Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Penetrations-Workshop

Ich hatte einen eigenartigen Traum, sagt Vorderbrandner: Ich war in einem Penetrations-Workshop. Die Frau, mit der ich übte, war recht locker drauf, und wir mussten beide lachen, als ich mir das Kondom etwas ungeschickt überzog. Schon lange nicht mehr gemacht, sagte ich, sagt Vorderbrandner, und sie meinte, sie nehme jetzt auch Gleitcreme, obwohl sie die normalerweise nicht brauche.

Ich war in Sorge, dass meine Erektion weggeht, sobald ich das Kondom übergezogen habe, sagt Vorderbrandner, aber sie ging nicht weg. Im Gegenteil. Ich drang in die Frau ein, und wir lächelten uns an. Ich schob ihn rein und raus, anfangs vorsichtig und langsam, dann wild und schnell. Wir hatten großen Spaß dabei. Unbeschwertheit. Leichtigkeit. Dann erwachte ich aus diesem Traum. Ich war sehr entspannt und hatte in der Tat eine Hammererektion. Nur die Frau war verschwunden.

Am nächsten Tag rief ich Agathe an, sagt Vorderbrandner. Ich sagte ihr, ich müsse dringend bei ihr vorbeikommen, weil ich sie unbedingt penetrieren will. Ob sie denn was dagegen habe? Ich fuhr sofort zu ihr und habe Agathe in die Augen geschaut wie ich ihr noch nie in die Augen geschaut habe. Fordernd und liebevoll zugleich. Wir küssten, spürten und berührten uns. Lange. Innig. Dann habe ich meine Übung aus dem Penetrations-Workshop mit Agathe fortgesetzt, nur dass ich bei Agathe kein Kondom übergezogen habe.

Erschöpft und zufrieden lagen wir uns schließlich in den Armen. Dann begann Agathe zu weinen. Bei mir brechen gerade alle Dämme, sagte sie, ich kann nicht anders. Ich bin so glücklich. Ich sagte nichts, sagt Vorderbrandner. Ich habe Agathe wortlos gestreichelt, und in diesem Moment spürte ich, dass ich sie liebe, ja, dieses Wort will ich jetzt benutzen: Liebe.

Normalerweise ist unser Sex recht frustrierend. Ich bin so angespannt, dass ich keine ordentliche Erektion bekomme. Dann bin ich so enttäuscht, dass ich weinen möchte. Aber meistens fluche ich stattdessen. Ich fluche auf meine christliche Kindheit, die die Vagina zum Himmel und zur Hölle zugleich machte. Jedenfalls zu etwas Übermenschlichem wie die Jungfrau Maria, dem ich nie gerecht werden kann, dem ich unterliege und das ich daher ablehnen muss. Agathe, die meine Schimpftiraden geduldig ertrug, sagte dann oft: Dann mach es dir doch wenigstens selbst, und ich fuchtelte angespannt und nervös an meinem Penis herum, um Samenflüssigkeit aus mir herauszupressen. Schließlich einigten Agathe und ich uns, dass ihre Vagina mit anderen Penissen und mein Penis mit anderen Vaginas in Berührung kommen sollte. Das verschaffte mir gewisse Erleichterung. Die Moralkeule, dass man nur mit einem Menschen intime Kontakte haben darf und alles andere Todsünde ist, hatte mich belastet, sagt Vorderbrandner. Auf diese Weise schafften Agathe und ich es, so etwas wie halbwegs entspannten Sex miteinander zu haben. Dennoch hat sich meine Anspannung beim Sex nie richtig gelegt, egal mit wem ich ihn hatte. Entsprechend nervös war ich vor dem Penetrations-Workshop.

Konnte ich denn ahnen, dass der Workshop so ablaufen würde? Mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich von diesem Workshop wirklich nur geträumt habe, oder ob ich ihn tatsächlich besucht und nur vergessen habe, dass ich ihn besucht habe, sagt Vorderbrandner. Jedenfalls bin ich meiner Übungspartnerin sehr dankbar, kann mich aber beim besten Willen nicht mehr an sie erinnern.

Musik aus dem Penetrations-Workshop

…Meine Zeit mit Liliane

Ich habe Liliane seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe nichts von ihr gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Laut Wikipedia tut sie es: Liliane Kampermann ist eine deutsche Künstlerin, die in München sowie weltweit lebt und arbeitet. Vor diesen Jahren, in denen wir uns nun nicht mehr gesehen haben, haben wir uns jahrelang in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gesehen. Ich versuche, meine Begegnungen mit Liliane über die Zeiträume zu strukturieren, aber es gelingt mir nicht. Denn wenn wir uns trafen, schien die Zeit keine Rolle zu spielen. Sie verging einfach, ohne dass wir es merkten. Wir waren eingebettet in das, was nie war und was nie sein wird, sondern einfach ist: in die Gegenwart.

Ich habe als Kind Nacktheit als etwas Verbotenes erlebt, das mit starker Scham belegt ist. Das hat dazu geführt, dass ich mich bevorzugt in Frauen verliebe, die sich nackt zeigen. Ohne jede Kleidung. Ohne jeden Schmuck. Ein nackter Frauenleib ist für mich die Offenbarung des Glücks, der Zugang ins verbotene Paradies. Liliane und ich waren nackt, als wir uns das erste Mal sahen. Und sie zeigte sich: Sie stieg vor meinen Augen nackt ins warme Wasser, lud mich mit ihren Blicken ein, ihr zu folgen. Das Paradies öffnete seine Türen. Als unser nackter Abend endete, schloss sich das Paradies. Wir zogen uns an. Aber mich zog es hin in dieses Paradies, das fortan Liliane hieß. Wir trafen uns zu unseren zeitlosen Treffen, wir redeten und redeten, im Nachhinein glaube ich, Liliane redete mehr als ich, während ich sie betrachtete: ihren Mund, wenn sie redete; ihre Augen, wenn sie schaute. Bei diesen Anblicken träumte ich vom Paradies, das sich als kuscheliges Liebesnest mit uns beiden darin darstellte.

Es ist ein sehr warmer Frühlingstag im März. Die Sonne scheint schon ungewöhnlich stark durch die noch blattlosen Äste der Bäume. Liliane und ich sind im Paradies. Wir streunen über die Wiesen, auf der die Frühlingsblumen blühen. Ein Pärchen springt bereits voller Übermut ins kalte Wasser. Ich sehe Liliane und mich in diesem Pärchen und träume schon wieder vom Paradies. Wir setzen uns ins Gras und reden. Sind wir, oder belehren wir uns? Bin ich, oder beobachte ich sie? Die Worte, die wir reden, bauen sich auf wie eine Blockade. Die Worte werden viel zu viele, und ich lege mich hin, um ihnen zu entfliehen, aber auch als ich liege, fällt mir nichts anderes ein als Worte, Worte, Worte, und ich sehe Liliane und denke mir: Sie ist schön, schön, schön, und ich denke: Gibt es eigentlich einen idealen Zeitpunkt, um sich zu küssen? Oder passiert das einfach im Paradies? Ich ringe um das Paradies in meinem Kopf und sage: Ich sehe Frauen als viel zu hohe Wesen. Ich kann kein normales Verhältnis zu ihnen aufbauen. Durch dich, Liliane, lerne ich, dass ich, um mit einer Frau zu sein, ein Mann sein muss. Noch während diese Worte meinen Mund verlassen, fühlen sie sich komisch an, schal, unwahr, bauen sich auf wie eine trennende Wand zwischen uns, und mir fallen alle unsere Gespräche ein, deren Worte sich wie ein Schleier über Nachmittage und Nächte legen, den wir nicht zu durchdringen vermögen. Ich ringe weiter um das Paradies, aber mit Worten, das ist die Illusion, der ich erliege, dass ich mit Worten das Paradies herbeireden kann, ohne etwas dafür zu tun, und ich sage also: Liliane – ich will ehrlich sein zu mir, ich will ehrlich sein zu dir, deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich spüren will, dass ich dich küssen und berühren will. Für einen Moment sehe ich, wie sich Lilianes Lippen öffnen, so als will sie mir sagen: Dann tu es doch! Doch dann sehe ich in ihren Augen all die Worte unserer Gespräche, die uns trennen. Ich sehe in ihnen die Trauer über Oleg, den Zorn über ihren Vater, die Bitterkeit über die Männer. Ich sehe, dass sie das alles voll in Beschlag nimmt und verhindert, dass wir uns nahe kommen. Kein Platz für mich in Lilianes Welt. Oder haben wir uns für einen kurzen Moment gefunden, um uns gegenseitig unsere Trauer zu zeigen darüber, wo wir herkommen? Sind wir jetzt soweit, hinzuschauen? Sind wir jetzt am Grund des tiefen Sees, wo sich die Wahrheit ruhig verrät?

Liliane stand auf und lief davon. Ich blieb im Gras liegen und schaute zum Himmel. Ja, ich mag die Natur, weil sie keine Meinung hat. Sie ist einfach. Jahre vergehen, so wie die mit Liliane. Eines bleibt: die Gegenwart. Und mit ihr die Chance, frei zu sein. Denn der verdient sich seine Freiheit, der täglich sie erobern muss. Ich ziehe mich aus und springe in das kalte und klare Wasser.

…Unterfrau…

Nach dem Erlebnis im Sommer, als ich dreizehn war, begann ich, meinen Körper hinter weiten T-Shirts und pludrigen Pullovern zu verstecken. Nicht begehrenswert, nicht begehrenswert. Keiner der Männer sollte mir zu nahe kommen und mich enttäuschen. Ein Mauerblümchen war ich, ein scheues, sensibles Seelchen. Das sagten die Leute.

Ich vergrub mich in Bücher, bis ich eines Tages las: Ein bildender Künstler ist jemand, der durch sein Werk Eindruck macht, nicht durch sich selbst. Das faszinierte mich. Mit seinem Werk Eindruck machen und selbst unsichtbar bleiben. Ich studierte Kunst, und dann arbeitete und arbeitete ich: Graphik und Design für die Werbung. Ich arbeitete tagelang, nächtelang, Projekt über Projekt. Eindruck machen mit dem was ich mache. Wahrscheinlich hätte ich mich zu Tode gearbeitet, wäre nicht Oleg in mein Leben gekommen. Oleg interessierte sich für mich. Ich war irritiert. Mein Werk, nicht ich, sollte Eindruck machen. Ich wehrte mich gegen seine Avancen. Er würde sich schon verziehen. Aber er verzog sich nicht. Er ließ nicht locker. Bis ich mich fangen ließ. Er zog mir meinen pludrigen Pullover und mein weites T-Shirt aus. Heftig pochte mein Herz, als ich nackt vor ihm stand. Jede seiner Berührungen ließ meinen Körper explodieren. Ich wurde feucht wie ich es noch nie gewesen war. Seine Stöße brachten mich in Ekstase. Begehrt! Begehrt! Ich wurde begehrt!

Durch Oleg war ich in einen Kreislauf gekommen, aus dem es kein Entrinnen gab. Er begehrte mich. Ich ließ mich begehren. Ich wurde süchtig nach Oleg, er war mein Übermann.

Mitten in diesem Begehren geschah etwas Unvorhergesehenes: Mein Vater starb. Nicht ganz so klischeehaft, wie man es vermuten würde, nämlich beim Sex mit einer jungen Geliebten, aber fast: Er war in Begleitung einer wesentlich jüngeren Dame – zwei Jahre jünger als ich, wie sich später herausstellte – als er zusammenbrach und nicht mehr wiederbelebt werden konnte. Ein Schock. So wie damals, als ich dreizehn war. Der Mann der Männer: tot. Meine Mutter: ein Häufchen Elend, Trost suchend bei ihrer jüngsten Tochter – mir.

Materiell gesehen war ich plötzlich reich geworden: Mein Vater hatte ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Insgesamt gesehen war es eine Misere: Das unerträgliche Gejammer meiner Mutter. Ohne meinen Vater geriet das Gefüge aus den Fugen.
Oleg sagte: Lass uns abhauen! Du hast doch jetzt Geld!
Wohin denn?
Nach Biarritz. Ich mach den Surflehrer und du widmest dich deiner Kunst.
Ohne etwas zu sagen, sagte ich mit meinen Blicken: Ja Oleg, gehen wir nach Biarritz! Für dich mache ich alles! Du bist alles was ich habe! Du darfst mich nur nicht verlassen! Versprich mir das!

In Biarritz hatte Oleg das Surfen und ich die Kunst. Alles schien gut. Aber ich bekam Angst. Angst, Oleg zu verlieren. Eines Abends – ich wusste, Oleg würde gleich nachhause kommen – stellte ich mich im sanften Abendlicht splitternackt ans Fenster, wie eine Skulptur. Ich machte mich selbst zum Kunstwerk. Oleg kam zur Tür herein und sah mich erstaunt an. Ich spürte meine Verletzlichkeit. Ich musste mein Kunstwerk retten und sagte: Oleg, bitte berühre mich und sag mir, dass ich eine schöne Frau bin!
Sei nicht lächerlich, Liliane! sagte er: Ich habe Hunger, und ging zum Kühlschrank.
Ein Schock! War ich ihm nicht mehr schön genug? War es mein Schicksal, von Männern nicht begehrt zu werden?

In den nächsten Tagen folgte ich Oleg heimlich in die Surfschule. Ich sah, wie er mit anderen Frauen flirtete. Ich stellte ihn zur Rede. Er meinte, ich solle ihn nicht mit meiner kranken Eifersucht belästigen, er würde doch wohl mit anderen Frauen reden dürfen. Ich bat ihn auf Knien, mich zu lieben. Er aber verließ mich.

Was sollte ich alleine in Biarritz? Oleg war der einzige, den ich kannte. Außer ihm gab es hier niemanden für mich. Außer ihm würde es niemanden geben. Ich setzte mich ins Auto und ließ Biarritz hinter mir.

L’amour en fuite. Liebe auf der Flucht. Ich hörte diesen lächerlichen Chanson von Alain Souchon. Ich hörte ihn immer wieder. Ein darstellender Künstler stellt sich selbst dar. Wie schrecklich! Wie abscheulich! Wie verletzlich! Ça coule sur ma joue. Tränen fließen über meine Wange. Ich fuhr und fuhr. Ich schleppte mich nach München. Meine Mutter empfing mich mit offenen Armen. Sie berührte und küsste mich wie damals, im Sommer, als ich dreizehn war. Wie ein kleines, schutzbedürftiges Mädchen. Mittlerweile war ich aber über dreißig Jahre alt…

…Übervater…

Er saß mir gegenüber und sprach von seiner Übermutter, und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich konnte mit dem, was er sagte, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redete ganz normal mit mir. Sicher, ich hatte ihm bereits signalisiert, dass er mir nicht zu nahe kommen soll: Ich hatte meine Gründe. Aber das wird doch nicht bei jeder Frau so sein, die er trifft!

Er machte mich neugierig. Irgendetwas zog mich zu ihm hin. Er brachte mich zum Nachdenken: Übermutter? Ich konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Meine Mutter war keine Übermutter. Sie war eine hilfsbedürftige Frau, die sich meinem Vater ausgeliefert hatte. Mein Vater war der Chef im Ring. Er hatte als Kind den Bombenhagel über Dresden überlebt. Allein deswegen war er schon eine Art Übermensch. Durch vielerlei Irrungen und Wirrungen kam er nach dem Krieg nach München. Schlug sich durch. Wurde Arzt. Die Autorität im weißen Kittel. Er ehelichte meine Mutter, was soviel bedeutete, dass er sie in Besitz nahm. Meine Mutter gebar ihm drei Mädchen: meine beiden älteren Schwestern und mich. Mein Vater war sehr stolz auf meine beiden älteren Schwestern. Er betrachtete sie wie zwei heranwachsende weibliche Trophäen. Ich war immer außen vor, zu groß war der Altersunterschied: Juliane ist acht, Adriane sechs Jahre älter als ich.

Im Sommer flogen meine Eltern mit uns dreien immer ans Meer, wo wir nackt badeten. Ich weiß noch genau den Moment in dem Sommer, als Juliane das letzte Mal mit uns kam. Sie war siebzehn und Adriane fünfzehn: Ich spielte gerade im Sand, als ich aufblickte. Mein Vater stand mit meinen beiden Schwestern nackt da. Er legte triumphierend die Hände um ihre Schultern. Anschließend fasste er Juliane an die Brust und sagte: Ja, das fühlt sich gut an! Wirst eine ordentliche Frau! Zu Adriane, deren Brüste er auch berührte, sagte er: Ja, auch bei dir ist das schon ganz ordentlich. Und außerdem hast du ja noch zwei Jahre mehr Zeit als deine Schwester. Meine Schwestern grinsten stolz. Wie eine verschworene Gemeinschaft standen sie da mit ihren nackten Körpern, die drei. Ich saß im Sand und verstand nichts. Ich merkte nur, dass bei mir noch nichts auf der Brust war, das mein Vater gerne angefasst hätte, und fühlte mich schlecht. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich es kaum erwarten, dass mir Brüste wachsen.

Vier Jahre später: Ich war dreizehn und nur mit meinen Eltern – ohne meine beiden Schwestern – im Strandurlaub. Meine Brüste hatten sich bereits ansehnlich entwickelt. Stolz ging ich im Sand herum und hoffte, dass mein Vater nun endlich auch meine Brüste berührt. Mir wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken, ich konnte es kaum erwarten. Dann, eines Abends, lag ich im Bett und konnte nicht schlafen. Ich wünschte mir, dass mein Vater kommt und mich berührt. Mir war heiß. Ich stand auf und wollte auf die Terrasse unseres Bungalows gehen, wo meine Eltern noch saßen. Als ich den Flur betrat, hörte ich sie reden. Leise schlich ich zur Ecke, wo sie mich nicht sehen konnten, und belauschte ihr Gespräch.

Wolfgang, sagte meine Mutter, ich habe nur eine Bitte an dich: Lass unsere Kleine in Ruh! Ich merke, wie fixiert du schon wieder auf sie bist. Aber ich werde das nicht dulden! Sie soll ohne dein Gegrapsche eine Frau werden!

Ach was, sagte mein Vater: Als ob das schaden würde! Sind Juliane und Adriane wegen meinem Gegrapsche, wie du es nennst, schlechte Menschen? Im Gegenteil: Sie sind selbstbewusste junge Frauen!

Du weißt, wie mir die Kleine am Herzen liegt! Ich habe sie mir so gewünscht! Bei den beiden Großen habe ich dir freie Hand gelassen. Aber sie, sie gehört mir! Lass die Finger von ihr! Ich dulde alle deine Frauengeschichten. Aber wenn du auch nur einmal Liliane begrapschst, dann verlasse ich dich mit ihr!

Ich lief davon, sprang ins Bett, zog mir die Decke über den Kopf und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich heulte und heulte, ohne Ende. Eine Welt brach zusammen. Mein Vater würde mich nicht berühren. Mein Vater berührte meine älteren Schwestern. Mein Vater berührte andere Frauen. Nur mich und meine Mutter nicht. Ich war verzweifelt. Ich hatte das Gefühl, meinen Vater verloren zu haben. An meine beiden älteren Schwestern. An alle Frauen dieser Welt.

Meine Mutter hatte mich heulen gehört. Sie kam zu mir ins Zimmer und schob die Decke von meinem Kopf: Was ist denn, meine Kleine? Hast du schlecht geträumt? Sie begann mich zu streicheln und zu küssen, aber ich wollte das nicht. Ich wollte Zärtlichkeiten von meinem Vater, aber nicht von meiner Mutter. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Wie sonst hätte ich dieser Situation entkommen sollen? Was hätte ich denn sagen sollen? Meine Mutter ließ nicht los von mir. Nachdem ich ihr mehrmals gesagt hatte, dass ich schlafen will, ging sie schließlich. Geschlafen habe ich die ganze Nacht nicht. Ich wäre am liebsten gestorben.

Am nächsten Tag, am Strand, hatte ich das Gefühl, den hässlichsten Körper aller Frauen zu haben. Ich vergrub ihn mitsamt meinem Kopf im Liegestuhl…

Übermutter…

Spricht man von der Übermutter, vergisst man gern den Untervater. Ich hatte beides: eine Übermutter und einen Untervater.

Ich wuchs im Elternhaus meiner Mutter auf. Es wurde vergrößert, damit wir alle Platz haben. Alle, das waren: die Eltern meiner Mutter, meine Mutter, mein Vater, meine ältere Schwester und schließlich auch ich. Als ich fünf war, starb mein Großvater an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzungen. Blieb mein Vater als männliches Oberhaupt der Familie. Mein Vater, im Krieg geboren, der früh seinen eigenen Vater verloren hatte, war aufgewachsen mit dem Glaubenssatz: Maul halten und funktionieren. So hielt er das Maul und funktionierte. Und wurde mein Untervater. Die Männlichkeit machte Platz für das weibliche Dreigestirn: Großmutter, Mutter, Schwester. Meine Großmutter übernahm fortan die Macht, wurde unumstrittene Herrin des Hauses. Meine Schwester begab sich an die Seite der Macht, wurde ein Herz und eine Seele mit meiner Großmutter. Zwei der drei Frauen wurden also Überfrauen, die keine Nähe zuließen. Waren sie überhaupt Frauen für mich? Waren sie nicht eher seltsam entrückte Menschen, die im selben Haus mit mir wohnten?

Wohin also mit meinen Bedürfnissen als kleiner Junge? Zu meiner Mutter! In der gegebenen Konstellation umso mehr. Ich verlangte alles von meiner Mutter: Geborgenheit, Liebe, Glück. Nur bei ihr suchte ich, was ich brauchte. Sie wurde meiner Übermutter, ohne dass sie es wollte.

Ich schlug mir die Stirn blutig an der Tischkante. Mein Vater lief entsetzt davon. Vermeidung als Funktionsstrategie. Meine Mutter blieb und tröstete mich, versorgte mich und brachte mich ins Krankenhaus. Mein Vater rundete unterdessen alle Tischkanten im Haus, um zukünftiges entsetztes Davonlaufen zu vermeiden.

Als ich ein Teen wurde, wurde meine Schwester interessant. Ich fand es toll, wenn sie sich am See oben ohne sonnte und ich ihre Brüste sehen konnte. Ich habe diesen Anblick als sehr schön in Erinnerung. So schön also können Frauen sein! Als meine Mutter sie für das Oben-Ohne-Sonnen tadelte, wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich, je älter ich wurde, nicht mehr alles Glück von meiner Mutter würde verlangen können. Beim Anblick der Brüste meiner Schwester bröckelte erstmals der Status meiner Mutter als Überfrau. Aber da war sie längst meine Überfrau geworden. Es war für mich nicht vorstellbar, in meinem Leben einen anderen Glücksbringer zu finden als meine Mutter. Meine Verzweiflung darüber wurde sehr groß. Sie manifestierte sich unter anderem dadurch, dass Blumentöpfe gegen Fensterscheiben flogen.

Mein Untervater sammelte die Scherben ein, während meine Mutter instinktiv spürte, dass ihr Übermutter-Dasein in meinem Kopf ein Ende nehmen musste. Sie forderte psychologische Hilfe an. Diese psychologische Hilfe wiederum forderte meinen Vater auf, aus seiner Untervater-Welt aufzutauchen und mir so zu ermöglichen, ein Mann zu werden. Mein Vater bewies große Vaterliebe, denn er bemühte sich redlich. Doch sein Glaubenssatz Maul halten und funktionieren war so tief in ihm verwurzelt, dass er mir in unseren Vater-Sohn-Gesprächen vor allem vermittelte, dass Frauen die Macht haben und wir Männer uns dieser Macht zu unterwerfen haben. Ich wurde furchtbar wütend auf die Frauen, weil ich sie so sehr liebe und ihnen nicht dauerhaft unterlegen sein wollte. Die Frauen sollten fortan Erfüllung und Bedrohung zugleich für mich sein…

Birke bei den Brücken

eine Bildergeschichte

Birken wachsen gern in Gruppen. Meist unter sich, aber auch gemeinsam mit anderen Bäumen.

Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Vielleicht glaube ich es auch nur. Jedenfalls ist es für mich eine Wahrheit.

Umso mehr erstaunt es mich, als ich die einsame Birke entdecke: Ich gehe, wie so oft, den Bach entlang, unter den Autobrücken hindurch, und da nehme ich sie plötzlich wahr, wie sie zwischen den Brücken steht: die einsame Birke. Als hätte sie gerade jemand hingepflanzt. Jedenfalls kommt sie neu in meine Welt und erschüttert meine Wahrheit über Birken als Gruppengewächse.

Mit grenzenlosem Erstaunen schaue ich zur Birke hoch. Ist das wirklich wahr, diese birkige Einsamkeit? Ich brauche Abstand, um das zu prüfen. Vielleicht täuschen mich ja meine Augen, hier unter den Brücken.

Ich gehe auf die andere Seite des Bachs. Ich betrachte die Birke von der gegenüberliegenden Seite, oberhalb der Brücken, wo ihre Einsamkeit nicht so einsam wirkt und die Brücken nicht so brückig.

Doch dieser Blick stellt mich nicht zufrieden. Ich weiß, dass er nicht der Wahrheit entspricht, hinter der ich her bin. Ich will der Birke wieder näher kommen. Autos rauschen über die Brücken an ihr vorbei. Ich warte einen verkehrsfreien Moment ab, überquere die Fahrbahn, um mich der Welt der einsamen Birke wieder zu nähern.

Mein neuer Anblick ist nur eine Momentaufnahme, denn es treibt mich weiter. Ich krieche an den Brücken hinunter ans Ufer des Bachs. Dort schleiche ich herum und weiß nicht recht, wie mir geschieht.

Dunkel ist es unter den Brücken, obwohl die Sonne scheint. Ich bekomme Angst und kauere mich auf den Betonsockel am Ufer. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zur einsamen Birke gegenüber. Ich bezweifle nicht mehr ihre Existenz. Ich erkenne mich selbst in ihr. Ich spüre meine Angst vor dem Isoliertsein, vor dem Getrenntsein, vor dem Nichtverbundensein.

Doch statt in eine Angststarre zu verfallen, gehe ich zum mutigen Angriff über. Ich springe in den Bach und schwimme zur Birke hinüber. Ich hätte oben über eine der Brücken zu ihr gehen können, aber das hätte viel zu lang gedauert und den rollenden Autoverkehr auf den Brücken nur unnötig in unsere Beziehung involviert. Außerdem hätte das meiner Gefühlslage nicht entsprochen. Denn ich kann mich unmöglich von der Birke wieder entfernen, keinen Zentimeter, so hingezogen fühle ich mich zu ihr. Ist es Liebe?

Durchnässt steige ich am anderen Ufer aus dem Bach, gehe zur Birke und umarme ihren Stamm. Bang frage ich sie: Birke, wie hältst du das aus, immer so alleine zwischen den Brücken?

Ich bin nicht alleine, sagt die Birke: Der Bach fließt an mir vorbei. Als ich klein war, war es sehr windstill und dunkel unter den Brücken, und er mein einziger Begleiter. Er sagte zu mir: Schau nach oben – der Himmel ist über dir. Durch ihn ist alles mit allem verbunden. Ich wuchs dem Himmel entgegen, über die Brücken empor. Seit ich größer bin, spüre ich den Wind. Manchmal kommt er von meinen Geschwistern, die etwas weiter nördlich stehen, und sie grüßen mich. Manchmal geht er von mir zu ihnen, und ich grüße zurück. Und manchmal bringt er mir etwas ganz Neues, der Wind. So ist jeder Tag ein Erlebnis, hier bei den Brücken.

Skrupellos durch die Welt

Ich irre planlos durch meine Welt. Gefühle und Gedanken schwirren kreuz und quer herum und gerade als ich glaube, vollends im Chaos zu versinken, erscheinen als gegensätzliche Pole meiner Welt die Moral und die Freiheit. Sie geben meiner Welt Struktur, die mich ordnet: Da ist die Moral und dort ist die Freiheit. Nichts dazwischen. Nein halt: Ich bin dazwischen. Ich werde zwischen den beiden zerrissen, jedenfalls fühlt es sich so an. Die Moral zerrt an mir und zur Freiheit zieht es mich hin. Die Moral lässt mich nicht los, und so scheint es eine naheliegende Idee, die Moral genauer anzusehen: Die Moral trägt die Bürde von Jahrhunderten, in denen sie genug Zeit hatte, die Menschheit an sich zu ketten. Wäre es nicht sinnvoll, die Moral einfach loszulassen, anstatt sich lange mit ihr zu beschäftigen, und sich der Freiheit zuzuwenden? Oder ist das zu einfach gedacht?

Mir wird das zu kompliziert, zu schwer, und so beschließe ich, mich der Leichtigkeit des Lebens zuzuwenden. Ich schlage die Sportseiten der Zeitung auf. Dort lese ich, dass in New York die offenen US-Meisterschaften im Tennis stattfinden. Es herrscht große Hitze in New York. Deswegen wechseln die Spieler mehrmals während eines Spiels ihr Shirt. Die Männer machen das auf dem Platz und zeigen dem Publikum ihre nackten Oberkörper. Die Frauen gehen dazu in die Katakomben des Tennisstadions. Schade eigentlich, denke ich, denn trainierte Frauenoberkörper wären doch mindestens genauso schön anzusehen wie trainierte Männeroberkörper.

Das dachte sich wohl auch ein Kameramann, denn er folgte einer Spielerin in die Katakomben, filmte sie beim Umziehen und sendete die Bilder live dem Fernsehpublikum. Wozu ging sie dann überhaupt in die Katakomben? Als die Spielerin auf den Platz zurückgekehrt war, bemerkte sie, dass sie ihr Shirt verkehrt herum angezogen hatte. Ohne noch einmal in die Katakomben zu verschwinden (wo sie wahrscheinlich ohnehin wieder gefilmt worden wäre), zog sie das Shirt kurzerhand auf dem Platz aus und richtig herum wieder an. „Hast du gar keine Skrupel?“ rief ihr der Schiedsrichter daraufhin zu und rügte sie.

Skrupel! Das ist das Wort! Das ist das verbindende Element zwischen Moral und Freiheit! Ein Skrupel ist eine auf moralischen Bedenken beruhende Hemmung, etwas Bestimmtes zu tun. Ein Skrupel beraubt einen der persönlichen Handlungsfreiheit. Ein Skrupel sorgt dafür, dass einen die Moral nicht in die Freiheit entlässt. Das bin ich also: Ein Mensch voller Skrupel. Ich spüre schon wieder die Schwere des Themas und kehre sofort wieder zurück zur Leichtigkeit der Sportberichterstattung.

Die Spielerin blickte den Schiedsrichter nach der Rüge zunächst verduzt an, hatte sie doch beim Aus- und Anziehen des Shirts ihre Brüste moralisch einwandfrei mit einem Sport-BH bedeckt gehabt. Dann aber zerriss sie die Ketten der Moral: Sie zog ihr Shirt wieder aus, anschließend auch ihren Sport-BH und rief dem Schiedsrichter zu: „Nein, ich habe keine Skrupel, denn ich bin frei! Und mit deiner Moral will ich nichts zu tun haben!“ Ein Kampf für die Freiheit, den sie da ausrief. Denn warum darf das Publikum nackte Oberkörper von männlichen Spielern betrachten, aber keine nackten Oberkörper von weiblichen Spielern?

Mit dem Zeigen und Betrachten von nackten Körpern scheint die Menschheit ein großes moralisches Problem zu haben. Wie ist es sonst möglich, dass ein Kameramann die Spielerin beim Umziehen in den Katakomben heimlich filmt und die Bilder live dem Fernsehpublikum sendet, die Spielerin draußen auf dem Platz aber gerügt wird, wenn sie ihr Shirt nochmal aus- und anzieht? Einerseits das große Verlangen, andererseits die große Scham.

Die Sportberichterstattung bringt keine Leichtigkeit in mein Leben, im Gegenteil. Sie führt mich mitten hinein in die Schwere der Problematik von Moral und Freiheit. Wieso hängt die Menschheit so an der Moral? Ist die Freiheit zu anstrengend, weil sie Verantwortung für das eigene Handeln einfordert? Ist es leichter, sich der Moral zu unterwerfen anstatt Verantwortung für sich selbst zu übernehmen? Und viele Skrupel zu entwickeln, um eigenverantwortliches Tun zu verhindern?

Nein, nein, nein! Ich will mich der Moral nicht mehr unterwerfen und habe beschlossen, künftig skrupellos durch die Welt zu laufen. Und bei allen moralischen Bedenken, die da noch kommen mögen: Es fühlt sich frei an!

Skrupellosigkeit bei den US-Open

Perfekte Paare

„Filo und Bene trennen sich!“
Vorderbrandner rief mir diese Nachricht zu als eine Weltneuheit, die umfassender Analyse bedarf.
„Hast du gehört: Filo und Bene trennen sich!“

„Ja, ich habe gehört. Was ist denn das für eine Nachricht? Das Erwartbare ist nach langen, quälenden Jahren endlich eingetreten. Zumindest für mich“, sagte ich: „Und was heißt das überhaupt: Sie trennen sich? Hätten sie ihre Vereinigung nicht so ernst genommen, müssten sie ihre Trennung jetzt nicht so ernst nehmen. Die Polarität der Dinge ist eine fatale Falle, die sich das Hirn stellt.“

„Bene zieht aus.“

„Soso, Bene zieht aus. Findet er seine These nun bestätigt?“

„Welche These?“

„Die These, dass der Mann nur der Erzeuger ist, aber mit der Aufzucht des Nachwuchses am besten nichts zu tun haben sollte.“

„Das sagt Bene?“

„Ja, das sagt Bene. Sein Lieblingstier ist der Gepard. Männliche Geparden kümmern sich überhaupt nicht um den Nachwuchs. Das macht das Weibchen alleine. Dieses Rollenmodell, sagt Bene, wäre für die Menschheit ein erstrebenswertes. Was Bene allerdings nicht sagt: Es gilt als wahrscheinlich, dass männliche Geparden ein sehr orientierungsloses Leben führen, weil sie als Junge keine väterliche Führung erfahren.“

„Dann soll also Liliane bei Filo bleiben und Ludwig mit Bene ausziehen?“

„Nein, Schmarren! Li braucht genauso ihren Vater wie Lu seine Mutter. Wir alle, ob Mann oder Frau, tragen männliche und weibliche Anteile in uns.“

„Ist das die Erkenntnis aus deinem letzten Tantra-Seminar?“

„Nein. Das ist meine Überzeugung. Mann und Frau ist genauso eine Polarität wie vereinigen und trennen. Vielleicht sollte man Filo und Bene sagen, dass sie sich nicht trennen sollen. Nicht so permanent, als polare Endlösung. Vielleicht sollten sie mehr changieren zwischen Trennung und Vereinigung. Nicht auf den Polaritäten beharren.“

„Du hast leicht reden. Drückst dich selbst vor jeglicher Beziehung und willst anderen raten, wie sie ihre Beziehung führen sollen. Speziell wenn Kinder da sind, ist es nicht leicht sich zu trennen!“

„Die Kinder! Dann wird auf die Kinder gezeigt! Ein Kind ist nur so glücklich, wie es seine Eltern sind. Kann ein Kind glücklich sein, wenn seine Eltern unglücklich in ihrer Beziehung sind? Das Kind hat ein Recht darauf, nicht in der unglücklichen Beziehung seiner Eltern gefangen zu sein. Und die unglückliche Beziehung, die machen sich die Eltern selbst. Es müsste keine unglücklichen Beziehungen geben, wenn jeder offen wäre für eine glückliche Beziehung. Aber immer sind da diese Vorstellungen und Erwartungen von Glück, die geradewegs ins Unglück führen!“

Ich beendete meinen Vortrag, und auch Vorderbrandner sagte nichts. Dann fiel mir mein Traum von letzter Nacht ein und ich begann, ihn zu erzählen:
„Ich sah Filos und Benes in orange gehaltenes Wohnzimmer mit den grünen Sesseln. Die drei Holzgazellen standen da, die Filo aufgestellt hatte zur Steigerung ihrer Fertilität, weil es doch anfangs mit dem Schwangerwerden nicht geklappt hat. Dann kam Filo in den Raum, ganz in brauner Tarnfarbe gekleidet, und machte merkwürdige Verrenkungen. Sie schien sich auf die Begrüßung von Gästen vorzubereiten. Bald wackelte auch Bene rein, ebenfalls in tarnfarbenem Braun, und schenkte sich erstmal einen ein, um sich auf seine Art auf den anstehenden Abend vorzubereiten. Als erster Gast kam Gusti. Oder heißt sie Gundi?“

„Beides. Sie heißt Auguste Gundula.“

„Auf jeden Fall die mit dem Putzfimmel. Sie nahm gleich nach der Begrüßung den Staubsauger und fing zu saugen an. Schon seltsam, dass mich Filo und Bene hartnäckig mit ihr verkuppeln wollten.“

„Du wärst aufgeräumt gewesen mit ihr.“

„Dann kamst du, mit deiner kackbraunen Strickweste, die du eine zeitlang immer getragen hast.“

„Das ist ja schon ewig her!“

„Ja, ihr wart alle recht jung in meinem Traum. Du kamst tanzend in den Raum, mit der Ungarin, die ganz in grün gekleidet war, dabei aber das Kunststück fertigbrachte, dass der Rock nicht zum Oberteil passte.“

„Mit der kam ich auf die Party, stimmt. Sie sagte, sie will nur mitkommen, wenn wir tanzen. Das war aber keine Ungarin.“

„Mag sein. Aber jeder nannte sie doch Die Ungarin.“

„Und dann?“

„Kamen noch ein paar andere Leute. Auch der Verehrer, den sich Filo immer hielt. Stand draußen am Fenster, hat reingeguckt und getrunken. Seltsam, dass Filo sich immer Trinker hält. Und dann kam Agathe reingehüpft, mit einem kurzen schwarzen Kleidchen und einem Stirntuch in den Haaren.“

„Das ist kein Traum – das war so! Agathe kam zur Tür herein, total aufgedreht, und ist über den von Auguste Gundula bedienten Staubsauger gefallen. Ich saß in einem der grünen Sessel, und sie ist quasi direkt in meinen Schoß gefallen. Damals haben wir uns das erste Mal gesehen. Ich erinnere mich genau. Du warst übrigens nicht auf der Party, hast komisch rumgedruckst. Wolltest wohl Auguste Gundula nicht treffen.“

„Auguste Gundula – was macht die eigentlich?“

„Hat einen rechten Spießer geheiratet, hat mit ihm zwei Kinder und lebt im Reihenhaus im Umland, das sie schön sauber hält. Ein perfektes Paar sozusagen.“

„Ein perfektes Paar? So wie Filo und Bene? Ich will nichts mehr hören von perfekten Paaren!“

„Bist ja bloß neidisch, dass du nicht Teil eines perfekten Paares bist!“

„Ja, wahrscheinlich. Und du und Agathe? Seid ihr auch so ein perfektes Paar?“

„Agathe und ich? Wir sind ziemlich unperfekt. Haben kein Bedürfnis zusammenzuziehen wie es die bürgerliche Konvention für perfekte Paare vorschreibt. Freuen uns jedesmal, wenn wir uns sehen. Wahnsinn eigentlich, dass sie mir damals so in den Schoß gefallen ist. Ich habe das Gefühl, wir sind auf einer Reise, von der wir nicht wissen, wo sie uns hinführt und auf der wir uns immer wieder begegnen. Das ist schön.“

„Eine Frage: War eigentlich die Blondine damals auf der Party, in die ich so verknallt war? Und trug sie einen bunten blumigen Hosenanzug?“

„Daher weht der Wind. Deshalb der Traum. Ich weiß nicht mehr, ob sie da war. Kann schon sein. – Und selbst wenn ich es wüsste: Ich würde es dir nicht sagen. Wärst du damals einfach gekommen, dann müsstest du nach so langer Zeit nicht mehr von ihr träumen! Sondern würdest auf deiner Lebensreise vielleicht von ihr begleitet werden. Oder auch nicht. Jedenfalls würdest du nicht mehr in Sehnsucht nach ihr zergehen und von der perfekten Beziehung träumen.“

Perfekte Paare: Der Traum in Bildern

 

Huckleberry und Klause

Ich bin Künstler und Psychologe, sagt Uteto Fritz, aber ich bezeichne mich selbst gerne als Sprachenergetiker. Neulich bin ich in meinem sprachenergetischen Tun wieder einmal mit der Liebe in Berührung gekommen, als ich Huckleberry und Klause kennenlernte, ein junges Paar, das eigentlich sehr glücklich miteinander ist.

Ihr seht sehr glücklich aus, sagte ich zu ihnen, sagt Uteto Fritz, woraufhin Klause meinte:

Sind wir auch. Aber wir trauen diesem Glück nicht.

Klause – ein sehr ungewöhnlicher Vorname für eine Frau, sagte ich.

Da fängt das Unglück schon an, sagte Klause, bei meinem Vornamen.

Wieso?

Ich habe vier ältere Schwestern, wir sind also fünf Schwestern. Meine Eltern wollten eigentlich nur zwei Kinder. Mein Vater wollte aber unbedingt einen Sohn, sodass sie weitergemacht haben mit dem Kinderkriegen nach der Geburt meiner zweitältesten Schwester, bis endlich ein Sohn auf die Welt kommen würde. Als ich auf die Welt kam, als fünftes Mädchen, sagte meine Mutter zu meinem Vater: „Klaus, ich mag nicht mehr! Fünf Kinder sind genug, auch wenn kein Junge dabei ist. Ich habe einen Vorschlag: Lass uns unsere Jüngste doch Klause nennen, so wie Simon und Petra eines ihrer Mädchen Simone genannt haben. So hat sie wenigstens deinen väterlichen Namen.“

Kurz überlegte mein Vater, ob er meine Mutter verlassen und mit einer anderen Frau mit dem Kinderkriegen weitermachen sollte, bis ein Sohn dabei herausspringt, doch dann entschied er sich, bei meiner Mutter zu bleiben und stimmte beidem zu: nämlich es bei fünf Kindern zu belassen und mich Klause zu nennen.

Erstaunlich, wie leicht Ihren Eltern das Kinderkriegen fiel, sagte ich. Sie wirken auf mich in Ihrer Erzählung, trotz der Sohn-Problematik, wie ein verständnisvolles und zufriedenes Paar. Was macht nun Sie als Tochter dabei so unglücklich?

Ich weiß nicht, sagte Klause. Ich fühle mich einfach unglücklich. Ich suchte mein Unglück in meinem Namen. Eine Psychologin meinte, Klause bedeutet Enge – ob es denn bei meiner Geburt recht eng zugegangen sei? Ich fragte meine Mutter, sagte Klause, und sie meinte: „Nein, wieso denn? Da kamen doch vorher schon vier andere raus.“ Ein anderer Psychologe meinte, Klause ist ein altes Wort für Einsiedelei – ob denn Einsamkeit eine große Rolle spielt in meinem Leben? Nein, sagte ich, ich bin mit vier älteren Geschwistern aufgewachsen, die jung genug waren, um Spielgefährten zu sein, sagte Klause, als sich plötzlich Huckleberry zu Wort meldete und meinte, in seinem Leben spiele sie dafür eine große Rolle, die Einsamkeit.

Sind Sie Einzelkind? fragte ich.

Ja, sagte Huckleberry, ich bin Sohn einer Amerikanerin und eines Deutschen. Um ihr Heimweh zu lindern, wollte mir meine Mutter einen amerikanischen Namen geben. Mein Vater, Horst Hackl sein Name, gestand meiner Mutter das zu.

Sie heißen also Huckleberry Hackl?

Ja. Allein schon wegen meinem Namen zum Außenseiter erkoren.

Ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte, sagt Uteto Fritz, also ließ ich der Stille ihren Raum. Das junge Paar, so mein Eindruck, war bedrückt von der Stille. Huckleberry wechselte von einer Verlegenheitsgeste in die andere, während Klause mich erwartungsvoll ansah, auf dass ich endlich die Stille beende. Ich dachte jedoch nicht daran, im Gegenteil – ich fand die Stille sehr wohltuend, bis es schließlich aus Klause herausplatzte: „Und das Schlimmste ist: Ich bin schwanger. Stellen Sie sich vor, es wird ein Junge – sollen wir ihm wieder einen amerikanischen Namen geben Huckleberrys Mutter zuliebe, obwohl Huckleberry ihm so gerne einen deutschen Namen geben würde? Oder es wird ein Mädchen! Meine Schwestern haben noch keine Kinder. Können wir meinem Vater das antun, dass sein erster Enkel wieder ein Mädchen wird?“

Für einen Moment dachte ich, nun sollte wieder Stille einkehren, sagt Uteto Fritz, doch dann ergriff ich selbst das Wort und sagte: Das Schöne ist, dass Sie beide, Huckleberry und Klause, sich lieben. Es ist was es ist, sagt die Liebe, sagt Erich Fried in seinem berühmten Gedicht. Und das ist doch, was zählt.

Ja, aber.., sagte Klause, und ich fuhr streng dazwischen und sagte: Ich möchte, dass ihr jetzt für fünf Minuten still seid! Kein Wort!

Klause sah mich entgeistert an, während Huckleberrys Gesichtsausdruck eine Mischung aus Skepsis und Erleichterung war.

Da saßen wir nun zu dritt in der Stille. Nach etwa drei Minuten fing Klause zu weinen an, und mit kurzer Verzögerung weinte auch Huckleberry. Was raus muss muss raus, dachte ich mir, sagt Uteto Fritz. Endlich kommt es raus! Dann legte ich Matten auf den Boden, wir legten uns auf sie und lagen über eine halbe Stunde schweigend da. Als wir uns verabschiedeten, urarmten mich Huckleberry und Klause lang und innig. Ich glaube, ich habe Liebe gespürt, sagt Uteto Fritz.