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Gelzer und Gürzer und das verlorene Geld

Was bisher geschah: Gelzer und Gürzer Teil 1

Gelzer fährt mit seinem Auto von Weichering nach Wasserburg zu Gürzer. Die letzten Meter der Hofeinfahrt rollt er ohne Motor, denn das Benzin ist ihm ausgegangen.

„Ich habe deinen Besuch nicht erwartet. Was ist passiert? Bringst du mir mein Geld in bar, anstatt es mir zu überweisen?“ begrüßt Gürzer Gelzer.

„Ich habe das ganze Geld verloren.“

„Wie bitte? Du hast dreißig Millionen Euro verloren?“

„Ja.“

„Wie konntest du dreißig Millionen Euro verlieren? Ich kann mir darunter nichts vorstellen. Geld war für mich bisher immer einfach da. Wie die Nahrung für ein Tier, das durch die Gegend streunt und sie immer in Überfülle findet. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, woher das Geld kommt und wohin es geht.“

„Ich habe in hochspekulative Wettgeschäfte an der Börse investiert.“

„Du solltest mein Geld doch bloß verwalten und es nicht für hochspekulative Wettgeschäfte verwenden.“

„Verwalten. Was heißt verwalten! Geld muss sich vermehren, damit es sich lohnt!“

„Wieso müssen dreißig Millionen Euro sich vermehren? Wir haben vereinbart, dass du mir dreitausend Euro pro Monat bis an mein Lebensende bezahlst. Erst nach hunderten von Jahren wäre dir das Geld ausgegangen. Es wäre also genug für dich übrig geblieben. Wieso wolltest du es vermehren?“

„Geld verliert seinen Wert. Also muss es mehr werden, sonst steht man plötzlich ohne Geld da.“

„Ohne Geld stehst du auch jetzt da. Und ich mit dir. Doch ohne Geld geht es nicht, Gelzer. Wir müssen von irgendwoher Geld beschaffen. – Vielleicht gibt es ja jemanden, der uns Geld gibt, so wie ich dir dreißig Millionen Euro gegeben habe.“

„Es wird uns nicht irgendjemand Geld geben.“

„Ich habe es dir doch auch gegeben.“

„Ja, du hast es mir gegeben. Weil du mich kennst. Und weil du ein merkwürdiger und komischer Mensch bist.“

„Wirf mir nicht vor, dass ich dir das Geld gegeben habe. Du hast es schließlich gern genommen! – Ich kann nicht glauben, dass ich der einzige Mensch bin, der Geld besaß und keine Probleme damit hatte, es mit anderen zu teilen.“

„Vergiss das Gürzer! Es wird uns niemand einfach so Geld geben. Geld muss man sich verdienen, redlich verdienen.“

Redlich verdienen – was ist das denn für ein Ausdruck? Irgendjemand wird jetzt deine dreißig Millionen Euro haben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er oder sie sie redlich verdient hat.“

Gelzer macht ein betroffenes Gesicht, und Gürzer spricht weiter:

„Ich habe soeben beschlossen, dass ich niemanden suchen werde, der uns Geld gibt, denn du hast es verloren. Ich habe dir mein Geld gegeben, weil ich leben wollte wie ein Tier, ohne auf das Geld zu verzichten. Wenn ich es mir jetzt überlege, habe ich auch schon gelebt wie ein Tier, bevor ich dir das Geld gegeben habe. Zumindest was das Geld betrifft. Ich bin herumgestreunt und habe mir das Geld gepflückt wie ich es brauchte. Jetzt bin ich wie ein Tier, dass keine Nahrung mehr findet. Die überreiche Quelle ist plötzlich weg.“

„Ich könnte für dich arbeiten, da ich dir kein Geld mehr geben kann“, unternahm Gelzer einen zaghaften Lösungsversuch.

„Wie der Gast im Restaurant, der nicht bezahlen kann und dafür die Teller wäscht? Ich habe aber kein Restaurant, Gelzer. Überhaupt habe ich nie einen rechten Zusammenhang zwischen Geld und Arbeit gesehen. Sind die Banker und Kaufleute der Renaissance durch harte Arbeit zu ihrem Geld gekommen? Sind die Industriepioniere durch harte Arbeit zu ihrem Geld gekommen? Haben die eigentliche Arbeit nicht andere gemacht? Vielleicht ist es zwischendurch mal besser geworden, das Verhältnis zwischen Arbeit und Geld meine ich, aber jetzt scheint es sich wieder dahin zu entwickeln, wo wir einmal waren.

Was ist überhaupt Arbeit? Ich meine Arbeit, für die man Geld kriegt. Neulich hat man mir von einem Unternehmen erzählt, dass seine Mitarbeiter für Dampfplauderei entlohnt. Um sich das leisten zu können, müssen die, die bisher die sonstige Arbeit neben der Dampfplauderei erledigten, das Unternehmen verlassen. Die sonstige Arbeit wird jetzt in Ungarn verrichtet, weil man Ungarn weniger Geld zahlen muss als Deutschen. Ich könnte dich als Dampfplauderer anstellen, Gelzer, aber ich kann mir das nicht leisten. Wer macht die sonstige Arbeit, die uns leben lässt?“

Gelzer macht wieder ein betroffenes Gesicht, sodass Gürzer weiterspricht:

„Meine Väter und Großväter hatten nicht nur dieses Haus, in dem wir jetzt sind, sondern sie hatten viel Grund und Boden rundherum. Äcker und Wiesen und Wälder. Ich habe all diesen Grund und Boden verkauft. Es erschien mir praktischer, das Geld dafür zu haben. Mit Geld kann man alles kaufen was man will. Grund und Boden aber muss man bewirtschaften, bevor man etwas dafür erhält. Jetzt, ohne Geld, wäre es gut, wenn ich diesen Grund und Boden noch hätte, Gelzer. Ich könnte dich für mich arbeiten lassen. Du könntest Getreide, Obst und Gemüse anbauen, du könntest ein paar Tiere halten. Aber ich habe diesen Grund und Boden nicht mehr. Der Garten des Hauses ist zu klein für so eine Wirtschaft. Da kommen wir nicht weit.“

Gelzer hat sich neben Gürzer gesetzt und ihm wird immer betrüblicher darüber, dass er das ganze Geld verloren hat. Was soll man machen in dieser Welt, ohne Geld? Selbst wenn Gürzer noch Grund und Boden hätte – wie soll er damit Benzin erzeugen für die Rückfahrt nach Weichering?

Der Pianwar

ein Gedicht nach Eugen Roth:

Ein Mensch war immer Pianist,
doch weil er jetzt gestorben ist,
trägt man dem Rechnung: Lapidar
nennt man ihn nun den Pianwar.

 

 

Symmetrisches Gedicht mit tragischer Achse

Ein Mensch der sehr viel Pipi macht
und dabei immer herzhaft lacht,
ist leider tot seit gestern Nacht.
Der Mensch der immer herzhaft lacht,
seit gestern nicht mehr Pipi macht.

Agathe ohne Fenster

„Vor Monaten wollte ich dir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen (Agathe und das Fenster). Doch dann habe ich dir die Geschichte von Josefine und den Türen erzählt.“

„Ich glaube, du hast mir die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählt. Ich kann mich aber nicht mehr an sie erinnern. Erzähl sie mir nochmal!“

„Die Geschichte ist schnell erzählt: Agathe steht an ihrem Fenster, während ich ins Freie eines schönen Tages laufe, über grüne Wiesen und durch bunte Wälder. Doch Agathe, anstatt mitzukommen, schließt das Fenster hinter mir.“

„Das ist eine schöne und eine traurige Geschichte.“

„Findest du? Es ist eine eingebildete Geschichte. Denn Agathe ist nie am Fenster gestanden als ich von ihr ging und schon gar nicht hat sie es zugemacht. Ich bilde mir das nur ein.“

„Vielleicht willst du es dir einbilden. Steht das Fenster für etwas, das du zwischen Agathe und dich schiebst, damit es euch trennt?“

„Wieso sollte ich wollen, dass uns etwas trennt?“

„Keine Ahnung. Ich suche nach Gründen, warum du mir seit Monaten die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen willst.“

„Gründe! Es gibt so viele Gründe, unendlich viele. Die ich noch nicht betreten habe.“

„Leg deine Scheu ab, diese Gründe zu betreten. Denk dir Agathe ohne das Fenster, ohne irgendetwas, das euch trennt.“

„Agathe ohne irgendetwas. Das ist gut. Das gefällt mir. Ich glaube, ich dringe zu den wahren Gründen meines Daseins vor.“

Angewandte Gewalt- und Sexualkunde

Ich stehe am Fenster und betrachte die sternenklare Sommernacht, aus der Josefine und ich soeben nachhause geradelt sind. Gegenüber sehe ich erleuchtete Fenster von zwei verschiedenen Wohnungen. An einem Fenster sehe ich einen Mann, der mit einem länglichen Gegenstand hantiert. Der längliche Gegenstand sieht aus wie ein Gewehr. Das andere erleuchtete Fenster ist offen. Ich sehe eine Frau und einen Mann, beide nackt, die verschränkt auf einer Couch sitzen. Sie lieben sich in rhythmischen Bewegungen. Ein schönes Bild, wie eine Skulptur von Rodin, nur schöner, weil echt. Die beiden sehen mich am Fenster stehen und machen umgehend das Licht aus. Bald danach schließen sie ihr Fenster. Sollen sie sich nun als Exhibitionisten fühlen oder ich mich als Voyeur? Oder sowohl als auch oder weder noch? Ich denke an Jochen Distelmeyer, der sagt: Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg. Dieser Satz hat für mich seine Berechtigung, denn ein geschlossener Raum ist so etwas wie eine moderne Höhle. In eine Höhle zieht man sich zurück, um zu ruhen. Man ist sozusagen eine Weile tot für die Umwelt, um dann ausgeruht wieder ins Leben zu treten. Meine vögelnden Nachbarn im Licht, bei offenem Fenster: ein Bild voller Leben. Doch als ich an diesem Leben teilgenommen habe, haben sie sich schnell tot gemacht. Der andere Nachbar hat mittlerweile sein Fenster geöffnet und hantiert noch immer mit dem länglichen Gegenstand.

Als Kind war ich oft in einer christlichen Osternachtfeier. Jedesmal kam die Geschichte von den Israeliten, für die Gott das Meer teilt, und von den Ägyptern, die den Israeliten in das geteilte Meer nachreiten. Als die Israeliten am anderen Ufer sind, beschließt Gott, das Meer wieder zu schließen. Die Ägypter ertrinken qualvoll. Ich litt jedesmal fürchterlich mit den Ägyptern, während der Priester nach dieser Geschichte ein Loblied auf Gott anstimmte, weil er die Israeliten gerettet hat, und die Mehrheit der Kirchenbesucher sang fleißig mit. Wie schafften die das, kein Mitleid mit den ertrunkenen Ägyptern zu haben? Jedes Jahr hoffte ich, dass die Ägypter es diesmal durch das Meer schaffen würden. (Und danach vielleicht gemeinsam mit den Israeliten zur Einsicht kommen, dass es gar nicht notwendig ist, sich gegenseitig niederzumetzeln.) Doch jedesmal kamen sie wieder erbärmlich in den Fluten um, woraufhin jedesmal ein Lob auf Gott angestimmt wurde, was ich jedes Jahr aufs Neue entsetzlich fand. Ich verstand und verstehe bis heute nicht, wie man diesen grausamen und parteiischen Gott loben kann.

Später zerrten mich meine Kumpels in allerlei Gewaltfilme ins Kino. Das Geschieße und Gemetzel war jedesmal eine Qual für mich. Beim Film Stirb langsam (Die Hard) fand ich es so qualvoll, dass ich vor Übelkeit den Saal vorzeitig verließ und mich auf der Toilette übergab. Statt mich der Gewalt weiter zuzuwenden, habe ich schon früh eine Leidenschaft für nackte Körper entwickelt, bevorzugt für weibliche nackte Körper oder für nackte Frauen und Männer, die aus Leidenschaft übereinander herfallen. So wie meine Nachbarn. Doch es war viel schwieriger, vor allem als ich noch nicht achtzehn Jahre alt war, in Filme zu kommen, in denen nackte Körper gezeigt werden als in Filme, in denen rohe Gewalt gezeigt wird. So ging ich, aus Vereinfachungsgründen, weiterhin mit meinen Kumpels in Gewaltfilme. Während meine Kumpels sich oft langweilten, weil ihnen die Gewalt zu harmlos und zu wenig spektakulär war, litt ich mit jeder Leiche Qualen, deren Blut durch die Luft spritzte.

Während des Studiums wohnte ich mit einem zusammen, der hatte ein Computerspiel programmiert, bei dem man Zivilisationen entwickelt. Ich hatte Holzhütten mit Strohdächern, Gemüse- und Obstgärten. Ab und zu wurde Vieh geschlachtet. Gevögelt wurde nicht in diesem Spiel. Ich fragte meinen Wohnungskollegen, wie sich eine Zivilisation entwickeln soll, wenn nicht gevögelt wird? Er sagte, ich solle nicht solche dummen Fragen stellen. Gevögelt würde immer, darüber redet man nicht. Noch während ich über seine Antwort nachdachte, wurde ich von Feinden überfallen, die bereits moderne Schussfeuerwaffen entwickelt hatten. Meine Zivilisation war im Nu vernichtet.

Ich höre Josefine im Bad. Ich gehe vom Fenster weg und setze mich ins Bett. Ich mache den Fernseher an und sehe folgende Szene aus einer amerikanischen Serie: Eine Frau wird gefoltert und ermordet. Anschließend wird ihr eine Brust abgeschnitten und ihrem Freund geschickt. Als der Freund das Paket auspackt und mit Entsetzen dessen Inhalt sieht, kann der Zuschauer beruhigt sein, denn die Szene wird so gezeigt, dass man die Brustwarze nicht sieht. Mir wird aber leider wieder mal übel als ich das sehe, und als ich über der Kloschüssel hänge, denke ich: Einer Frau die Brust abzuschneiden ist in Ordnung, ihre Brustwarzen zu sehen aber auf keinen Fall. Ich verstehe das nicht, habe aber gleichzeitig das Gefühl, einer kleinen Minderheit von Verständnislosen anzugehören.

Als ich mich einigermaßen erholt habe, gehe ich zurück und setze mich wieder ins Bett. Josefine kommt ins Zimmer und zieht den Vorhang zu. Mach den Vorhang wieder auf und das Licht an! sage ich. Ich will, dass wir uns in einem hell erleuchteten, gut durchlüfteten Raum lieben und nicht in einem Sarg. Oder sind wir dann Exhibitionisten oder der Nachbar der uns vielleicht beobachtet ein Voyeur oder sowohl als auch oder weder noch? Der Nachbar sieht sich am Computer freiwillig einen Porno an und wenn er uns ansieht erregen wir öffentliches Ärgernis. Ich verstehe das nicht. Apropos Porno: In Zeiten des Internets ist es nun einfacher, nackte Körper zu sehen und ich muss, weil ich mittlerweile auch über achtzehn bin, nicht mehr aus Vereinfachungsgründen Gewaltfilme ansehen. Aber die meisten Pornos sind schlecht: Die Männer wirken oft so verkrampft, dass sie vorher wahrscheinlich fünf Viagra genommen haben für ihren Dauerständer und bei den Frauen quillt oft nicht nur hinten, sondern auch vorne die Gleitcreme raus. Doch selbst wenn Pornodarsteller Spaß miteinander haben, ist es ein schräger Beruf, sich beim Sex filmen zu lassen, während Josefine und ich, wenn wir beim Sex das Fenster offen und das Licht an lassen, riskieren, öffentliches Ärgernis zu erregen.

Josefine steht am Fenster und sieht zum Nachbar hinüber. Du, sag mal, fragt sie mich, hat sich der ein Gewehr gekauft? Ja, sage ich, und vielleicht schießt er gleich herüber und dir deine Brüste vom Leib. Doch das ist nicht weiter schlimm, solange deine Nippel durch den Treffer unkenntlich werden. Wenn er sie nicht richtig trifft, müssen wir die Szene wohl zensieren.

Du siehst zuviel fern, sagt Josefine, und kommt zu mir ins Bett.

Akazien in Kroazien

Ich sitze an meinem Schreibtisch vor einem Blatt Papier, um eine Geschichte zu Papier zu bringen. Plötzlich stürmt Vorderbrandner zur Tür herein.

„Deine Geschichte von letzter Woche. Sie lässt mich nicht in Ruhe!“

„Die Geschichte von Isaria Esel, meiner ersten großen Liebe?“ Ich komme ins Träumen.

„Neinnein, deine Eselin mit ihrem komischen Namen ist mir egal. Es ist der Perserkönig Serse unter der Platane, der mich nicht in Ruhe lässt. Wie schön er doch den Schatten des Baumes besingt!“

„Der Perserkönig Serse? Das ist ein Spinner! Der besingt den Schatten einer Platane wie eine Frau, in die er sich unsterblich verliebt hat.“

„Das ist es, ja. Wie eine Frau, in die er sich unsterblich verliebt hat. Ich habe letzten Sommer, in den milden frühen Abendstunden eines heißen Tages, mit Agathe im zarten Licht unter dem Schatten einer Akazie gesessen. Ich hatte das schon vergessen, doch als ich deine Geschichte gelesen habe, habe ich bemerkt, dass ich mich an diesem Abend unsterblich in Agathe verliebt habe. Ich denke ständig daran, wie ich mit ihr unter der Akazie gesessen habe. Ich singe ständig die Arie des Serse: Nie ist der Schatten einer Pflanze lieblicher, angenehmer und süßer, als wenn ich mit dir, Agathe, daruntersitze.“

Betretenes Schweigen meinerseits. Die Leidenschaft Vorderbrandners für Akazien-Agathe schlägt die meine für Esel-Isaria um Längen. Ich schaue auf das Blatt vor mir mit der angefangenen Geschichte.

„Schreib schnell eine neue Geschichte, damit ich Agathe vergessen kann!“ sagt Vorderbrandner. „Ich kann doch Agathe jetzt nicht anrufen und sagen: Vor ein paar Monaten, unter der Akazie, da habe ich mich unsterblich in dich verliebt. Ich hatte es vergessen, doch jetzt ist es mir wieder eingefallen.“

„Ich weiß nicht, ob dir meine neue Geschichte beim Vergessen hilft. Denn sie hat den Titel Akazien in Kroazien. Wobei ich mit dem Titel große Schwierigkeiten habe, denn Kroatien schreibt man nicht mit z. Also wollte ich die Geschichte Akatien in Kroatien nennen, aber das gefällt mir nicht, denn dann habe ich zwei Wörter im Titel, die man nicht so spricht wie man sie schreibt. Es bliebe die Variante, die Geschichte Akazien in Kroatien zu nennen, doch dann habe ich zwei Wörter im Titel, die man gleich ausspricht, aber unterschiedlich schreibt.“

„Akazien in Kroazien!“ ruft Vorderbrandner und stürmt zur Tür hinaus. „Agathe, lass uns reisen, zu den Akazien in Kroazien!“ höre ich ihn im Gang noch singen.

Ich sitze vor dem Blatt Papier und habe keine Ahnung, wie ich meine Geschichte mit den Akazien fortsetze. Ich habe das Gefühl, Vorderbrandner und ich haben heute aneinander vorbeigeredet.

 

Isaria Esel

Meine erste Freundin hieß Isaria Esel. Ja, so hieß sie. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir beide acht Jahre alt, als wir uns das erste Mal küssten. Ich fand es lustig, dass Isaria mit Nachnamen Esel heißt, noch dazu, wo in ihrem Vornamen zweimal die Vokale i und a enthalten sind und das in dieser Reihenfolge. Passend für einen Esel ein: ia ia.

Ihr Vorname endet außerdem mit aria, was mich immer an große Musik denken lässt, zum Beispiel an die Arie Ombra mai fu aus der Oper Serse von Georg Friedrich Händel. Mit dieser Arie preist der Perserkönig Serse den Schatten einer Platane. Ich bin mit Isaria zwar nicht unter Platanen gesessen, aber oft unter den Buchen auf unserem Schulweg.

Als ich eines Tages bemerkte, dass Esel sich rückwärts Lese liest, hat mich das der Literatur nähergebracht. Es war sozusagen eine Aufforderung zum Lesen. Ich habe so große Werke wie Don Quijote von Miguel de Cervantes entdeckt. Sancho Pansa auf dem Esel ist seitdem ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Selbst in der Bibel reitet Jesus auf einem Esel.

Doch nicht genug, dass Isaria mich mit ihrem Namen zur Musik und Literatur geführt hat: Ihr Vorname beginnt mit Isar, und deshalb spaziere ich so gern an diesem Fluss. An seinen Ufern fallen mir die tollsten Geschichten ein: Zum Beispiel die, dass Isaria Esel ein toller Name ist.

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

Etwas trieb mich hierher, obwohl ich Grübeldinger seit Jahren nicht gesehen habe. Grübeldingers Bruder hat mich angerufen, und ich habe daraufhin den nächsten Zug nach Salzburg genommen.

Grübeldinger hat immer gesagt, in Salzburg stehen zu viele Kirchen. Oben auf dem Mönchsberg, den er fast täglich beschritten hat, hat er sie gezählt, immer wieder, die Salzburger Kirchen. Er hat gesagt: Ich kann einen Gott, der in diesen Kirchen wohnt, nicht lieben. Aber ich bin gezwungen, diesen Gott zu lieben, der in diesen Kirchen wohnt. Etwas in mir zwingt mich, diesen Gott zu lieben. Eines Tages werde ich es nicht mehr aushalten, diesen Gott zu lieben, dann werde ich mich von hier, vom Mönchsberg, auf die Kirchen stürzen. Ich sagte ihm, er solle öfter zur Richterhöhe gehen, auf die andere Seite des Mönchsbergs, um von dort nach Süden zu blicken, raus aus der Stadt. Das geht nicht, sagte Grübeldinger, denn wenn er nach Süden blickt, dann sieht er die Schlösser, die sich die prunksüchtigen Erzbischöfe gebaut haben. Einmal sei er auf die Richterhöhe gegangen, und als er von dort Schloss Hellbrunn erblickte, hat er einen Wutanfall bekommen und laut zu schreien begonnen. Hellbrunn, sagte er, sei der Gipfel der Heuchelei, wodurch sich die Erzbischöfe schließlich verraten hätten. Denn in den Kirchen von Gott zu predigen, dem sich jeder zu unterwerfen habe, und in Hellbrunn den weltlichen Freuden zu frönen, das hätte ihnen das Volk nicht mehr abgenommen, sagte Grübeldinger, und das Volk hätte zu zweifeln begonnen, ob es an diesen Gott glauben soll, denn das Volk hat erkannt, dass dieser Gott nur vorgeschoben war, um es ruhig zu halten. Doch das Volk heute, sagte Grübeldinger, ist auch nicht viel gescheiter, nur dass die Mächtigen heute nicht mehr Erzbischöfe heißen, und dass sie den Gott, von dem sie sprechen, nicht mehr Gott nennen.

In jedem Fall, sagte Grübeldinger, bin ich seit diesem Wutanfall nicht mehr auf die Richterhöhe gegangen und beabsichtige auch nicht, es noch einmal zu tun. Stattdessen versuche ich seitdem, so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs zu spazieren. Ich versuche, bei diesen Spaziergängen immer wenigstens einen der vielen Kirchtürme zu sehen, denn so sehr ich die Kirchen auch hasse, in denen der Gott wohnt, den ich so hasse, weil ich dabei an die Erzbischöfe denken muss, so beruhigen mich andererseits diese Kirchen auch, denn hier bin ich geboren, und ich kenne nichts anderes als diese Kirchen, sagte Grübeldinger. So sehr sie ihn auch einengen, so sehr benötige er sie. Neulich habe er sich oben am Mönchsberg durch Bäume und Gebüsch geschlichen und habe eine Stelle entdeckt, wo er in die Tiefe blicken konnte zum St.-Peters-Friedhof. Er sei ganz ruhig gewesen, dort oben, beim Blick in diese Tiefe, habe aber trotzdem überlegt, ob dies der Moment sei, um in die Tiefe zu springen. Aber etwas zwang mich, es nicht zu tun, sagte er.

Ich blicke hinauf zur steilen Felswand und überlege, wo Grübeldinger wohl gestanden hat. Auch ich bin, wie Grübeldinger, in Salzburg geboren, doch ich bin schon lange weggezogen. Waren es die vielen Kirchen, die mich veranlassten wegzuziehen? Ich sagte Grübeldinger, er solle doch wegziehen, zumindest für eine Weile, um etwas Abstand von den Kirchen zu bekommen. Oder mich in München besuchen. Grübeldinger sagte, in München seien die Kirchen noch viel schlimmer, weil sie sich mehr verteilten als hier in Salzburg und die ganze Gegend weitläufig infiltrierten. Hier in Salzburg hingegen stünden sie konzentriert, eingezwängt zwischen Mönchsberg und Salzach. Hier in Salzburg könne er die Wesensart der Kirchen besser studieren, durch ihre Eingezwängtheit. Hier könne er den Gott, den die Erzbischöfe geschaffen haben, besser studieren, da der Gott hier gefangen sei in seiner eigenen Prunksucht. Ich sagte Grübeldinger, er solle doch einmal über die Salzach gehen und am anderen Ufer auf den Kapuzinerberg gehen, um mit etwas Abstand auf die Stadt und ihre Kirchen zu blicken. Grübeldinger erwiderte, das komme für ihn nicht in Frage, denn er wolle in Zukunft immer so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs spazieren, denn nur so könne er die Kirchen durchdringen, könne diesen Gott begreifen, der von den Erzbischöfen geschaffen wurde. Ich habe Angst vor diesen steilen stadtzugewandten Schluchten, sagte Grübeldinger. Er sei sicher, dass nur hier, in diesen dunklen Schluchten, die Erzbischöfe diesen Gott erschaffen konnten, während sie selbst, die Erzbischöfe, aus diesen dunklen Schluchten nach Hellbrunn geflüchtet seien, weil dieses dunkle Leben in diesen Schluchten nicht zu ertragen sei, sagte Grübeldinger. Deshalb spaziere er jeden Tag auf den Mönchsberg, um vor diesen dunklen Schluchten zu fliehen, aber dennoch gehe er immer ganz nah an diesen dunklen Schluchten entlang. Etwas zwinge ihn, dies zu tun. Zur Richterhöhe könne er nicht gehen, denn dort sieht er Hellbrunn, und das sei noch viel schlimmer als die Kirchen zu sehen. Der Anblick von Hellbrunn beunruhigt mich, während der Anblick der Kirchen mich beruhigt, sagte Grübeldinger.

Ich hatte Grübeldinger lange nicht gesehen, jahrelang, weil ich genug hatte von seinem Kirchenwahnsinn. Für Grübeldinger gab es nichts anderes als die Salzburger Kirchen, und als ich ihm noch einmal vorschlug, er solle die Salzach überqueren, auf den Kapuzinerberg gehen und von dort, mit etwas Abstand, Salzburg und seine Kirchen betrachten, sagte er, das würde er nicht aushalten, die Stadt und ihre Kirchen in der Totalen zu sehen, genauso wenig, wie er es aushält, von der Richterhöhe Hellbrunn zu sehen. Die Stadt vom Kapuzinerberg zu sehen würde ihn sicher sehr beunruhigen, da sei er sich sicher, während es ihn beruhigt, die Stadt und die Kirchen von oberhalb der stadtzugewandten Schluchten des Mönchsbergs zu sehen, denn hier sei er den Göttern nahe, mit denen die Erzbischöfe die Stadt infiltriert hätten. Diese Götter seien sein Leben und sein Tod zugleich.

Grübeldingers Bruder sagt, dass Grübeldinger in letzter Zeit nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei, und dass es daher völlig absurd sei, dass er sich jetzt vom Mönchsberg in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, jetzt, wo er nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei wie in all den Jahren zuvor.

Ich weiß nicht, wieso ich gekommen bin. Ich habe Grübeldinger seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe ein Taxi genommen und bin vom Bahnhof sofort zum St.-Peters-Friedhof gefahren, wo Grübeldingers Bruder auf mich gewartet hat. Ich stehe inmitten der Gräber, blicke hinauf zur steilen Felswand und stelle mir vor, wie Grübeldinger sich in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, umgeben von den Kirchen seiner Götter.

Kleine Philosophie des Lebens

Jeden Tag erwache ich und frage mich: Was ist das Leben? Dann lebe ich, den ganzen Tag, und vor lauter Leben vergesse ich die Frage, die ich mir am Morgen gestellt habe.

Abends gehe ich ins Bett und erinnere mich an die Frage die ich mir morgens gestellt habe: Was ist das Leben? Um eine Antwort zu finden, lasse ich den Tag Revue passieren und sage mir schließlich: Das ist es, das Leben. Und schlafe zufrieden ein.

Josef im Interview

Neulich bin ich in den Himmel aufgefahren und habe den heiligen Josef zu einem Interview getroffen.

Emil: Josef, die Menschen auf der Erde feiern wieder mal Weihnachten. Freust du dich darüber?
Josef: Ich weiß nicht recht. Ich bin etwas zwiegespalten.
Emil: Inwiefern?
Josef: Die Menschen feiern Jesus und Maria, und ich steh blöd daneben.
Emil: Wie war das damals, als Maria dir sagte, sie sei schwanger?
Josef: Sie druckste ganz schön rum. Klar, das Kind war ja nicht von mir, obwohl wir verlobt waren und heiraten wollten.
Emil: Von wem war denn das Kind?
Josef: Sie hat es mir nie gesagt. Ich vermute, sie hatte eine Affäre mit Hans dem Schreiner.
Emil: Was hat sie stattdessen gesagt?
Josef: Sie redete plötzlich davon, dass sie ein Kind von Gott empfange, und dass ihr, wie durch ein Wunder, ohne sexuelle Aktivität die Frucht in den Leib gelegt worden sei. Das fand ich komisch. Denn so schlimm finde ich sexuelle Aktivität nicht, dass man auf so ein Wunder hoffen müsste. Außerdem machte ich mir ernsthaft Sorgen um sie. Hatte sie solche Panik, dass ich sie verlasse, was sie dazu veranlasste, eine solch abstruse Geschichte zu erfinden? Oder geht mit Schwangeren generell die Phantasie durch?
Emil: Du bist aber dennoch bei ihr geblieben.
Josef: Ja. Da kam der Beschützerinstinkt in mir durch. Außerdem fand ich sie schon wahnsinnig toll. Sie hat sich ja auch trotz des Kindes für mich und gegen Hans den Schreiner entschieden. Außer beim Sex. Da blieb sie hartnäckig.
Emil: Wie? Sie hatte danach noch Sex mit Hans dem Schreiner?
Josef: Das weiß ich nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Ich vermute, ihr damaliger PR-Manager, wie hieß der nochmal – Petrus, glaube ich – hatte großen Anteil daran. Also, ich weiß nicht ob sie mit dem auch was hatte, ist auch nicht wichtig, aber auf alle Fälle wollte der die Nummer mit dem Sohn Gottes groß rausbringen.
Emil: Du willst also sagen, Maria hat aus PR-technischen Gründen keinen Sex mit dir gehabt?
Josef: Als das Ding voll am Laufen war, also die Story mit dem Sohn Gottes und der Jungfräulichkeit, waren Maria und ich einmal sehr leidenschaftlich über uns hergefallen, als sie plötzlich von mir abrückte und sagte, sie dürfe keinen Sex mit mir haben, denn Petrus hätte gemeint, sie müsse als Jungfrau authentisch wirken. Wenn sie mit mir Sex hätte, würde man das merken. Da wurde ich wirklich zornig auf Petrus und wollte dafür sorgen, dass Maria aus dieser Nummer rauskommt. Sie aber meinte, ich solle bedenken, wieviel wir verdienen mit ihren Auftritten als Jungfrau Maria im Gegensatz zu meinem kärglichen Zimmermann-Lohn. Da habe ich klein beigegeben.
Emil: Und dein Sohn, ääh, ich meine Jesus, welche Rolle hat der dabei gespielt, als er auf die Welt gekommen war?
Josef: Bei seiner Geburt waren wir bei meinen Eltern im Bethlehem. Als bei Maria die Wehen einsetzten, verordnete Petrus, wir sollen in den alten Stall gehen, er habe dort bereits alles arrangiert. Der Stall war schön mit Kerzen und Fackeln ausgeleuchtet. Vier Reporter waren da: Lukas, Matthäus und… wie hießen die beiden anderen jetzt? Schließlich kamen auch noch drei maskierte Typen, als ob wir Fasching hätten, und haben sich als Heilige Drei Könige ausgegeben. Sie hatten Zeug dabei, das hat so gestunken, dass ich nach einer Weile unauffällig zum Holzhacken gegangen bin.
Emil: Wie ging es Jesus, als er so im Scheinwerferlicht heranwuchs?
Josef: Ich glaube, er hat es vom ersten Moment an genossen, im Mittelpunkt zu stehen. Er war ein Star, der Sohn Gottes, mehr geht nicht, und dazu seine Mutter, die ewige Jungfrau. Die Frauen kamen wegen ihm, die Männer wegen ihr. Später hat sich der Junge dann gewaltig inszeniert! Ein gigantisches Spektakel hat er abgezogen. Der Eselsritt zum Beispiel, ein Wahnsinn! Ich glaube, irgendwann hat er übertrieben und sich viele Feinde geschaffen. Einer der Jungs, die ständig an seiner Seite waren und mit ihm rumhingen, ich glaube es war Judas, ist dann von der Clique abgesprungen und hat den Römern gesagt, dass Jesus einen an der Klatsche habe.
Emil: Auffallend viele Frauen sind während der dramatischen letzten Stunden Jesus‘ gesehen worden.
Josef: Kein Wunder, er hat ja mit vielen was gehabt. Vor Verehrerinnen konnte er sich nicht retten. Richtig sexsüchtig war er, der Sohn der ewigen Jungfrau. (lacht)
Emil: Wie ging es Maria, als ihr Sohn gekreuzigt wurde?
Josef: Ich glaube, sie fühlte sich wie eine alte Jungfrau. (lacht wieder) Sie war traurig wie eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Sie wusste, mit Jesus war ihr kongenialer Gegenpart von ihr gegangen. Wer konnte schon ahnen, dass dieser PR-Coup des Petrus eine derart langandauernde Wirkung über den Tod Jesu hinaus haben würde.
Emil: Auch du wirst sehr verehrt von den Menschen. Es gibt viele Kirchen und Plätze auf der Erde, die deinen Namen tragen.
Josef: Ich habe keine Ahnung wieso. Ich finde, ich habe in dieser Geschichte ja schon die Arschkarte gezogen. Aber es ist halt wie es ist. – Wer hat das geschrieben? Sigmund Freud, euer neuer Gott?
Emil: Der Dichter Erich Fried hat geschrieben: Es ist was es ist, sagt die Liebe.
Josef: Auch gut. Ich geh jetzt holzhacken. Diese Tradition habe ich mir auch im Himmel beibehalten. Schöne Weihnachten!

Emil Hinterstoisser 2014 und 2015