Alle Beiträge von EmilHinterstoisser

Geburtstags-Poesie

Mir schwante, dass es nicht gut ausgehen würde. Die Fassaden der Hochhäuser rauschten an mir vorbei. Mein weicher Körper bewegte sich mit voller Schwerkraft auf den harten Boden zu. Kurz vor dem tödlichen Aufprall weckte mich der Klingelton meines Handys, auf dem folgende Nachricht von Steffi stand: Alles Gute zu unseren Geburtstagen! Steffi hatte mir soeben das Leben gerettet, durch das rechtzeitige Senden der Nachricht vor dem Aufprall. Deshalb wollte ich ihr vorschlagen, als Dank sozusagen, dass wir den Tag unserer gemeinsamen Geburtstage gemeinsam verbringen.

Doch dann erinnerte ich mich an Vorderbrandners Worte, der sagt, dass man seinen Geburtstag verbringen soll wie jeden anderen Tag auch. Denn nur die Poesie des Alltags führt uns ins Glück, nicht willkürlich erdachte Festlichkeiten. Der Geburtstag sei ein willkürliches, von der Kalenderlogik bestimmtes Datum. Gäbe es die Kalenderlogik nicht, würde man einfach von Tag zu Tag schleichend älter werden, ohne diesen harten Sprung von einem Lebensjahr ins nächste.

Von harten Sprüngen hatte ich bereits genug an diesem Morgen der schlechten Träume, deshalb beschloss ich, Steffi nicht zu schreiben und stattdessen ins Büro zu gehen, wie jeden Tag. Dort traf ich Vorderbrandner an, wie jeden Tag. Jedoch trug er an diesem Tag eine Nazi-Uniform, einen aufgeklebten Hitler-Bart und seine Haare waren zum Seitenscheitel gegelt.

„Was ist mit dir los?“ fragte ich.
„Ich feiere Geburtstag.“
„Aber du hast doch gesagt, man soll am Geburtstag der Poesie des Alltags huldigen und ihn verbringen wie jeden anderen Tag auch!“
„Natürlich. Das mache ich auch. Denn heutzutage gehört es zur Poesie des Alltags, um jeden Preis aufzufallen. Deshalb habe ich heute Morgen bereits einen Selfie gepostet mit dem Titel: Anlässlich des Referendums in der Türkei feiert Nazi-Deutschland den Geburtstag seines Führers dieses Jahr besonders ausgelassen und heiter.“

August und Auge

Es waren einst zwei Brüder, die hießen Gustav und Georg. Sie wohnten in einem einsamen Häuschen mitten in der Au, deshalb wurden sie August und Auge genannt.

An einem wunderschönen, sonnigen Tag sagte August zu Auge: „Ich werde heute einen Ausflug zu Betty auf dem Bühel machen!“

Auge wollte den Tag lieber mit August in der Au verbringen und versuchte ihn umzustimmen. Er sagte zu August: „Wie willst du einen Ausflug machen ohne Flügel? Fliegen können nur die Vögel!“

August überlegte und sagte schließlich: „Du hast du recht, Auge. Ich habe keine Flügel, deshalb kann ich keinen Ausflug zu Betty auf dem Bühel machen. Ich bleibe bei dir in der Au.“

Auge setzte sich daraufhin an den Flügel, stimmte eine Melodie an und sang mit August das Lied Wenn ich ein Vöglein wär für Betty auf dem Bühel:

Notenständer der Welt

Vorderbrandner hatte ein Treffen mit dem ägyptischstämmigen Künstler Bahiti Chigaru arrangiert, und weil Vorderbrandner große Stücke auf Bahiti Chigaru hält, hatte er den Lokalreporter einer großen süddeutschen Tageszeitung zu diesem Treffen eingeladen. Der Lokalreporter war dieser Einladung gefolgt und gekommen. Zu Beginn des Treffens informierte Vorderbrandner den Reporter, dass er sich mit Bahiti Chigaru im folgenden über die Logik in der Sprache unterhalten wolle. Daraufhin meinte der Reporter, dass das ein Thema sei, das durchaus interessant sei, er jedoch bezweifle, dass es seine Redaktion genauso sehe. Vorderbrandner platzte daraufhin der Kragen, und er schrie den Lokalreporter an:

„Über jedes noch so dilettanische Laienschauspiel in einem abgehalfterten Gemeindezentrum berichten Sie und stellen es als große künstlerische Errungenschaft dar! Oder diese ganzen Hobbymaler und Hobbyschriftsteller, die nichts zu malen und nichts zu schreiben haben, die Sie mit einer Schleimspur in Ihr Blatt hineinredigieren! Aber über Bahiti Chigaru, der schon oft bewiesen hat, wie großartig er die menschliche Existenz darzustellen vermag, der die Ambivalenz der Dinge würdigt wie kein zweiter, über den wollen Sie nichts schreiben! Ich dachte immer, die Presse sei ein sensibles Organ für gesellschaftliche Notstände, aber Sie sind nur ein erbärmliches Anhängsel irgendwelcher Lobbies! Sie haben Angst, nichts als Angst! Jeder Buchstabe, den Sie schreiben, schreit vor Angst! Sie sind an Einfältigkeit nicht zu überbieten! Gehen Sie, verlassen Sie diesen Raum, Sie nichtsnutziger Schmarotzer dieser Gesellschaft!“

Der Lokalreporter wollte zunächst etwas erwidern, überlegte es sich dann jedoch anders und ging mit geöffnetem Mund zur Tür hinaus.

Eine Weile saßen Bahiti Chigaru und Vorderbrandner daraufhin schweigend da. Dann stand Chigaru auf und holte drei Notenständer, die in der Ecke des Raumes lehnten. Er stellte sie in der Mitte des Raumes auf und sagte zu Vorderbrandner:

„Valentin, ich bemerke deine Erregung. Das ist nicht schlimm! Wir werden diese Erregung nutzen für unsere Arbeit. Wir wollten über die Logik in der Sprache sprechen. Du hast vorhin, in deiner Erregung, über Notstände gesprochen. Da ist mir aufgefallen, dass ich dieses Wort lange nicht kannte. Als ich als Kind nach Österreich kam und deutsch gelernt habe, erschien mir eines sehr unlogisch: die Mehrzahlbildung. Es gibt Regeln, aber ich bekam sie nicht in mein Hirn. So dachte ich lange, die Mehrzahl von Notstand sei nicht Notstände, sondern Notenständer. Das war meine Logik: ein Notstand, mehrere Notenständer.

Dazu eine kurze Geschichte: Nehmen wir an, ein Notstand heißt Engelbert, ein anderer Adolf – wir haben also zwei Notenständer, nach meiner früheren Logik. In diesem Raum haben wir drei Notenständer. Wer ist also der dritte Notstand? Manche würden ihn Norbert nennen, andere Heinz-Christian, andere Roman Haider. Aber soll man die Notenständer auf dieses braune Gesindel im deutschsprachigen Raum beschränken? Nein! Vielleicht will dieses braune Gesindel uns nur zeigen, dass überall auf dieser Welt Notenständer herrschen, als eine Art repräsentativer Querschnitt.“

Bahiti Chigaru verteilte die drei Notenständer im ganzen Raum und fuhr fort:

„Angenommen, dieser Raum ist die ganze Welt. Es gibt überall auf der Welt Notenständer. Mein Notstand der Kindheit heißt Hosni, andere nennen ihren Notstand Viktor, Recep, Vladimir oder Donald. Aber wie wir die Notenständer auch nennen – ist es nicht vor allem wichtig, die Menschen hinter diesen Notenständern zu erkennen? Warum handeln diese Notenständer wie Notenständer? Ist es die Stimme der Menschheit, die sie treibt? Ist man nicht zuallererst selbst gefordert, kein Notenständer für andere zu werden beziehungsweise sich von anderen nicht zum Notenständer machen zu lassen? Vielleicht bin ich naiv, aber ich habe immer die Hoffnung, dass Notenständer vor allem auch Menschen sind, die andere Entwicklungsmöglichkeiten haben als Notenständer zu sein.“

Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: „Entschuldige! Ich bin etwas vom Thema abgekommen. Eigentlich wollte ich nur erklären, dass Notenständer für mich immer die Mehrzahl von Notstand waren. Das war für mich vollkommen logisch. Deine Erregung jedoch hat mich zu weiteren Ausführungen verleitet.“

Bahiti Chigaru blieb stehen, inmitten der Notenständer. Ist das die hohe Schule der Installationskunst? Vorderbrandner hatte sich mittlerweile wieder beruhigt, fühlte sich aber wie ein Notenständer. Er bereute es, den Lokalreporter so rüde verscheucht zu haben: Vielleicht hätte er ja über den soeben gehaltenen Vortrag von Bahiti Chigaru einen Artikel geschrieben.

Und trotzdem lieb ich sie

Auf dem Weg ins Büro ging ich den Gehsteig entlang und dachte an Dirk von Lowtzow, der sagt, dass es schwer ist, über Musik zu schreiben und leicht ist, sie zu hören. Ich hatte einen kleinen Kuchen für Vorderbrandner dabei: Es war sein Geburtstag.

Als ich an der Tür zum Büro war, hörte ich Musik von drinnen. Ich öffnete, und ein Chanson von Charles Aznavour trällerte in voller Lautstärke durch den Raum. Ich trat näher und sah Vorderbrandner, in seinem Stuhl sitzend nach hinten gelehnt, mit verquollenen Augen. Die Musik und Vorderbrandners lethargischer Zustand erzeugten eine besondere Atmosphäre. Ich sagte nichts. Vorderbrandner sah mich hilfesuchend an. Ich ging näher an seinen Bildschirm und las darauf die Nachricht:

Cher Valentin,

ça va? Bon anniversaire! Heute ich erinnere die Chanson, die du mir hast geschickt damals: Und trotzdem lieb ich sie de Charles Aznavour. Tu es toujours bienvenu a Angers!

Je t'embrasse,
Françoise

Françoise! Vorderbrandner hatte mir oft von einer Françoise erzählt, die er während seinem Auslandsjahr an der Uni in Angers kennengelernt hatte. Er hatte sich unsterblich in sie verliebt. Dann hatte sie ihn während einer Party geohrfeigt. Er weiß nicht mehr wieso, sagt er. Wahrscheinlich hat er es verdrängt, oder die genauen Umstände gingen in seiner Trauer unter. Danach hat er jedenfalls nie mehr mit ihr geredet, sagt er, hörte aber nie auf, über sie zu reden.

Ich stellte den kleinen Kuchen auf Vorderbrandners Schreibtisch, zündete die Kerze darauf an und setzte mich an meinen Schreibtisch. So hörten wir zu zweit Charles Aznavour.

Mir fiel ein, dass Vorderbrandner ständig behauptet, seine Geburt sei ein großes Missverständnis zwischen seiner Mutter und ihm gewesen. Sie hätte ihn nie geliebt, und er wollte nie auf diese Welt kommen. Jetzt sei er aber nun einmal auf dieser Welt und habe dieses Leben durchzustehen. Dies sei eine Version seiner Wahrheit, sagt Vorderbrandner, und im übrigen die Version, an die er sich entschieden habe zu glauben. Eine andere Version würde seinen Vater berücksichtigen. Seinen Vater habe er jedoch nie gekannt, sagt er, das Prinzip Vater sei ihm überhaupt ein Fremdes. Deshalb sei diese andere Version mit Vater keine Möglichkeit für ihn. Er sei ein Muttersohn, den seine Mutter nicht liebt, und dabei bleibt es.

Vorderbrandner saß weiterhin reglos in seinem Stuhl. Ich dachte an die totalitären Denkstrukturen, von denen er oft spricht, in denen er sich gefangen fühle, die ihm aber gleichzeitig Halt geben. Im Totalitarismus sei kein Platz für Liebe, und er sei ein dem Totalitarismus Verfallener, der sich damit abzufinden habe, ohne Liebe zu leben.

Und trotzdem lieb ich sie lief in der Wiederholungsschleife. Eine Träne lief über Vorderbrandners Wangen. An wen denkt er bei diesem Chanson? An Françoise oder an seine Mutter? Wieso erzählt er mir in seinem Schweigen viel mehr, als er mir jemals sagen könnte? Ahnt er die Liebe, nach der er sich so sehnt?

Habe ich jetzt über Musik geschrieben? Ich hoffe, Dirk von Lowtzow verzeiht mir.

Perspektivenwechsel

Ich betrat das Büro und fand Vorderbrandner im Handstand auf dem Schreibtisch stehend vor, sein Gesicht dem Bildschirm zugewandt.

„Was machst du?“ fragte ich erstaunt.

„Agathe hat mir einen Text geschickt, aber ihn leider verkehrt herum eingescannt. Deshalb muss ich ihn verkehrt herum lesen.“

„Du hättest doch den Text um 180 Grad drehen können, anstatt dich selbst zu drehen und in den Handstand zu gehen.“

„Daran habe ich auch gedacht, aber ich war zu faul dazu.“

Etwas verwundert setzte ich mich an meinen Schreibtisch und sah Vorderbrandner dabei zu, wie er kopfüber im Handstand auf dem Schreibtisch stehend den Text las, den Agathe verkehrt herum eingescannt hatte.

„Um was geht es in diesem Text?“ fragte ich.

„Es geht darum, dass das Gehirn eine Gewohnheitsmaschine ist. So steht hier unter anderem, dass es mit ein bißchen Training ohne Probleme möglich wäre, einen Text verkehrt herum zu lesen, also ein Blatt um 180 Grad zu drehen und von rechts unten nach links oben zu lesen, wir aber aus Gewohnheit das Blatt nicht drehen und von links oben nach rechts unten lesen.“

„Dann hat Agathe dir den Text also absichtlich verkehrt herum geschickt: Du solltest den Text normal sitzend von rechts unten nach links oben lesen!“

„Glaubst du?“ fragte Vorderbrandner, während er seine Füße per Überschlag auf den Boden katapultierte. „Agathe meinte jedenfalls, unsere Beziehung brauche einen Perspektivenwechsel, sie bewege sich zu sehr in eingefahrenen Bahnen.“

„Siehst du! Da ist es doch ein guter Start, Texte verkehrt herum zu lesen, um eine neue Perspektive zu bekommen.“

„Finde ich nicht. Wozu soll ich mein Gehirn strapazieren, wenn ich einen Körper habe, den ich bewegen kann!“ sagte Vorderbrandner und katapultierte sich wieder in den Handstand, um weiterzulesen.

Stutt ist kein Garten!

Bene, den ich wegen der sprachlichen Präzision in seiner Ausdrucksweise sehr bewundere, berichtet, dass ein Außerirdischer in seinem Garten gelandet sei. Der Außerirdische verfügte über erstaunliche Kenntnisse der deutschen Sprache, und er schien sich ihr über den Weg der Logik genähert zu haben, berichtet Bene weiter, denn der Außerirdische habe folgende Frage gestellt: „Was ist der Unterschied zwischen einem Dorf und einer Stadt?“ Ohne jedoch eine Antwort Benes auf diese Frage abzuwarten, listete er selbst wesentliche Merkmale eines Dorfes und einer Stadt auf, wie etwa die Anzahl der Bewohner, um anschließend eine weitere Frage zu stellen: „Wieso ist euer größtes Dorf Düsseldorf größer als eure größte Stadt Darmstadt?“ Bene, und hier bewundere ich ihn für seine Schlagfertigkeit, erwiderte, dass Frank keine Furt und Stutt kein Garten sei, sondern Städte, die im übrigen größer sind als Düsseldorf was die Anzahl ihrer Bewohner betrifft. Der Außerirdische schien nun an den Grenzen seiner sprachlichen Logik angekommen zu sein, so vermutet jedenfalls Bene, denn nach dieser Antwort Benes verschwand er aus seinem Garten, ohne dass es Bene vorher möglich gewesen wäre, sich einen angemessenen Eindruck über die Anatomie und das Verhalten des Außerirdischen zu machen.

Dennoch fand Bene es angebracht, diesen Vorfall dem wissenschaftlichen Beirat für Außerirdischenforschung zu melden, woraufhin dieser Beirat antwortete, dass er eine Vielzahl solcher Meldungen erhalte, die er in der Regel unbeantwortet lasse, da ihnen meist jeglicher überprüfbarer Realitätsbezug fehle, und er deshalb auch auf die Anfrage Benes nicht näher eingehen könne, da er sich sonst dem Vorwurf der Schiebung, also der ungerechtfertigten Bevorzugung, aussetze. Bene, ungewohnt fahrig in seinem Sprachverständnis, antwortete darauf, dass es sich in diesem Fall um keine Abschiebung handeln könne, da der Außerirdische seinen Garten freiwillig verlassen habe und er deshalb eine Bearbeitung seiner Meldung als angemessen, wenn nicht sogar als geboten empfinde. Nach dieser Ergänzung Benes zu seiner Meldung meldete sich der wissenschaftliche Beirat für Außerirdischenforschung nicht mehr bei ihm, womit anzunehmen ist, dass dieser Fall als beendet erklärt werden kann.

Liste deutscher Großstädte

Kniefall

Es ist ein Herumgepoltere und Geschreie, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalte. Jeder will Recht haben, und hat damit Recht: Denn es stimmt – jeder hat Recht, solange er in seinem Rechthaben das Recht des anderen achtet. Doch überall reklamieren die Despoten das Recht für sich alleine und ernten begeisterten Beifall. Immer mehr rücksichtslose Rechthaber scheinen die Spitzenämter der Politik zu besetzen.

Aus Angst entlarvt zu werden und um von sich abzulenken, wird als letztes Mittel die Nazikeule gegen Deutschland geschwungen. Doch die Geschichte teilt nicht in Gut und Böse, in Opfer und Täter. Waren die Menschen, die aus Ostpreußen vertrieben wurden, lauter schlechte Menschen, nur weil sie Deutsche waren? Wer hat hier Recht? Die Sowjets, die danach kamen? Oder die Polen, die vor lauter Angst nicht mehr wussten, ob sie nach links oder rechts schauen sollen?

Wo bleibt die Demut in diesem Geschreie? Die Geste der Demut ist eine große Geste. Viele sagen, Willy Brandt war damals lediglich ein großer Schauspieler, werfen ihm kalkuliertes Theater der Weltgeschichte vor, das er aufführte bei seinem Kniefall am Warschauer Ghetto-Ehrenmal am 7. Dezember 1970. Aber ich glaube an die Wahrhaftigkeit dieser Geste.

Ich wünsche mir, dass die Despoten, die in mir Angst und Schrecken auslösen, sich hinknien in Demut vor dem Leben, auch wenn diese Geste vielleicht viel größer ist, als sie verkraften können.

Der Erleuchtung

Ich muss mich wohl etwas dämlich angestellt haben, am Fahrkartenautomat, denn hinter mir sagte jemand: „Sie sind wohl keine Leuchte!“

Ich wollte mich umdrehen und sagen: „Nein, ich bin ein Leuchte, denn ich bin männlichen Geschlechts!“ In diesem Moment wurde mir jedoch bewusst, dass das grammatische Geschlecht nichts mit dem natürlichen zu tun hat. Ich bin ja auch eine Person, obwohl ich männlich bin. Eine Frau ist nicht eine Mensch sondern ein Mensch.

Wieso ist es immer so wichtig, alles in männlich und weiblich einzuteilen? Ist das nicht manchmal vollkommen unwichtig? Oder sind wir Menschen so sexbesessen, dass wir alles strikt geschlechterspezifisch trennen müssen? Am meisten stört mich dabei die Verinnisierung der Sprache: die Personin, die Menschin.

Vielleicht befinden sich die Männer in einer Bringschuld. Jahrhundertelang haben sie versucht, ich vermute aus Furcht vor den Frauen, die Sprache zu vermaskulinisieren. Jetzt wäre es an der Zeit, den Frauen sprachlich einen Schritt entgegenzukommen. Ich habe dafür folgenden Vorschlag: Man vertauscht ab sofort das weibliche und männliche Geschlecht in der Sprache. Es ist ab sofort der Person und die Mensch. Vor nichts soll man Halt machen: der Frau und die Mann. Denn ich weiß ja jetzt: Das grammatische Geschlecht hat mit dem natürlichen nichts zu tun.

Ja, so machen wir das, dachte ich mir, während ich mein Fahrkarte zog. Ich drehte mich um und sah ein Schlange von Menschen.

„Entschuldigen Er, dass Er solange warten mussten, aber ich bin soeben erleuchtet worden“, sagte ich: „Ich bin jetzt ein Leuchte, sozusagen. Der Welt ist jetzt ein anderer für mich, rein sprachlich, auch wenn nachts noch immer die Mond scheint und nicht der Sonne.“

Schafft die Noten ab!

Ich hatte gerade eine erfolgreiche Session im Studio hinter mir. Ein neues Stück nahm Formen an. Ich ging pfeifend die Straße entlang, um meine Tochter vom Hort abzuholen, als ich folgende Schlagzeile im Zeitungskasten sah: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Ich war empört! Welcher Musikbanause kann so etwas fordern! Sicher, Musik geht auch ohne Noten, aber Noten gehören zur europäischen Musikkultur. Welch ein Verlust, wenn Bach, Mozart oder Beethoven keine Noten aufgeschrieben hätten!

Ich hatte mich noch nicht beruhigt, als mir meine Tochter im Hort tränenüberströmt entgegenlief. Sie fiel mir in die Arme und schluchzte: „Papa, ich habe in der Klassenarbeit nur eine Drei geschrieben. Und sogar Maria, die sonst immer schlechter ist als ich, hat eine Zwei bekommen.“

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder allen Eltern, aber wenn ich etwas nicht ertrage, ist es, meine Tochter weinen zu sehen, obwohl das mittlerweile schon acht Jahre lang mehr oder weniger oft passiert. Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Ich war also mindestens so empört über diese Drei wie meine Tochter traurig darüber, und dachte mir: Dieser Druck ist nicht gesund für die Kinder. Schafft die Noten ab!

Mit schlechter Laune machten wir uns auf den Heimweg, der uns wieder am Zeitungskasten vorbeiführte. Ich wollte nicht mehr hinschauen, tat es aber dann doch und las: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Gottseidank habe ich hingeschaut! Verwundert über meine Verbohrtheit, die man auch Blödheit nennen könnte, kaufte ich mir eine Zeitung. Ich las über die Forderung der Abschaffung von Schulnoten. Kein Mensch redet von Musiknoten. Ich trällerte fröhlich die Melodie meines neuen Stückes und sagte frohgemut zu meiner Tochter: „Mach dir keinen Kopf über deine Drei! Die Schulnoten werden bald abgeschafft.“

Was ich weiß… darf niemals siegen!

Sind es zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß? Die Blätter an den Bäumen, sind sie Wirklichkeit, jetzt, wo sie noch nicht da sind, und ich nur aus meinen bisherigen Frühlingserfahrungen annehmen kann, dass sie kommen werden? Sind es die Blätter oder sie, die kommen werden, oder ist es der Einfachheit halber leichter, anzunehmen, dass beide kommen werden?

Die Wirklichkeit ist im Kopf, und ist sie nicht im Kopf, so ist sie nirgendwo. Das ist mir zu kopflastig, und ich denke: Pure Vernunft darf niemals siegen, ich brauche dringend neue Lügen. Wenn nur die Blätter an den Bäumen bald kommen würden, und vor allem sie, dass sie kommt, die Wirklichkeit!

Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß

Pure Vernunft darf niemals siegen