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Komisches und Tragisches (das Leben)

Komisch und tragisch erlebe ich Vorderbrandner. Er sagte mir zuletzt unter Tränen, dass er unendlich froh und unendlich dankbar sei, seinen Platz hier in diesem Leben zu haben. Das war tragisch im Vortrag, aber auch komisch. Warum komisch? Vorderbrandner ist ständig auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass er nicht bereit ist, seinen Platz einzunehmen. Vom Suchen und nicht Finden(wollen) des Platzes im Leben könnte man also Vorderbrandners bisheriges Leben betiteln. Stattdessen verkriecht er sich oft in der Ecke. Er erfindet für dieses Verkriechen alle möglichen Argumente. Er sagte zum Beispiel einmal, er sei eine konstante Belastung für seine Umwelt, seine CO2-Bilanz sei konstant negativ, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Deshalb bezweifle er, ob seine menschliche Existenz über eine berechtigte Grundlage verfüge, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Gleichzeitig, und das macht die Sache so komisch, hat er eine unglaublich große Sehnsucht nach dem Leben.

Bevor ich mich in Allgemeinheiten verliere, will ich konkret werden: Vorderbrandner und ich fuhren mit unseren Fahrrädern die Ainmillerstraße in München-Schwabing entlang. Das war gar nicht tragisch. Das war auch nicht komisch. Deshalb erwähne ich es, weil es ungewöhnlich ist, mit Vorderbrandner etwas zu erleben, das nicht tragisch und nicht komisch ist. Ein Auto fuhr vor uns durch die Ainmillerstraße. Es fuhr so langsam, dass wir zu ihm aufschlossen. Wir fuhren hinter ihm her, bis wir kurz vor dem Ende der Ainmillerstraße angelangt waren.

Der Ort des Geschehens

Die Ainmillerstraße mündet in die Kurfürstenstraße. An dieser Einmündung muss man sich entscheiden: Biegt man nach links oder nach rechts in die Kurfürstenstraße ein? Geradeaus weiterfahren ist nicht möglich. Der langsam fahrende Autofahrer vor uns tat seine Entscheidung nicht kund: Er setzte keinen Blinker. Oder hatte er sich noch nicht entschieden und zuckelte unentschieden auf die Kreuzung zu? Das Auto wurde jedenfalls immer langsamer. Warum erzähle ich das? Weil Vorderbrandner unvermittelt mit seinem Fahrrad links an dem langsamer und langsamer werdenden Auto vorbeifuhr. Auf Höhe der Fahrertür, deren Scheibe geöffnet war, sagte er zum Fahrer: „Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie blinken würden und uns so mitteilen, ob Sie links oder rechts abbiegen wollen!“ Er sagte es in einem subtil provokanten Ton, der sich schwer beschreiben lässt.
„Wieso? Ich suche einen Parkplatz“, hörte ich den Fahrer irritiert aus dem Wagen antworten.
„Dann wäre es nett von Ihnen, wenn Sie Ihrer Umwelt mitteilen, wo Sie beabsichtigen, Ihren Parkplatz zu suchen, links oder rechts.“
Der Fahrer wurde verbal ungehalten, woraufhin Vorderbrandner durch die offene Scheibe ins Auto griff und den Blinkerhebel betätigte. Der Wagen war inzwischen mitten auf die Kreuzung gerollt und blockierte den Verkehr. Links und rechts hupten andere Autos.
„Sie Unverschämter Sie!“ schrie der Fahrer aus dem Wagen.
„Bitte nach rechts fahren, nach dorthin ist der Blinker gesetzt!“ erwiderte Vorderbrandner scheinbar ungerührt und herablassend und gab mir Zeichen zum Weiterfahren.

Ich folgte seiner Anweisung. Nichts wie weg hier! Wir fuhren weiter und überließen die angerichtete Szene den anderen Protagonisten. Beim Weiterfahren dachte ich über den, wie ich finde, äußerst dreisten und provokanten Auftritt Vorderbrandners nach. Einerseits hat Vorderbrandner diese große Scheu, seinen Platz im Leben einzunehmen, andererseits legt er Auftritte wie eben jenen hin.

Wir fuhren in unser Büro in der Georgenstraße 146 in München-Schwabing. Dort angekommen, hörte Vorderbrandner ein wenig Musik. Das macht er oft, um Erlebtes zu verarbeiten. Diesmal drangen trällernde Opernstimmen durch den Raum. Ich ging näher zu Vorderbrandner und sah auf dem Bildschirm zwei Opersängerinnen, als Männer verkleidet, die sich in einem gesanglichen Zwiegespräch befinden.

Vorderbrandner, ungewöhnlich kommunikativ für einen solchen Moment der inneren Besinnung, sagte: „Das ist ein Ausschnitt aus der Oper Serse von Händel – komische Tragödie und tragische Komödie.“
„Komisch ist das in der Tat“, sagte ich: „Wieso sind denn die Frauen als Männer verkleidet?“
„Es gibt keine Kastraten mehr, die die Rollen singen könnten.“
„Tragisch… Für die Oper, meine ich, – dass es keine Kastraten mehr gibt“, und meinte es komisch.
Wir lauschten dem Gesang.
„Der in weiß Gekleidete ist König Serse“, erläuterte Vorderbrandner und zeigte auf die Opersängerin in der weißen Uniform. „Er offenbart seinem Bruder Arsamene (die in schwarz gekleidete Dame im Video – Anm. d. Red.), dass er der schönen Romilda seine Liebe gestehen wird, obwohl Arsamene mit ihr verlobt ist.“
Vorderbrandner interessierte vor allem eine Sequenz des Videos, zwischen 1:00 und 2:30, die er mehrmals abspielen ließ. Hier verkündet Serse seine Absicht: Io le dirò che l’amo, ne mi sgomentarò. (Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe, ich werde nicht davor zurückschrecken.)

„Schau!“ sagte Vorderbrandner und zeigte auf den Bildschirm, „wie stolz Serse ist; wie er sich auf seine Sänfte heben lässt und immer wieder betont, dass er Romilda seine Liebe gestehen wird! Was für ein stolzer, leidenschaftlicher Platzhirsch!“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, als nähme Serse stellvertretend für ihn den Platz ein, den er sich gerne nehmen würde. Wir waren wieder mitten drin im Komischen und Tragischen.

Während wir weiter dem Gesang lauschten, stellte ich mir Vorderbrandner in der Ainmillerstraße vor, wie er auf den Dächern der hupenden Autos steht und im Falsett die Arie des Serse singt. Wieso ist mit Vorderbrandner immer alles komisch und tragisch? Liegt es wirklich nur daran, dass er seinen Platz im Leben sucht und nicht finden will? Oder liegt es daran, dass er mir beständig vorführt, was das Leben ist: Komische Tragödie und tragische Komödie?

Ein Foto für die Welt

Ich habe mich lange gegen die sogenannte Digitalisierung gewehrt, wollte meine Privatsphäre achten, wollte der Instagramisierung trotzen. Doch nun haben mich all die netten Menschen von Google, Facebook etc. bekehrt.

Ich weiß jetzt, dass es notwendig ist, sich zu zeigen, ja mehr noch, dass es glücklich macht. Darum teile ich heute voller Freude ein Foto mit der Welt, dessen Motiv aus meinem tiefsten Herzen kommt:

Ich bin sehr froh, dass ich diesen Schritt getan habe, fühle mich sehr erleichtert und warte auf die spannenden Kommentare der Welt. :—)

Die Liebe unter der alten Linde

Ich zögerte in zweierlei Hinsicht. Zuerst zögerte ich, die Geschichte Vorderbrandners zu meiner Geschichte zu machen. Dann, als ich die Geschichte Vorderbrandners zu meiner gemacht hatte, zögerte ich, sie noch einmal – als meine Geschichte – zu erzählen. Da mein Zögern jeweils der Aktion wich, hier eine Zusammenfassung der Ereignisse:

Es war der Vormittag nach einer sehr stürmischen Nacht. Der Wind hatte sich gelegt, der Regen war abgezogen. Es herrschte Ruhe nach dem Sturm. Die Sonne bestrahlte diese Ruhe. Ein Freund hatte mir geschrieben, dass der Maibaum in seinem Garten, nach einem langen, erfüllten Leben von über fünf Maibaum-Jahren, nach kurzer schwerer Morschheit, wie er sagte, einer Sturmböe zum Opfer gefallen ist und nicht mehr unter uns weilt. Sehr in Sorge fuhr ich daraufhin in den Park, um der alten Linde einen Besuch abzustatten. Würde sie noch dastehen, stolz wie eh und je, allein auf weiter Flur, oder hatte der Sturm einige ihrer weit ausladenden Äste von ihr gerupft? Hatte sie gar ein ähnliches Schicksal wie den Maibaum ereilt, und sie weilt auch nicht mehr unter uns? Musste ich mich darauf vorbereiten, auch von ihr Abschied zu nehmen? Unter schlimmsten Befürchtungen und mit zittrigen Beinen trat ich in die Pedale meines Fahrrads, das mich zur Lindenwiese führte.

Als ich auf die Wiese kam, stand sie da, die alte Linde, stolz wie eh und je, ihre Blätter im Sonnenschein wiegend. Erleichtert und erfreut lief ich unter ihren Schatten. Ich lehnte mich an ihren Stamm, fühlte mich glücklich und zufrieden wie einst Perserkönig Serse unter der Platane und breitete meine Arme aus. Ich sah zu den Blättern hoch, die wie zartklingende Saiten von Violinen im Wind säuselten, und begann zu singen:

Ombra mai fu
di vegetabile
cara ed amabile
soave più.

(Nie war der Schatten
einer Pflanze
lieblicher angenehmer
süßer.)

Ich war in einer Hochstimmung. Ich wusste nicht, ob ich jemals etwas anderes auf dieser Welt würde lieben können als die alte Linde.

Doch ich wurde jäh aus meiner Hochstimmung gerissen – vom Gekläffe eines kleinen Hundes. Ich wurde so dermaßen aus meiner Hochstimmung gerissen, dass ich in meiner Verzweiflung das Gekläffe des kleinen Hundes zu imitieren begann.

„Hören Sie auf, Sie Spinner!“ rief der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes zu mir herüber, während der kleine Hund ohne Pause weiterkläffte.

„Wieso soll ich aufhören?“ rief ich zurück: „Ihr Hund macht genauso. Zu ihm sagen Sie auch nicht, er soll aufhören!“

Mit einer abfälligen Handbewegung wandte sich der Hundebesitzer von mir ab. Da fiel mir die Geschichte Vorderbrandners ein, die ich vor einigen Wochen erzählt habe. Ich zögerte kurz – und beschloss dann, sie zu meiner zu machen: Ich ging zum Besitzer des kleinen kläffenden Hundes und fragte, ob er einen Kotbeutel für mich hätte. Mit seinem bereits arg strapazierten Nervenkostüm verneinte er dies. Ich fragte ihn, ob er, wenn sein Hund sein Geschäft macht, das einfach liegenlassen würde? Ich vernahm nur ein Brummen von ihm, sodass ich beschloss, zur Dramaturgie der Vorderbrandner-Geschichte zurückzukehren:

„Wissen Sie“, sagte ich weiter, bereits in die heiße Phase der Geschichte kommend, „ich müsste dringend mal, und da dachte ich, ich könnte den Kot, den ich dabei ausscheide, mit Ihrer Tüte aufsammeln. So könnten Sie ihn gleich mitnehmen.“

„Sie spinnen ja, Sie spinnen ja!“ rief der Mann agitiert, nervös den Stock werfend, um seinen kläffenden Hund für ein paar Sekunden zu sedieren. Da kam eine Frau mit ihrem Hund den Weg entlang. Kurzerhand fragte ich sie, ob sie einen Kotbeutel für mich hätte. Der Besitzer des Kläffers funkte sofort dazwischen und sagte: „Geben’S ihm nix! Der spinnt! Der möchte hier hinmachen!“ Mit Bemühungen, die ich als manisch wahrnahm, zerrte er die Frau auf seine Seite. Ich konnte aus seinem Verhalten nur schließen, dass er in mir das Böse und Bedrohliche der Welt komprimiert sah, gegen das er sich und die Frau schützen musste. Er steigerte sich in einen regelrechten Wahn, sodass ich erkennen musste, dass meine ursprüngliche Anfrage, nämlich einen Kotbeutel zu erhalten, wohl bis auf weiteres unbeantwortet bleiben würde. Ich sagte also, dass ich mein Bedürfnis noch ein Weilchen unterdrücken kann und etwas später wieder komme, um nach einem Kotbeutel zu fragen. Meine Aussage ging in den Agitationen des Mannes unter, der nach wie vor wie besessen auf die Frau einredete. Bahnte sich hier eine Liebesgeschichte an nach dem Motto: Hunderlherrln geselln sich gern? Sogar seinen Hund vergaß der Mann in seinem Liebeswerben, der laut kläffend nach seinem Stock verlangte.

Ich zog mich währenddessen wieder unter den Schatten der Linde zurück, wo gerade ein anderer Hund deren Stamm markierte. Spontan wollte ich selbiges tun, zögerte aber und widerstand der Aktion, meine Blase zu entleeren, mit folgender Überlegung: Wenn ich den Stamm der Linde markiere, werden dadurch sicher viele andere Menschenmännchen angelockt und markieren ebenfalls. Das will ich dem alten Baum nicht antun. Hohe Nitratbelastungen sind im fortgeschrittenen Baumalter nicht gut. Und ich will gut zur Linde sein, liebe ich sie doch über alles!

Ich lehnte mich wieder an ihren den Stamm und sah, dass sich etwas entfernt eine ganze Traube von Hundebesitzern gebildet hatte, mitten unter ihnen der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes. Aus seinen wilden Handbewegungen folgerte ich, dass er einen Vortrag über das Böse und Bedrohliche der Welt hielt. Ich war indessen froh über die alte Linde, die den Sturm so prächtig überstanden hatte, und sang nochmals ein Lied für sie, was den Besitzer des kleinen kläffenden Hundes, so sah ich im Augenwinkel, aber nicht besänftigte, im Gegenteil: Er redete noch eindringlicher auf die um ihn versammelte Schar ein.

Damit sollte die Geschichte erzählt sein, all meinem Zögern zum Trotz.

Deutschland, 2039 – ein Bericht

Die Bevölkerung leidet an akuter Erschöpfung. Auch neue Konsumimpulse, noch von der alten Regierung verordnet, reissen die Bevölkerung nicht aus ihrer Lethargie. Das Wirtschaftssystem ist am Zusammenbrechen, weil nur mehr das Nötige gekauft wird, nicht aber das Unnötige, was aber so dringend nötig wäre für eine Konjunkturbelebung.

Das noch größere Problem ist jedoch, dass die Leute offensichtlich auch die Lust am Sex verloren haben. Es werden kaum mehr Kinder geboren. Zentren künstlicher Befruchtung, die mit ihren Angeboten ebenfalls einen Teil zur Konjunkturbelebung beitragen sollen, melden stark rückläufige Klientenzahlen.

Mittlerweile haben militante Sozialaktivisten die Macht übernommen. Sie versprechen, die Menschen wieder in ihre Energie zu führen. Da die sexuelle Energie die stärkste Energie ist, wird als erstes an diesem Hebel angesetzt. Wir bedauern, dass wir die Menschen zum gemeinsamen Sex zwingen müssen, aber wir sehen keine andere Möglichkeit als Zwang auszuüben, denn die Menschen haben verlernt, gemeinsam Sex zu haben, sich aufeinander einzulassen. Sie haben nur mehr alleine Sex, mit technischen Hilfsmitteln, so eine Sprecherin der neuen Machthaber.

Als erstes wurde das sogenannte Sexualitätssozialkontrollgesetz verabschiedet. Das Gesetz schreibt unter anderem vor, dass in keiner Wohnung mehr die Vorhänge geschlossen werden dürfen. So soll ermöglicht werden, eine bessere soziale Kontrolle über sexuelle Aktivitäten zu erhalten. Sexuelle Aktivitäten an öffentlichen Plätzen sind nach diesem Gesetz ausdrücklich erwünscht, mit der Einschränkung, dass dadurch das öffentliche Leben in seinem Ablauf nicht empfindlich gestört werden darf. Ein Beispiel für eine solche empfindliche Störung sei, Sex mitten auf der Straße zu haben, sodass der Verkehr nicht mehr fließen kann, erläuterte die Sprecherin der neuen Regierung der Sozialaktivisten.

Die katholische Kirche, mittlerweile eine gesellschaftliche Randgruppe aus dem konservativen Spektrum, protestiert aufs heftigste gegen dieses neue Gesetz. Jahrhundertelang erkämpfte Werte des Abendlandes würden dadurch endgültig ausgelöscht, ein Verfall der Sitten halte Einzug. Die katholische Kirche proklamiert traditionell eine Verbannung sexuellen Lebens aus dem öffentlichen Raum. Ihre männlichen Eliten praktizieren stattdessen Sex mit jungen Knaben hinter verschlossenen Türen. Sie ist deshalb naturgemäß einer der schärfsten Kritiker des neuen Regierungskurses und des neuen Sexualitätssozialkontrollgesetzes.

Die neue Gesetzgebung stellt einen drastischen Einschnitt in das bisherige Leben der Menschen dar. Gespannt wartete man daher auf erste Erfahrungsberichte aus der Bevölkerung. Ein junges Paar, das vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes nur über das Internet gelegentlich sexuellen Austausch hatte, also eine übliche virtuelle Partnerschaft unserer Tage unterhielt, berichtet, dass es aufgrund des Sexualitätssozialkontrollgesetzes beschlossen habe, sich physisch zu treffen. Anfangs war es komisch, nebeneinander dazuliegen bei offenem Fenster oder auch im Park, berichten sie. Sie hatten das Gefühl, das befördere eher die Lethargie. Sie konnten nichts anfangen mit der Nähe ihrer Körper. Sie wollten sich Alkohol reinziehen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos. Doch dann haben sie irgendwann angefangen, sich zu berühren, sich zu spüren. Es war schön, sagen sie, auch, weil sie nicht aufhören mussten, obwohl sie mitten im Park waren. Das Gesetz gab ihnen guten Rückhalt. Sie konnten sich ihrer Lust hingeben, hier und jetzt. Sie mussten nicht nachhause gehen, wie früher, wo die Lust dann oft verflogen war in den engen vier Wänden und sie sich Alkohol reinzogen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos, um wieder Lust zu bekommen.

Von Regierungsseite heißt es, man hoffe, dass das Beispiel dieses Paares Schule macht und solche Berichte andere Menschen aus ihrer Erschöpfung und Lethargie reissen. Während die Hersteller von Alkoholika und Pornos aufs schärfste vor diesen Entwicklungen warnen.

Mister von Beruf

Als Entwicklungsingenieur für Verbrennungsmotoren, Fachbereich Dieselaggregate, habe ich gestern noch im Betriebschor – zur Hebung der Arbeitsmoral – Danke für meine Arbeitsstelle gesungen. Heute bin ich mit einem eigens bereitgestellten Bus unterwegs zur Agentur für Arbeit, da eine Restrukturierung leider die Kündigung einer ganzen Busladung von Personen notwendig gemacht hat.

Um bald wieder dankend im Chor der Beschäftigten singen zu können, blättere ich in der Agentur eine Broschüre durch, in der es um alternative Berufsfelder geht. Dabei fällt mir der Beruf des Misters auf. Es steht geschrieben:

Mister sind überwiegend in landwirtschaftlichen Betrieben tätig und auf die Beschäftigung mit Mist spezialisiert. Meist beschäftigt sich ein Mister mit Mistlogistik, also mit Fragen wie: Wo wird der Mist erzeugt? Wo soll er kompostiert werden? Wie wird seine Weiterverwendung garantiert und effizient ermöglicht? Bei diesen Fragestellungen reicht das Aufgabengebiet eines Misters heutzutage weit über den traditionellen Misthaufen hinaus.

Neueste Entwicklungen haben das Aufgabenfeld eines Misters über logistische Fragestellungen hinaus erweitert. Der Mister ist heute oft auch an der Gesundheits- und Nahrungssteuerung der misterzeugenden Tiere beteiligt, indem er den Mist untersucht und daraus wertvolle Rückschlüsse auf die Gesundheit der Tiere zieht. Er kann über den Mist feststellen, wie sich die Tiere ernährt haben und wertvolle Hinweise geben, ob die Ernährung beibehalten oder eventuell geändert werden soll.

In sehr großen landwirtschaftlichen Betrieben gibt es innerhalb des Berufsfelds des Misters noch weitere Spezialisierungen, wie etwa den Schweinemister oder den Kuhmister. Äußerst begehrt sind Stellen als Rossmister in Reitställen, da der Rossmist traditionell als hochwertigster Mist gilt. Der Umgang mit ihm geht daher mit einer entsprechenden Reputation einher.

Da der Beruf des Misters gegenwärtig ungemein populär ist, bezeichnen städtische Verwaltungen, die Mitarbeiter für Kanalisation und Abfallentsorgung suchen, diese neuerdings als Menschenmister. So vereint der Beruf des Misters Tradition und Moderne und bietet viele Entwicklungsmöglichkeiten.

König Arthurs Leben in Liedern

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, denn da alles mit allem zusammenhängt, ist es nicht leicht, einen Anfang zu finden. Ich weiß nicht einmal, ob es irgendetwas zu erklären gibt. Ich kann nur soviel sagen: Musik gefiel ihm. Musik gefiel ihm sehr. Mit Liedern wandelte er durchs Leben. Und er hieß Arthur, das weiß ich auch, und da er Arthur hieß, hielt er sich für einen König.

Seine bevorzugten Launen waren Größenwahn und Melancholie. Es ist nirgends festgehalten, dass es so war, es ist eine Vermutung, die auf Erzählungen beruht und mittlerweile vielleicht zu einem Mythos verklärt wurde, vor allem von mir, von seinem Sohn.

Je nach Laune hielt er sich unterschiedliche Ritter in seiner Tafelrunde. In seinem Größenwahn war Marc Bolan sein Lancelot, in seiner Melancholie war es Nick Drake. Später, als ihm seine Launenhaftigkeit zu anstrengend wurde, fand er in Bryan Ferry einen Kompromiss-Lancelot an seiner Seite, der für ihn glaubhaft sowohl Größenwahn als auch Melancholie verkörperte.

Doch dann war er nicht mehr da, mein König Arthur. Ich vermisste die Musik, die er mir vorgespielt hatte. Es war einsam zuhause, auf Camelot, wie ich es nannte. Als mich meine Mutter eines Abends ins Bett brachte, fragte ich, ob Vater jetzt auf Avalon sei. Gut möglich, sagte sie und machte ein trauriges Gesicht.

Sie sagte, dass er dort wahrscheinlich das Superweib suche, dass es aber schwierig sein könnte für ihn, ein solches zu finden, denn er sei nicht Supermann, und wie soll jemand ein Superweib finden, wenn er nicht Supermann ist. Ich las große Enttäuschung im Gesicht meiner Mutter. Ich verstand die Geschichte von Superweib und Supermann nicht. Ich verstand nur eines: Mein Vater würde immer König Arthur für mich bleiben, mit all den Musikern in seiner Tafelrunde.

In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Avalon, und wie mein Vater sich dort mit seinem Superweib herumtreibt. Das Superweib sah meiner Mutter erstaunlich ähnlich.

Bilder meines Traums

Camelot - Hof des König Arthur
Avalon - mystischer Aufenthaltsort von König Arthur
Marc Bolan
Nick Drake
Bryan Ferry

 

Geleitwort zur Ausstellung „Das Fernsehzimmer im 20. Jahrhundert“

Werte Damen und Herren,

ich habe gerade das große Glück, temporär Räumlichkeiten für künstlerische Zwecke zur Verfügung zu stellen, solange, bis diese Räumlichkeiten wieder helfen werden, die Wohnungsnot in unserer Stadt zu lindern.

Als mein Freund und Kollege Valentin Vorderbrandner auf mich zukam mit dem Anliegen, die Räumlichkeiten für eine Ausstellung zu nutzen, habe ich sofort zugesagt und mich auch bereit erklärt, als Kurator zu fungieren.

Vorderbrandner gestaltete den ihm zur Verfügung stehenden Raum auf eine Weise, die dem Besucher erlaubt, eine Reise in das bürgerliche Leben des 20. Jahrhunderts zu unternehmen. Durch die geschickten Arrangements des Künstlers kann man die Atmosphäre im Raum mehr als spüren, man kann förmlich in sie eintauchen.

Hier vorab eine Impression von der Ausstellung:

Die Ausstellung läuft voraussichtlich bis 10. August 2017. Anmeldung erbeten!

Herzlichst ergeben, das Leben aufs Höchste huldigend!

Ihr Emil Hinterstoisser

Lostopfavorit

„Bitte keine Wortwiederholungen im Text!“ predigte der Deutschlehrer im Unterricht.

Felix begann daraufhin seinen Text vorzulesen: Aus dem Lostopf wurde der Gefäßavorit gezogen…

„Stopp Felix!“ rief der Lehrer: „Was ist denn ein Gefäßavorit?“

„Weiß ich nicht.“

„Wieso verwendest du dieses Wort dann in deinem Text?“

„Weil Sie gesagt haben, wir sollen Wortwiederholungen vermeiden.“

„Was hat denn das damit zu tun?“

„Ich wollte nicht zweimal Topf schreiben. Aber wenn Ihnen das lieber ist, bitte schön!“ Felix begann erneut, seinen Text vorzulesen: Aus dem Lostopf wurde der Topfavorit gezogen…

Alarm auf dem Land

Mein Körper ist der Spiegel meiner Seele. Da sich mein Körper sehr müde anfühlte, sagte ihm meine Seele, er solle sich aufs Land bewegen, damit sie sich beide dort erholen können. Mein Körper bewegte sich also aufs Land, blieb aber bei seinen Bewegungen auf dem Land sehr wachsam. Diese Wachsamkeit hatte er sich durch sein Leben in der Stadt angewöhnt. Er sah sich sogleich bestätigt in seinem Verhalten, als er ein Verkehrsschild erblickte, dass vor Fuhrwerken warnt:

Höchst alarmiert rechnete er hinter jeder Kurve mit einem herandonnernden Fuhrwerk, vor dem er sich eventuell nur mit einem waghalsigen Sprung in den Straßengraben retten konnte. Meine Seele kam in dieser hektischen Atmosphäre nicht zur Ruhe, sodass sie anfragte, ob man nicht in die Stadt zurückkehren könne. Noch ehe sich mein Körper mit dieser Anfrage beschäftigen konnte, kam plötzlich ohrenbetäubender Lärm am Himmel auf. Mein Körper hielt sich die Ohren mit seinen Händen zu und rannte schutzsuchend in eine Scheune, wo er einen Mann antraf. Dieser Mann erklärte ihm, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland soeben seine Scheune überflogen habe, was er jedoch nicht verstehe, denn für die Überwachung des süddeutschen Luftraums sei doch die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 74 aus Neuburg an der Donau zuständig.

Meine Seele äußerte indessen den Wunsch, sich auf das Stroh in der Scheune zu legen, um etwas auszuruhen. Ehe mein Körper sich mit diesem Wunsch befassen konnte, sagte der Mann in der Scheune, dass sein Sohn im Fliegerhorst Lechfeld beschäftigt gewesen sei, bis er vor einigen Jahren ins nationale Lage- und Führungszentrum für Sicherheit im Luftraum nach Uedem am Niederrhein berufen worden sei.

Der Mann betrachtete nachdenklich einige Landmaschinen und -geräte, die vor ihm in der Scheune herumstanden und -lagen. Da kam ihm ein neuer Gedanke. Er sagte nämlich, jetzt fiele ihm ein, dass sein Sohn es sein könnte, der die Alarmrotte aus Wittmund geschickt hat, da er seinem Sohn vor einigen Tagen gesagt habe, er brauche dringend Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor, die jedoch nur in Norddeutschland zu bekommen wären.

Meine Seele meldete erneut den Wunsch an, sich ins Stroh zu legen, als es draußen wieder sehr laut wurde. Der Mann in der Scheune blickte mich mit großen Augen an und zeigte mit dem Finger nach oben, was nur bedeuten konnte, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland wieder im Anflug war, weil sein Sohn sie geschickt hatte. Plötzlich machte es in dem ohnehin schon kaum auszuhaltenden Lärm einen lauten Knall. Einige Metallteile landeten daraufhin im Stroh neben uns. Meine Augen blickten nach oben und sahen ein Loch im Dach der Scheune. Durch einen Fluchtreflex lief mein Körper mitsamt meiner Seele ins Freie. Meine Seele erlitt einen Schock, war sie doch beim Aufprall der Metallteile im Stroh gelegen. Gottseidank ist sie unsterblich.

Der Mann kam fluchend aus der Scheune. Er schimpfte über das kaputte Dach, anstatt sich über die Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor zu freuen, die ihm sein Sohn via Alarmrotte, quasi per Expresslieferung, zugeschickt hatte. Meine Seele wollte dem Mann danken, dass er meinen Körper davon abgehalten hatte, sich ins Stroh zu legen, doch mein Körper unterließ diese Geste des Dankes. Er hörte mit seinen Ohren das Donnern der sich entfernenden Kampfjets der Alarmrotte, und nach den bisherigen Erlebnissen konnte man davon ausgehen, dass die Alarmrotte, nach der erfolgten Lieferung der Ersatzteile für den alten Hanomag-Traktor, einem Fuhrwerk hinterherjagte, das von Terroristen gekapert worden war.

Bilder vom Start der Alarmrotte in Wittmund zur Lieferung der Hanomag-Ersatzteile

Kommst du mit in den Alltag?

Auf einmal hat sie gesagt: Ich verlasse diese Stadt. Dieser Satz überschritt meinen Möglichkeitsraum. Ich bin daraufhin auf mein Fahrrad gesprungen und kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Diese Stadt verlassen? Ich habe bitterlich geweint auf meinem Fahrrad, weil ich mir das nicht vorstellen konnte. Verlassen! Verlassen! Das war alles, was ich dachte. Ich bin immer kräftiger in die Pedale getreten. Ich spürte Nässe, ja natürlich, ich erinnere mich, es begann zu regnen. Ich bin weitergefahren, immer schneller, durch die Nässe. Muss ich diese Stadt jetzt auch verlassen wollen, um nicht von ihr verlassen zu werden? Ich will diese Stadt nicht verlassen!

Weißt du noch, rief ich, als wir auf der Wiese unter der alten Linde saßen, am anderen Ende die weidenden Schafe. Der Wind bewegte die grünen Blätter an den Bäumen und die weißen Wolken am Himmel. Im Hintergrund war das Brummen der Stadt zu hören. Weißt du das noch? rief ich durch den Regen.

Erschöpft kam ich in der Straße an und sah ihr Fahrrad im Regen stehen. Ich stellte mir vor, wie sie zufrieden mit ihrem Fahrrad durch diese Stadt fährt, durch unsere Stadt. Hier im Regen, bei ihrem Fahrrad, hier spielen also meine Träume. Wo ihre spielen weiß ich nicht. Haben wir zuviel geträumt? Morgen wird ein neuer Tag sein, die Sonne wird aufgehen, das Wunder wird von neuem beginnen, wie immer, ganz banal, ohne Träumerei.

Ich hörte die Musik nach draußen dringen. Ich ging hinein. Es war angenehm, im Trockenen zu sein, nach all dem Regen. Zu meinem Erstaunen viele Leute um mich. Zu meinem Erstaunen mein Blick zielsicher in die Ecke streifend, in der sie stand. Ich ging zu ihr und wir sahen uns tief in die Augen. Weißt du noch, wollte ich sagen, als wir auf der Wiese… – aber ich sagte nichts. Wir gehören doch zusammen! dachte ich sehr laut und ungestüm, aber auch das sagte ich nicht.

Sie sagte auch nichts, und sagte mir damit: Meine Träume sind woanders, wo auch immer, aber nicht hier. Sie schob mich beiseite und ging. Ich sank zu Boden, bis ich ausgestreckt auf dem Boden lag. Stille. Dann stimmten die Musiker auf der Bühne ein neues Lied an. Ich spürte plötzlich Hände an mir, Hände, die mich in die Höhe hoben. Ich wogte auf den Händen durch den Raum, im Rhythmus der Musik, und träumte von einem Alltag mit ihr.

Ist das alles was das Leben fragt: Kommst du mit in den Alltag?