskar heute morgen mit Sophia gewesen, am Anfang ihrer Reise. Wenn er es sich jetzt rückblickend überlegte, hatte er es dort sehr schön gefunden. Ja, im Nachhinein betrachtet, hatte er so etwas wie Glück empfunden. Wieso wollte er mit Sophia dann unbedingt weiter nach Nymphenburg und Fürstenried? Ist das nicht Wahnsinn? Würde er das Glück jetzt nicht spüren, wenn sie bei der Residenz geblieben wären? Findet das Glück nur, wer weite Wege geht? Zeig mir etwas Schönes, hatte sie gesagt. Hatte er das getan?

Ziemlich durcheinander setzte er sich zu ihr auf die Bank. Die Dämmerung setzte ein. Die Scheinwerfer der Autos beleuchteten sie.
„Weißt du, hinter der Frauenkirche ist die Resid…“, setzte Oskar an, um Schutz hinter den Worten zu finden, als Sophia sich zu ihm drehte mit forderndem Blick, was ihm die Sprache verschlug. Nein, der Wahnsinn nahm kein Ende!
„Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Schöne liegt so nah!“ sagte sie, schob ihren Mund ganz nah an seinen und packte ihn energisch zwischen den Beinen. Wieder durchzuckte es Oskar am ganzen Körper. La Folie, der Wahnsinn!

War das das Schöne, zwischen seinen Beinen, das sie die ganze Zeit sehen wollte? War das das Ende von seiner Existenz als Hagestolz? Jedenfalls küsste er sie, energisch und entschlossen, ohne darüber nachzudenken, ob es schön ist oder nicht. Vielleicht war es gerade deswegen schön. Wahnsinn!

Die eine große Liebe

oder: ylop/mag onom mag ylop/nicht

Ylop und Onom sind zwei Menschen, bei denen es zunächst überhaupt nicht wichtig ist, welchen Geschlechts sie sind. Es ist jedoch nicht leicht, in der Sprache geschlechtsneutral zu bleiben. Die Sprache ist zu versext. Weil der westliche Mensch seinen Sex unterdrückt, ist er völlig verrückt nach Sex. Das drückt sich in seiner Sprache aus. Ich versuche, den Sex von Ylop und Onom auszuklammern, indem ich sie neutralisiere: Ich nenne sie das Ylop und das Onom.

Mit Ylop und Onom verhält es sich nun folgendermaßen: Ylop mag Onom, während Onom Ylop überhaupt nicht mag. Ylop könnte Onom fragen: „Warum magst du mich nicht?“ Aber Ylop fragt Onom das nicht, denn Ylop mag Onom, egal ob Onom es mag oder nicht. Ganz nach Christian Morgenstern: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.

Apropos Liebe: Onom sagt, es glaube an die eine große Liebe. In dieser Aussage ist ein Vorwurf an Ylop enthalten. Onom wirft Ylop vor, nicht an die eine große Liebe zu glauben und das Leben deshalb zu entwürdigen.
Ylop fragt Onom, warum es glaube, dass es nicht an die große Liebe glaube.
„Weil ich weiß, dass du mehr als einen Menschen in deinem Leben geliebt hast!“ sagt Onom.
Ylop sagt: „Menschen gibt es viele, Liebe gibt es eine. Warum sollte ich diese eine Liebe nicht mit mehreren Menschen teilen?“

Onom wendet sich verärgert ab. Es findet sich bestätigt in seinem Grund, warum es Ylop nicht mag. Es gibt einen Menschen für jeden Menschen, der dessen große Liebe ist, davon ist Onom überzeugt. Und weil Ylop davon nicht so überzeugt ist, um das zu seinem alles beherrschenden Lebenskonzept zu machen, bleibt es dabei: Onom mag Ylop nicht. Aber Ylop wiederum mag Onom, da kann Onom Ylop so viel nicht mögen wie es will. Denn Ylop glaubt an die eine große Liebe und schließt deshalb auch Onom in seine Liebe ein.