Alle Beiträge von EmilHinterstoisser

Kalt um klar zu sehen

Der Asphalt war aufgeheizt von der Sonne, als die Sohlen meiner Schuhe ihn berührten. Ich hatte ein Bedürfnis zu spüren, doch es war ein unerträglicher Gedanke, die Schuhe auszuziehen und mit meinen nackten Füße den heißen Asphalt zu spüren. Ich spürte meine Füße, die in Socken und Schuhen schwitzten. Ich betrat das Gebäude, dessen klimatisierte Kühle mich spüren ließ, dass ich auch in Hose und Hemd schwitzte.

Eine feuchte Wiese im Morgentau, ein kühles Bad im kalten Bach, davon träumte ich, als ich das Büro betrat, um meiner Arbeit nachzugehen:

Ich bin tief unten

Ich bin tief unten. Das kann ich jetzt sagen, weil ich zwischenzeitlich weit oben war. Lange war ich nur tief unten. Es gab kein Unten und kein Oben. Unten war normal. Unten schob ich ein schweres Bassin, das randvoll mit Wasser gefüllt war. Alle anderen, zumindest die, die ich kannte, schoben auch ein Bassin. Jeder hatte sein Bassin, das randvoll mit Wasser gefüllt war. Wir mussten aufpassen, nicht mit den schweren, wassergefüllten Bassins aneinanderzustoßen oder zwischen ihnen zerquetscht zu werden. Solche Zerquetschungen kamen oft vor, die nicht selten tödlich endeten.

Als ich Zeuge einer solchen tödliche Zerquetschung wurde, verweigerte ich, mein wassergefüllte Bassin weiter herumzuschieben, woraufhin große Aufregung herrschte. Das sei doch nicht normal, war die einhellige Meinung, dass einer sein wassergefülltes Bassin nicht mehr herumschieben will. Das machen doch alle. Meine Eltern, für die das Herumschieben des wassergefüllten Bassins eine furchtbare Plackerei war, die es aber trotzdem widerstandslos taten, machten sich große Sorgen um mich, und sie sorgten dafür, dass ich in psychiatrische Behandlung komme, um meine Verweigerung, mein wassergefülltes Bassin herumzuschieben, aufzugeben.

In die Psychiatrie musste und durfte ich mein wasserbefülltes Bassin nicht mitnehmen. Das schoben derweil meine Eltern zusätzlich hin und her, um es mir nach meiner Rückkehr wieder zu übergeben. Denn es war wichtig, scheinbar überlebenswichtig, sein Bassin nicht zu verlieren. Ohne Bassin war man nichts. Tatsächlich fehlte mir mein Bassin in der Psychiatrie. Ich saß buchstäblich auf dem Trockenen. Nach längerem Nachdenken bemerkte ich, dass mir nicht das Bassin mit seinen harten Wänden, sondern das Wasser darin fehlte. Mir fehlte das Wasser so sehr, dass ich mich nachts aus der Psychiatrie zu meinem Bassin schlich. Ich wollte unbedingt ins Wasser, obwohl ich nicht schwimmen konnte. Ich versuchte, die Außenwand des Bassins hochzuklettern, rutschte aber immer wieder ab. Plötzlich aber zog es mich nach oben, und von oben plumpste ich ins Wasser. Die Wände des Bassins waren verschwunden. Ich konnte nicht sagen, wo oben und unten ist. Es war auch nicht wichtig. Ich sah nur mehr Wasser um mich. Ich patschte unbeholfen im Wasser herum. Ich war nicht gewohnt, mich im Wasser zu bewegen, ich war nur gewohnt, es im Bassin herumzuschieben. Ich hatte Panik unterzugehen und zu ertrinken, doch dann bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass ich getragen wurde.

Ehe ich das Getragenwerden genießen kann, finde ich mich wieder in der Psychiatrie. Mir wird gesagt: Das Untensein ist der Normalzustand. Schlag dir das Oben aus dem Kopf. Oben gibt es nicht.

Eine taube Taube, oder: Ein Taubenmännchen ist kein Tauber, sondern ein Täuberich

eine Geschlechterdiskussion

Mit dem Läuten kam ich ins Klassenzimmer, gerade noch vor dem LehrerIn, und stürmte zu meinem Platz. Ich war noch beim Auspacken der Schreibsachen, als das LehrerIn überraschend eine Schularbeit ansagte: Wir sollen aufschreiben, was wir heute Morgen auf dem Schulweg erlebt haben.

Diese Schularbeit kam mir sehr gelegen, hatte ich doch heute Morgen auf dem Schulweg etwas erlebt, das mich sehr beschäftigte. Doch als ich nun auf meiner Schulbank saß und sich mein Herzschlag allmählich beruhigte, wusste ich nicht, was ich auf das weiße Blatt Papier schreiben sollte, um mein Erlebnis zu beschreiben. Zögernd nahm ich den Stift in die Hand und schrieb:

Eine taube Taube

Ja, die Taube war reglos auf der Straße gesessen. Ich hatte mit der Fahrradklingel geklingelt und mit meiner Stimme gerufen, Flieg weg Taube! hatte ich gerufen, aber sie hörte nicht und blieb reglos sitzen. Es war eine taube Taube. Ich hatte gerade noch rechtzeitig gebremst, um sie nicht zu überfahren.

Ich hatte die taube Taube vor Augen, als ich mit dem Stift in der Hand auf der Schulbank saß. Ich sah, wie mich die taube Taube angesehen hatte, und plötzlich wurde mir klar, dass die taube Taube kein Weibchen, sondern ein Männchen gewesen sein muss. Ich strich Eine taube Taube durch und schrieb daneben: Ein tauber Tauber. In diesem Moment kam das LehrerIn an mir vorbei und schaute mir über die Schulter. Das LehrerIn sagte:
Nein, Emil, das macht keinen Sinn. Ein tauber Tauber – das ist eine Tautologie!
Ich hatte das Wort Tautologie noch nie gehört gehabt und verstand statt Tautologie Taubologie. Ich dachte: Natürlich macht das Sinn – es geht um Tauben, also ist es Taubologie, und schüttelte innerlich den Kopf über den Unsinn, den das LehrerIn da sagte. Ich wurde jedoch unsicher, ob es wirklich ein Taubenmännchen gewesen war, das da taub auf der Straße gesessen war. Ich war mir plötzlich sicher, dass es doch ein Taubenweibchen gewesen sein muss. Also strich ich Ein tauber Tauber wieder durch und schrieb daneben: Eine taube Taube.
Das LehrerIn stand noch immer neben mir und sagte:
Das ist derselbe Unsinn! Es ist doch klar, dass eine Taube genauso taub ist wie ein Tauber!
Ich glaube aber, es war eine Taube und kein Tauber, entgegnete ich.
Das ist nicht wichtig! meinte das LehrerIn jetzt ungehalten, ob es ein Tauber oder eine Taube war. Beide sind taub.
Nein. Es war nur eine Taube taub. Ich habe nur eine gesehen, und die war wie gesagt eine Taube und kein Tauber.
Dann schreib bitte: Eine Taube.
Aber es war doch eine taube Taube…

Das LehrerIn schaute mich streng an und ging wortlos weiter, sodass ich mich wieder auf die Nacherzählung meines morgendlichen Erlebnisses auf dem Schulweg konzentrieren konnte. Ich blieb jedoch wieder bei der Frage stecken, ob es sich um ein Taubenmännchen oder um ein Taubenweibchen gehandelt hat, das ich taub auf der Straße sitzen gesehen hatte, und nun erschien es mir wieder richtiger, dass es ein Männchen gewesen war. Ich strich also Eine taube Taube durch und schrieb – nein, ich schrieb nicht, ich stockte, denn plötzlich fiel mir Entscheidendes ein:

Ohne zu zögern, der Dringlichkeit entsprechend, rief ich laut: Divers LehrerIn, ich weiß jetzt, wo der Fehler liegt – ein Taubenmännchen ist kein Tauber, sondern ein Täuberich!

Zum Tod von Milan Kundera

Ich ging zum Bücherregal und betrachtete die Rücken seiner Bücher. Ich wollte alle lesen und nahm keines in die Hand.

Stattdessen las ich wieder und wieder: Am Dienstag, dem 11. Juli, ist Milan Kundera in Paris gestorben. Das ist an sich keine Nachricht. Ich habe Milan Kundera nicht gekannt und Milan Kundera wollte nicht gekannt werden. Der Romancier ist im Hintergrund.

Seine Bücher sind tiefer Hintergrund. Vielleicht ist sein Tod deshalb so ein stiller, weil der aktuelle Zeitgeist nur den Vordergrund kennt.

 

Frank an den Furten

Er war Frank
ging mit Ochsen und Schwein
durch das Land
und war voller Hass.
Den Fluss überquerte er
an einer seichten Stelle,
an einer Furt.
Dort ließ er die Ochsen.
An der nächsten Furt
ließ er das Schwein.
Nun war er allein
mit dem Hass
doch auch den
ließ er zurück
an der nächsten Furt.
Auch Frank
wollte er nicht mehr heißen
und ließ diesen Namen
an der nächsten Furt.
Als er zur nächsten Furt kam
war er nur mehr er.
Er brauchte nicht mehr.

Heute erinnern die Städte Ochsenfurt, Schweinfurt, Haßfurt, Frankfurt und Erfurt an ihn.

Gedanken los

Die

B u c h s t a b e n

stehen vor mir wie Zeichen, die keinen Sinn ergeben. Abstrakt, also sich nur im Gedanklichen, Theoretischen bewegend und keinen unmittelbar feststellbaren Bezug zur Wirklichkeit habend, ist der letzte Sinn, den ich in ihnen erkennen kann. Mein Leben, so wie ich es bisher kenne, entschwindet mit dem entschwindenden Sinn der Buchstaben.

Du sitzt neben mir, das kommt mir fast wie ein Wunder vor, nach allem, was geschehen ist. Es ist ein Wunder, dass wir beide auf dieser Bank sitzen. Auf einer Bank, nicht auf zwei Stühlen, nein, auf einer Bank. Dein Körper und meiner auf einer Bank sitzend, dieser Zustand beruhigt mich, nein: Er beruhigt mich nicht, denn Beruhigen ist ein zu abstraktes Wort, viel zu abstrakt, wenn ich an unser konkretes Sitzen auf einer Bank denke. Ich will überhaupt nicht denken – weder abstrakt noch konkret -, wenn es um dich geht und um mich, deshalb will ich auch nicht schreiben, denn Schreiben ist Denken.

Jetzt rieche ich dich, ich rieche dich wie du neben mir auf einer Bank sitzt, dein Geruch dringt in meine Nase und lässt mich hinüberkippen, zunächst glaube ich, zu dir hinüberzukippen, ich glaube, die Bank sei plötzlich schief und lässt mich zu dir hinüberkippen, doch das ist eine falsche Wahrnehmung und folgich eine unzureichende Darstellung des Ereignisses, die Bank ist nach wie vor gerade, zumindest nach menschlichen Maßstäben, bin etwa nicht ich hinüber-, sondern du herübergekippt, viel zu viele Gedanken, die sich im Moment ihres Denkens als überflüssig erweisen, finden wir uns doch plötzlich in einem weichen Bett wieder, es ist anzunehmen, dass wir in es hineingekippt sind, ich spüre deine weiche Haut auf meiner, unsere Bewegungen machen es mir unmöglich, weiter zu schreiben, m e i n     K    o    p    f         l   ä       s       s      t     d        i         e                           G                      e          d                a         n   k     e

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