Es ist unglaublich, wie bekannt die Geschichte von Desmond und Molly Jones ist, obwohl sie kaum jemand kennt. Ich will sie kurz, in all ihrer sozialkritischen Schärfe, erzählen:
Desmond betreibt einen kleinen Stand am Markt #Kapitalist. Molly singt in einer Band #Kreativ. Desmond sagt zu Molly: Du gefällst mir sehr. Molly sagt das auch zu ihm und nimmt seine Hand #RomantischeLiebe.
Desmond geht zum Juwelier und kauft einen goldenen Ring #Materialist. Molly wartet zuhause #Hausfrau, und als Desmond ihr den Ring gibt, fängt sie zu singen an #Reichtum.
Nach ein paar Jahren haben sich die beiden ein eigenes Heim gebaut #Zersiedelung. Ein paar ihrer Kinder rennen auf dem Hof herum #Übervölkerung.
Fröhlich geht es zu auf dem Markt #Kapitalismusverherrlichung. Desmond lässt sich am Stand von den Kindern helfen #Kinderarbeit. Molly bleibt zuhause und macht sich schön #ÄußereZwänge. Am Abend singt sie noch immer in der Band #Kreativ.
Die Geschichte von Desmond und Molly Jones ist nicht von mir, sondern von Paul McCartney. Als begnadeter Musiker hat er sie in ein Lied gepackt, nahm seine Gitarre und spielte sie den anderen Beatles in getragener und bedächtiger Weise vor, um ihre Bedeutung und Dramatik zu unterstreichen. John Lennon und George Harrison fanden McCartneys Vortrag furchtbar und verließen aus Protest das Studio. So viel Sozialkritik auf einmal hält kaum jemand aus! McCartney ärgerte sich maßlos und verließ ebenfalls das Studio, bestand jedoch auf der Aufnahme des Lieds.
Später kehrte Lennon alleine ins Studio zurück. Er setzte sich ans Klavier und klimperte hastig darauf herum. Nach und nach kamen die anderen auch zurück. Teil von Lennons Geklimper wurde schließlich der neue Auftakt des Lieds. McCartney, von den anderen genötigt, seine akustische Gitarre zur Seite zu legen und das Lied in höherem Tempo als von ihm vorgeschlagen zu spielen, nahm seinen Bass und rotzte ihn recht eintönig dahin. Er war frustriert von der Entstellung seiner Geschichte, aber von ihrer Wichtigkeit nach wie vor überzeugt und ließ sich auf die musikalischen Kompromisse ein. So klimperten und schepperten und alberten sich die Beatles durch den Song, bis das herauskam, was wir heute kennen:
#Obladioblada (yorubisch: Es kommt, wie es kommt).
Bei aller Sozialkritik in der Geschichte von Desmond und Molly Jones stimmt der eingeschobene Chorus optimistisch: Es kommt wie es kommt, das Leben geht weiter. Brah! #Optimismus #Freude
Ein sehr alter Zug stand am Bahnhof melancholisch zur Abfahrt bereit. Vorderbrandner öffnete die mechanische Tür und stürmte als Erster in den Waggon. „Toll, sagte er, die alten Garnituren! Die mag ich am liebsten! Die haben so etwas Nostalgisches, wie die Titanic.“ Vorderbrandner war aufgewühlt. Er war in Kathi verliebt, über beide Ohren, und hatte sich fest vorgenommen, heute Abend ihr Herz zu erobern. Kaum war der Zug losgefahren, drängte er uns, nach draußen zu gehen, denn die alten Garnituren hatten an beiden Waggonseiten offene Enden. Vorderbrandner ging wieder voraus, Kathi an der Hand nehmend, Konsti und ich händchenhaltend hinterher. Wir gingen ans Ende des Zuges, wo eine Tür ins Freie unter ein Vordach führte. Wir gingen durch die Tür nach draußen und standen – mit viel romantischer Imaginationskraft – auf einer fahrenden Loggia. Die Landschaft zog an uns vorbei und erschien wie ein Meer aus Dunkelheit.
Auf der Loggia des alten Waggons
„Wie in einem Cabrio ist es hier!“ sagte Vorderbrandner und spielte damit auf das Cabrio an, mit dem Kathis Mutter damals durch den Ort fuhr. Er wirkte sehr entschlossen und sagte zu Kathi: „Mach mal die Augen zu!“
„Wozu denn?“
„Mach sie einfach mal zu!“
Widerwillig schloss Kathi die Augen. Vorderbrandner fasste sie von hinten, hob sie etwas in die Höhe und klemmte sie zwischen sich und das Geländer: „Und jetzt öffne sie! – Siehst du: Du fliegst, wie auf der Titanic!“
„Lass mich runter Valentin!“ protestierte Kathi sofort gegen Vorderbrandners improvisierte Ich-fliege-Szene am Bug der Titanic.
Vorderbrandner aber drückte sie noch fester ans Geländer und rief: „Breite die Arme zur Seite aus! Du fliegst!“
In Vorderbrandners Drehbuch würden sie sich gleich küssen, wie Kate und Leonardo auf der Titanic. Stattdessen aber, Vorderbrandners Drehbuch in keiner Weise folgend, wiederholte Kathi ihre Aufforderung an ihn, sie runterzulassen. Als er nicht locker und ihr seine überlegene Physis spüren ließ, kam ein leichtes verzweifeltes Winseln in ihre Stimme. Ein Kuss war jedenfalls weit entfernt. Da fiel es mir wieder ein: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Peinliche Berührtheit statt großem Kino auf der Loggia des alten Waggons.
Vorderbrandner gab schließlich nach, und Kathi ging mit beleidigter Miene ins Waggoninnere. Er stürmte ihr nach. Ich hielt Konsti am Arm fest. Sie drehte sich zu mir. Dann nahm sie mich mit ihrer anderen Hand und zog mich nach drinnen. Drinnen herrschte eisige Stimmung. Wir saßen da, Konsti und ich auf der einen Seite, Kathi und Vorderbrandner auf der anderen, ohne etwas zu sagen. Hörten das Rattern des Waggons auf den Schienen unter uns. Kathi blickte demonstrativ von Vorderbrandner weg. Bei den beiden herrschte die Hölle, während ich mit Konsti im Himmel war. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht Konstis Hand zu nehmen. Doch das erschien mir unpassend angesichts der Hölle, die sich mir gegenüber auftat. Für einen Moment drehte Kathi ihren Kopf leicht zu Vorderbrandner: In ihrem Gesichtsausdruck begegnete er seinem persönlichen Eisberg. Ich merkte ihm seine tiefe Enttäuschung an.
Vorderbrandners Eltern wohnten im unteren Dorf, eine Station vor dem oberen Dorf, während Kathi, Konsti und ich im oberen Dorf wohnten. Als der Zug am unteren Dorf hielt, brach Kathi das Schweigen: „Valentin, steigst du nicht aus?“ fragte sie Vorderbrandner mit gespielter Höflichkeit, der eine Aufforderung innewohnte.
„Nein, ich…“
„Doch Valentin, du steigst hier aus!“ sagte sie, nun jede Höflichkeit ablegend.
In diesem Moment rammte Vorderbrandner endgültig den Eisberg. Die kalte Hölle tat sich auf. Es warf ihn von Bord. Er entschwand durch die Tür der alten Garnitur in die dunkle Nacht, die ihn einsog wie der weite, große Ozean. Ich dachte, ich würde Vorderbrandner nie mehr wieder sehen, so sehr hatte ihn die Dunkelheit eingesogen und verschlungen. Ich dachte, eine große Männerfreundschaft würde in diesem Moment zerbrechen.
Trotzdem sprang ich ihm nicht nach in die Dunkelheit, sondern fuhr ich mit Kathi und Konsti weiter ins obere Dorf. Für Konsti war ich bereit, Vorderbrandner zu opfern. Am Bahnhof verabschiedete sich Kathi von uns. Konsti drehte sich zu mir und legte ihren Arm um mich. Sie sagte, ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister seien nicht zuhause und fragte mich, ob ich zu ihr mitkommen möchte. Der Himmel war voller Geigen.
Wir waren junge Männer, sehr junge Männer, als Vorderbrandner zu mir gelaufen kam und freudestrahlend rief: „Ich habe Kathi und Konsti überredet, mit uns ins Kino zu gehen!“
Ich fühlte mich überrumpelt. Etwas in mir wehrte sich dagegen, in Vorderbrandners Freude einzusteigen. Ich fragte distanziert: „Um was anzusehen?“
„Titanic natürlich! Kate Winslet und Leonardo di Caprio!“
Ich verstand in diesem Augenblick nur: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Wirklich, genau das verstand ich: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Eine Situation, die bei genauerer Betrachtung nicht zu erhebenden kinowürdigen Momenten zählt: dass eine Frau in eines Mannes Cabrio winselt. Aber ich verstand genau das. Ich sagte: „Nein, keine Lust“, und ging weg. Ich glaube, Vorderbrandner hätte mich in diesem Moment am liebsten auf den Mond geschossen. Doch er tat es nicht. Es gehört zu Vorderbrandners Eigenschaften, Dinge so hinzunehmen, wie sie sind und sie nicht auf den Mond zu schießen.
Nach meiner Absage für den gemeinsamen Kinoabend sah ich Konsti am nächsten Tag zu meiner eigenen Überraschung mit ganz anderen Augen. Schön fand ich sie vorher schon, aber jetzt fand ich sie plötzlich wunderschön. Ich hatte das Gefühl, Konsti ist die einzige Frau auf der Welt für mich. Ich ärgerte mich, dass ich Vorderbrandner abgesagt hatte und nicht mit Konsti ins Kino gehen würde, aber mein Stolz verhinderte, dass ich meine Absage widerrief. In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Konsti, und als ich am Morgen erwachte, war ich ganz liebestrunken. Ich sah Konsti tagsüber wieder – wir gingen in dieselbe Schule – und schließlich siegte meine Verliebtheit über meinen Stolz. Ich sagte Vorderbrandner, dass ich doch gerne mitkommen möchte, um mit ihm, Kathi und Konsti Titanic anzusehen. Ich sehe noch das Lächeln in Vorderbrandners Gesicht, als ich ihm das sagte. Es war ein perfekter Moment, der uns beide glücklich machte. Es war ein Moment der Liebe zwischen Männern. Von diesem Moment an fieberten wir beide, ohne es uns zu sagen, auf den Abend hin, an dem wir endlich den Zug aus unserem Kaff in die Stadt nehmen würden, um Kathi und Konsti ins Kino auszuführen.
Kathi war die Tochter unseres Dorfarztes. Konstis Eltern waren Rechtsanwälte. Sie waren quasi Töchter des bürgerlichen Adels, während Vorderbrandners und meine Eltern Abkömmlinge von Bauersleuten waren. Als der Tag des großen Kinoereignisses endlich gekommen war, stieg eine Zweiklassengesellschaft in den Zug, um Titanic anzusehen: Kathi und Konsti, die zwei adligen Damen, mit Vorderbrandner und mir, ihren proletarischen Begleitern.
Im Kino saßen wir in einer Reihe: Vorderbrandner ganz links, neben ihm Kathi, dann Konsti und ich ganz rechts. Zu Beginn der Vorstellung nestelte Vorderbrandner ständig in seinem Stuhl herum, um Kathi näherzukommen. Soweit ich es mitbekam, mit mäßigem Erfolg. Ich weiß noch, dass mich der Film anfangs recht langweilte. Großes Schiff das untergeht, armer Mann der stirbt und reiche Frau die lebt. Dieser Plot erschien mir zu einfältig. Und an das Glück zwischen Mann und Frau glaubte ich sowieso nicht, weil ich meine Eltern als sehr unglücklich in ihrer Beziehung erlebte. Unser Deutschlehrer hatte uns Schüler damals belehrt, wie es in einer Beziehung so ist: Ist der Himmel heute voller Geigen, morgen ist die Hölle los! Ich bewunderte ihn dafür: Endlich einer, der die Wahrheit sagt. Danach hatte er mit uns Erich Fried gelesen: Es ist was es ist, sagt die Liebe. Und jetzt: saß ich in dieser Liebesschmonzette. Ich wollte das Leben sehen, den Himmel und die Hölle, nicht verkitschte Liebe!
Erst als sich Kate Winslet nackt auf die Couch legte, um von Leonardo di Caprio gemalt zu werden, wurde ich aufmerksam. Ich stellte mir vor, wie sich Konsti vor mir nackt auf die Couch legt. Mir wurde heiß. Ich weiß nicht wie es geschah: Plötzlich war meine Hand auf Konstis Oberschenkel. Ich erschrak. Sie aber legte ihre Hand mit zustimmender Geste auf meine. Jetzt wurde der Film dramatisch: Kate darf nicht sterben auf der Titanic, sonst stirbt Konsti für mich. Und Konsti war alles für mich. Es würde nie mehr eine andere Frau für mich geben als Konsti! Da war ich mir damals im Kino ganz sicher. Ich wünschte mir, dass der Film niemals zu Ende gehen würde.
Die Titanic brauchte lange zum Untergehen, aber irgendwann war der Film zu Ende. Wir wurden auf die Straße gespült. Die frische Luft war ernüchternd, tat aber auch gut. Wir eilten sofort zum Bahnhof, um den letzten Zug in unser Kaff zu erwischen. Vorderbrandner lief vorneweg, dahinter Kathi, Konsti und ich hintennach. Wir hielten uns an den Händen, Konsti und ich, als wir zum Bahnhof liefen. Es wäre mir egal gewesen, den Zug zu versäumen. Das wichtigste war, Konstis Hand nicht zu verlieren.
Das Eigenartige ist, dass von allem immer auch das Gegenteil wahr ist. Wenn ich sage, es geht mir gut, impliziere ich damit, dass es mir auch schlecht gehen kann. Wenn ich nur sage, es geht mir, ohne gut oder schlecht, so halte ich mir damit die Möglichkeit offen zu sagen, es steht mir, vielleicht sogar bis zum Hals. Wenn ich sage Hals, erkläre ich alles andere am Körper zum Nicht-Hals. Neulich las ich: barfuß bis zum Hals. Der das schrieb, verneint alles am Körper vom Fuß bis zum Hals, was er ebensogut bejahen könnte.
Barfuß bis zum Hals, so ging ich auf der Wiese, um im See zu baden, was eine Dame, die mir entgegenkam und mich mit entsetztem Blick betrachtete, nicht tat, nein, sie tat das Gegenteil: Sie war nichtbarfuß bis zum Hals, was man als vollständig bekleidet bezeichnen könnte, und hatte nicht vor zu baden. Ich fragte sie – ob ihres entsetzten Blickes – ob sie noch nie einen Mann nackt gesehen habe. Sie nickte und sagte, ihr Mann und sie wären selbst beim Sex nie vollständig nackt und hätten ihn außerdem nur im Dunkeln. Ihr Schamgefühl erlaube ihr nicht, einen Mann nackt zu sehen und sich einem Mann nackt zu zeigen. Dann hoffe ich, sagte ich, dass es dunkel war, als Sie geboren wurden, ansonsten wären Sie bereits zu diesem Zeitpunkt ihrem Schamgefühl schutzlos ausgeliefert gewesen.
Ich ging weiter, als sich mir eine andere Frau näherte, die sich im selben Zustand befand wie ich, nämlich barfuß bis zum Hals oder mit unbedecktem Hals bis zu den Füßen, je nach Sichtweise. Diese Frau gefiel mir, doch ehe ich ihr das sagen konnte, sagte sie zu mir, dass ich ihr gefalle und dass ihr mein Penis gefalle und ob es mir gefallen würde, ihren Penis zu streicheln und zu lecken. Ich sagte ihr, dass ich nicht genau wissen würde, was sie damit meine, also sagte sie mir, dass ihre Klitoris zwar Klitoris heiße aber in Wahrheit ein Penis sei, ein kleiner aber feiner Penis. Mich erregte, wie sie das sagte und ich stimmte zu, ihren kleinen feinen Penis zu streicheln und zu lecken. Ich kniete mich vor sie und sie spreizte ihre Beine ein wenig, damit ich sie besser streicheln und lecken konnte. Während ich ihren Penis namens Klitoris streichelte und leckte, bewegte sich mein eigener Penis in die Höhe, oder – das ist vielleicht die bessere Beschreibung – er bewegte sich in die Tiefe, denn er zeigte zum Himmel, und nur im Himmel sind die tiefsten, unendlichen Tiefen, während die Erde zwar tief ist, aber irgendwann kommt man auf der anderen Seite wieder raus. Galilei stellte fest: Die Erde ist eine Kugel und keine Scheibe mit Höhen und Tiefen.
Ich streichelte und leckte weiter die Klitoris, und mir war, als ob sich alles Gegensätzliche auflösen würde, als ob die Welt eins und ganz wäre. Da sagte die Frau: Jeder Moment ist da, um zu vergehen. Alles bewegt sich, immer und fortwährend, und alles Körperliche ist nur dazu da, uns die Existenz des Unkörperlichen zu zeigen. Da entdeckten wir unsere Körper abseits von Klitoris und Penis, wir erkundeten ihre Oberflächen und Öffnungen. Diese Erkundungen erregten mich sehr, ließen mich fallen in einen Zustand der Glückseligkeit. Ich ringe nach Worten, und mir scheint, das Nicht-Wort wäre in dieser Situation angebrachter.
Plötzlich ging Wittgenstein neben uns ins Wasser zum Baden. Ja, es war Wittgenstein, barfuß bis zum Hals, und ich rief zu ihm hinüber: Du hast recht, Ludwig – wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, während er kopfüber ins Wasser tauchte, ohne ein Wort.
Einst waren Esel die Herrscher über die Geschöpfe der Welt und hielten sich die Menschen als Diener. Die herrschenden Esel züchteten ein Gemüse namens Passa, das ihre Lieblingsspeise war. Passa sah den heutigen Karotten ähnlich, doch weil die Esel es hauptsächlich in trockenen und kargen Gegenden anbauten, wo sie bevorzugt ihre Herrschaftsdomizile errichteten, war Passa von gröberer Konsistenz und bitterer im Geschmack als Karotten. Den Eseln jedenfalls schmeckte Passa vorzüglich. Mit dem Ende der Eselsherrschaft endete jedoch auch die Passa-Kultur. Die Pflanze gilt heute als ausgestorben.
Unter den Menschen, die den Eseln dienten, hatte es besonders ein Geschlecht zu höchsten Dienerwürden gebracht: Sprösslinge aus diesem Geschlecht waren der Esel liebste Diener. Als die Eselsherrschaft endete, brach mit einem Mal die Existenzgrundlage für dieses stolze Dienergeschlecht weg. Jahrhundertelang zogen seine Nachkommen wie Nomaden durch die Welt, bis sie schließlich in der Pfalz sesshaft wurden und dort eine neue Heimat fanden. Als es später üblich wurde, einen Nachnamen zu tragen, gab sich dieses Geschlecht, in Erinnerung seiner Wurzeln, den Namen Grautier.
Josef Grautier ist ein Sprössling aus diesem Geschlecht. Er ist in der Pfalz geboren. Bei einem Ausflug in das französische Zentralmassiv lernte Josef Marie kennen. Wenig später beschlossen die beiden zu heiraten. Josef zog aus der Pfalz in das kleine, hochgelegene Dorf im französischen Zentralmassiv, in dem Marie wohnt. Um sich besser zu integrieren, nannte er sich fortan Jean-Paul statt Josef.
Die Böden in der Gegend, in der Jean-Paul mit Marie nun wohnte, sind sehr karg und trocken. Es wachsen nur vereinzelt Bäume im weiten Grasland. Ab und zu durchziehen Buschreihen die Landschaft. Als Jean-Paul, wie Josef sich nun nannte, diese Landschaft betrachtete, bemerkte er, dass sie der ideale Lebensraum für Esel ist. Er besorgte sich daraufhin einen Esel und war sehr stolz darauf, die Familientradition der Grautiers wieder zu beleben, wenn auch mit umgekehrten Rollen. Jean-Paul nannte den Esel Belmondo, weil er seiner Meinung nach die Welt schöner machte.
Als Jean-Paul eines Tages eine Karotte in der Hand hielt und Belmondo das sah, fing das Grautier laut zu schreien an:
Jean-Paul ging zu Belmondo und hielt ihm die Karotte zum Fressen hin, doch Belmondo schnupperte nur kurz daran und wandte sich anschließend angewidert ab. Jean-Paul erinnerte sich, was seine Vorfahren ihm überliefert hatten und schlussfolgerte, dass die Karotte Belmondo wahrscheinlich an Passa erinnert und damit an die glorreichen Herrschaftstage seiner Gattung. Aber weil es eine Karotte ist und keine Passa, ist er enttäuscht und will sie nicht fressen.
Als Jean-Paul schon ein paar Wochen bei Marie lebte, klingelte es eines Tages an der Tür. Jean-Paul öffnete, und vor ihm stand der Bürgermeister des Dorfes mit einem Geschenk in der Hand. Der Bürgermeister sagte: „Schön, dass Sie, der berühmte Modeschöpfer, sich unser Dorf als neue Heimat ausgesucht haben!“
Jean-Paul verstand nicht und blickte hilfesuchend zu Marie. Marie kam an die Tür und sagte: „Mein Mann heißt Grautier, Herr Bürgermeister, nicht Gaultier. Sie verwechseln ihn.“
Irritiert wandte der Bürgermeister seinen Blick von Jean-Paul ab und dem Stall zu, wo er Belmondo sah: „Stimmt! Jetzt sehe ich es: Sie haben ein Grautier und kein Gaultier! Entschuldigen Sie!“ sagte er und ging mitsamt seinem Geschenk wieder davon.
Wenige Wochen nach dem Besuch des Bürgermeisters wiederum wurde Marie schwanger, wenngleich man diese beiden Ereignisse nicht zwingend miteinander in Beziehung setzen muss. Marie sagte zu Jean-Paul: „Mit all meinen Ex-Freunden habe ich versucht, ein Kind zu bekommen. Das halbe Dorf hat sich versucht. Nie hat es geklappt. Wieso sollte es ausgerechnet mit dir klappen? Das Kind ist wohl von Gott geschenkt!“
Einige Monate später, als es Winter wurde, bemerkte Jean-Paul, dass zu wenig Holz für die kalte Jahreszeit eingelagert war. Da Holz in der kargen Gegend um das kleine Dorf nicht verfügbar war, wollte er deshalb mit Belmondo nach Clermont-Ferrand reiten, um dort welches zu besorgen.
„Reite jetzt nicht nach Clermont-Ferrand!“ bat ihn Marie: „Bleib nicht so lange weg, jetzt, da das Kind jederzeit auf die Welt kommen kann.“
„Aber wenn das Kind erst da ist, ist es doch noch beschwerlicher für dich, wenn ich so lange weg bin!“ entgegnete Jean-Paul.
Schließlich einigten sie sich darauf, dass Marie mitkommt nach Clermont-Ferrand. Sofort brachen sie auf, um keine Zeit zu verlieren. Marie setzte sich auf Belmondo, Jean-Paul lief nebenbei her. Als es zu dämmern begann und sie noch das nächste Dorf erreichen wollten, um dort ihr Nachtlager aufzuschlagen, sagte Marie: „Ich glaube, durch das Herumgepoltere auf Belmondo ist gerade meine Fruchtblase geplatzt. Ich muss mich sofort hinlegen, die Geburt steht unmittelbar bevor!“
Jean-Paul versuchte sie zu überreden, es doch noch zu versuchen, bis zum nächsten Dorf zu gelangen. Nach einiger Diskussion lenkte er jedoch ein. Schließlich bekam Marie das Kind und nicht er. Er sah einen Schuppen am Wegesrand, in dem Heu und Stroh gelagert wurde und sagte zu Marie: „Leg dich in das Stroh! Ich suche derweil nach trockenen Buschzweigen, um uns ein kleines Feuer zu machen.“
Als Marie sich hingelegt hatte, machte Jean-Paul seine LED-Taschenlampe an und suchte in der Umgebung des Schuppens nach trockenen Buschzweigen. Plötzlich hörte er Geräusche von hastigen Schritten, die sich dem Schuppen näherten. Er richtete den Lichtschein der Lampe in Richtung der Geräusche und erblickte in ihm drei Männer, die, als sie vom Lichtschein getroffen wurden, laut zu seufzen begannen und sich enttäuscht auf die Knie warfen.
„Was ist denn mit euch los?“ fragte Jean-Paul.
„Wir dachten, wir hätten den Halleyschen Kometen erblickt. Dabei ist es nur der Schein einer LED-Taschenlampe!“ sagte einer der drei Männer.
„Wieso dachtet ihr, den Halleyschen Kometen erblickt zu haben?“
„Wir sind drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern“, sagte der zweite der Männer.
„Aus Kaiserslautern? Quasi aus meiner Heimat, der Pfalz!“
„Ja, aus Kaiserslautern“, fuhr der dritte fort. „Wir haben herausgefunden, dass der Halleysche Komet nicht erst, wie bisher angenommen, am 29. Juli 2061 das nächste Mal von der Erde aus sichtbar sein wird, sondern bereits am 6. Januar 2018. Außerdem gehen wir davon aus, dass der Komet vom französischen Zentralmassiv aus am besten zu sehen sein wird. Deshalb sind wir aus Kaiserslautern hierhergekommen.“
Jean-Paul hielt etwas verduzt seine LED-Taschenlampe in der Hand, deren Schein noch immer auf die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern gerichtet war, als einer der drei ausgerechnet eine Karotte aus seiner Tasche holte. Belmondo fing daraufhin natürlich laut zu schreien an. Alle Beschwichtigungen von Jean-Paul an das Tier halfen nichts.
„Das Grautier hat die Passagier!“ rief Jean-Paul durch das Geschrei zu den Wissenschaftlern: „Es ist wohl das unverarbeitete Trauma des Herrschaftsverlusts, das ihn immer wieder heimsucht. Vielleicht können Sie das mal näher untersuchen!“
Als der Wissenschaftler die Karotte wieder in seine Tasche gesteckt und Belmondo sich einigermaßen beruhigt hatte, hörte man Marie aus dem Schuppen rufen: „Jean-Paul, das Kind ist geboren!“
„Entschuldigen Sie mich! Meine Frau hat soeben ein Kind geboren“, sagte Jean-Paul zu den Wissenschaftlern und lief eilig in den Schuppen.
„Ist das nicht ein Wunder!“ sagte einer der Wissenschaftler, „dass wir genau zu dem Zeitpunkt hier sind, wenn ein Kind geboren wird! Das ist noch viel schöner, als den Halleyschen Kometen zu sehen!“
Daraufhin sammelten sie trockene Buschzweige. Sie entzündeten mit den Zweigen ein kleines Feuer und warfen zur Feier des freudigen Ereignisses Weihrauchharz und Myrrhe in die Flammen. Als Jean-Paul vom Schuppen aus mit der LED-Taschenlampe auf den heiligen Rauch leuchtete, sah es tatsächlich so aus, als sei dies der Schweif des Halleyschen Kometen.
Durch den Lichtschein angelockt, kamen Schafhirten mit ihrer Herde zum Schuppen. Als die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern ihnen von der Geburt des Kindes erzählten, nahmen sie ihre Instrumente und spielten dem Neugeborenen eine Serenade:
Altjahrestag nannte mein Vater den 31. Dezember. Am Altjahrestag des Jahres 1984 – ich war sieben Jahre alt – streifte er mit mir durch die weiße Natur. Die ganze Landschaft war unter einer tiefen Schneedecke begraben. Wir stapften durch Wälder und über Wiesen. Der Schnee knirschte unter unseren Tritten. Sonst war es still. Alles schien zu ruhen. Später dann, zuhause, war es warm und gemütlich. Das Holz im Ofen knisterte. Es gab Warmes zu essen und zu trinken. Meine Mutter brachte mich ins Bett, und als sie mir den Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte, fragte ich die eine, in der Folge alles bestimmende Frage: „Wird jetzt nie mehr 1984 sein?“
Mutter dachte an George Orwell. Es lag ihr auf den Lippen zu sagen: 1984 fängt gerade erst an, und wer weiß, ob es jemals enden wird! Aber weil sie wusste, dass ich nicht an George Orwell denke, sagte sie: „Nein, denn morgen wird 1985 sein.“ Ich war zufrieden mit dieser Antwort. Ich spürte, dass ich das Jahr 1984 gut beendet hatte und schlief zufrieden ein. Seitdem ist es mir wichtig, Dinge gut zu beenden. Nicht nur ein Jahr. Sondern auch – einen Tag, zum Beispiel.
Einen Tag beende ich gerne mit der Wettervorhersage in den Tagesthemen. Am liebsten, wenn Sven Plöger sie moderiert. Nachdem er gesprochen und die Wetterkarten erläutert hat, gehe ich beruhigt ins Bett. Ich stelle mir vor, wie die Sterne über mir wachen und über allen die mir nahe sind und schlafe zufrieden ein.
Heute ist wieder Altjahrestag. Dieses Jahr will ich etwas Besonderes machen: Ich will das Jahr mit seinen Tagen beenden. Ich habe mir zu diesem Zweck alle Wettervorhersagen der Tagesthemen vom 1. Januar bis zum 30. Dezember besorgt. Folgende Rechnung wird meinen Tag bestimmen: Eine Vorhersage dauert ungefähr zwei Minuten. Es dauert folglich 364 mal zwei Minuten, um alle bisherigen Vorhersagen des Jahres anzusehen, also zwölf Stunden und acht Minuten.
Ich bin früh aufgestanden und setze mich um acht Uhr früh vor den Bildschirm, um die Videos der Wettervorhersagen anzusehen, Tag für Tag. So habe ich genügend Zeit, tagsüber ein paar Pausen zu machen. Krönender Abschluss soll am Abend die aktuelle Vorhersage des 31. Dezember sein.
Der Januar ist kein Problem. Schon im Februar aber fällt mir auf, dass es nicht dasselbe ist, eine alte Wettervorhersage anzusehen statt der tagesaktuellen. Die Dringlichkeit ist weg. Im März bemerke ich, dass Sven Plöger in Dauerschleife etwas nervig wird. Trotzdem halte ich tapfer durch. Ab April werden meine Pausen häufiger, immerhin habe ich schon über drei Stunden auf dem Buckel, und ich sehne die Mittagspause herbei, die ich mir nach dem Mai gönnen will.
Mitte April beschließe ich, die Mittagspause vorzuverlegen. Nach etwa einer Stunde steige ich wieder ein, bis ich Mitte Juni, während der Vorhersage für den 14. des Monats, beschließe, das Experiment abzubrechen. Es wird zu anstrengend. Ein Jahr lässt sich nicht zum Tag machen.
Was nun? Draußen wird es noch etwa eine Stunde hell sein. Ich ziehe mich warm an und gehe nach draußen. Dort angelangt, bemerke ich zu meiner Freude, dass der Boden und die Bäume mit Schnee bedeckt sind, wie einst am Altjahrestag 1984, als ich sieben Jahre alt war. Ich stapfe zufrieden durch die weiße Natur. Der Schnee knirscht unter meinen Tritten. Sonst ist es still. Alles scheint zu ruhen. Als es zu dämmern beginnt, summe ich das Wiegenlied von Brahms, zu dem ich als kleiner Junge, daran erinnere ich mich jetzt, gerne eingeschlafen bin. Ich mache mich auf den Heimweg und sage zum alten Jahr: Gute Nacht, altes Jahr, es war sehr schön mit dir!
Als ich erwachsen wurde, merkte mein Vater, dass er mich nicht weiter würde beschützen können vor den Schlägen dieser Welt, dass er mich entlassen muss ins Leben, auf die Gefahr hin, dass ich Schläge abbekomme. Die Angst, dass sein Sohn Schläge abbekommen könnte, solche Schläge abbekommen könnte wie er, diese Angst hat er nicht ertragen. Auch das Trinken half nicht mehr: Diese Angst wurde zu groß. Mein Vater hat nie gelernt, Dinge auszusprechen. Deshalb blieb er allein in seiner Angst. Deshalb hat er es nicht mehr ausgehalten. Deshalb hat er beschlossen, zu gehen, leise, ohne etwas zu sagen. Wurde einfach krank, todkrank, starb und verstummte endgültig.
Viktor Frankl sagt, es gibt keine Täter und keine Opfer. Es gibt nur Menschen, die sich zu Tätern machen und andere zu Opfern und Menschen, die sich zu Opfern machen und andere zu Tätern. Aber sie bleiben immer Menschen. War mein Großvater also ein Mensch, der sich zum Täter gemacht hat und andere zu Opfern und mein Vater einer, der sich zum Opfer gemacht hat und andere zu Tätern? Oder sollte ich endlich aufhören, in Täter- und Opferkategorien zu denken?
Das Zimmer meines Therapeuten, in dem die Blätter auf dem Boden liegen, verwandelt sich in eine Lichtung, die vom Vollmond beschienen wird. Die Bäume stehen wie stumme Wächter ringsherum. Da erscheint mein Großvater auf der Lichtung. Er ist nicht so, wie sie mir von ihm erzählt haben, nämlich besoffen und schlagfertig, sondern klar und ruhig. Mein Großvater sagt: Natürlich bin ich gegen den Krieg, natürlich. Doch ich bin nicht Herr geworden über den Krieg, über den Krieg in mir. Stattdessen haben andere ihn abgekriegt: die Juden. Dein Vater. Dann geht er fort, über die in mondblau getränkte Lichtung hinweg, auf der ich jetzt meinen Vater stehen sehe. Mein Großvater nimmt meinen Vater in den Arm, als wäre der Krieg nie ein Thema gewesen, sondern nur die Liebe, die Liebe, die Liebe. Ich blicke zur Erde: Ich rieche und spüre sie in ihrer nächtlichen Feuchte und Kühle. Ich denke an die Juden, auf die mit dem Finger gezeigt wurde, auf die die Waffen gerichtet wurden, die getötet wurden. Ich denke an die Friedfertigkeit predigende Christenheit, die seit Jahrhunderten an das Morden gewöhnt ist.
Und nun zum dritten Zettel, sagt der Therapeut und holt mich von der Lichtung ins Zimmer zurück: zu dir! Entsetzt blicke ich auf den Zettel, also auf mich. Was soll ich denn nun machen in diesem emotionalen Chaos, in diesem Jammertal der Ahnen? In diesem verworrenen Krieg mit meinen Vätern? Die Wut hat mich müde gemacht, sage ich. Ich habe keine Kraft mehr, auf meinen Vater und meinen Großvater wütend zu sein. Ich finde keine Kraft bei meinen Vätern, bei diesen Verlierern! Wie soll ich Kraft haben für mein eigenes Leben? Verzweifelt werfe ich mich auf den Boden und weine, weine, weine. Dann richte ich mich auf und schreie, schreie, schreie. Meine Fassade der Friedfertigkeit zerbröselt. Der Krieg ist endgültig ausgebrochen in mir und überwältigt mich. Alle Versuche aber, die Angriffe gegen meinen Großvater fortzusetzen, laufen ins Leere. Ich bin zurückgeworfen auf mich selbst. Ich kehre zurück zur mondblauen Lichtung, auf der ich eben meinen Großvater getroffen habe. Ich sehe ihn am anderen Ende stehen, am Waldrand, bei den schwarzen Bäumen der Nacht, mit meinem Vater. Dort sind sie also stehen geblieben. Warten sie auf mich? Ich denke mir: Ihr könnt mich doch jetzt nicht alleine lassen! Ich brauche euch! Verschwindet nicht im Wald, wartet! Ich stehe auf und laufe, so schnell ich kann. Ich laufe auf die beiden zu und habe das Gefühl, gleich erbarmungslos in sie hineinzustoßen, mit einem heftigen Aufprall, doch plötzlich heben sie mich mit einer eleganten, kraftvollen Bewegung auf ihre Schultern und laufen mit mir weiter.
So reite ich auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die mondblaue Nacht. Es ist wie ein Traum, aber es ist wahr: Ich reite auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die Nacht. Ich spüre ihre Kraft unter mir. Sie tragen mich. Es tut gut, die Dinge etwas erhöht zu sehen. Es tut gut, nicht im Sumpf der Trauer zu kriechen, sondern die Luft der Höhe zu atmen.
Wieder im Zimmer meines Therapeuten angekommen, fällt mir als erstes auf, wie die Sonne durch das Fenster scheint. Der Krieg in mir scheint aufgelöst. Und wenn nicht, herrscht zumindest ein Waffenstillstand, den ich in dieser Qualität noch nicht kenne. Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine? Den gilt es schnellstens zu befrieden, und ich glaube, es liegt in meiner Hand. Ich hoffe nur, dass die Fronten zwischen ihr und mir mittlerweile nicht zu verhärtet sind, jetzt, wo sich die Fronten in mir endlich gelockert haben und der Krieg dem Frieden eine Chance zu geben scheint.
Was berechtigt mich, meinen Großvater anzuklagen? Was weiß ich über meinen Großvater? Er war Nationalsozialist, von Anfang an. Das wurde immer wieder erzählt, denn sie brauchten einen, an dem sie sich reinwaschen konnten, um zu vergessen, dass sie selber Nazis waren. Also war mein Großvater der böse Nazi in der Familie. Also war mein Großvater der böse Nazi im Dorf. Es ist immer gut, einen zu haben, dem man Unangenehmes zuschieben kann, um es bei sich selbst nicht sehen zu müssen. Ich zeige mit dem Finger auf meinen Großvater.
Ich sehe meinen Großvater, wie er nachhause kommt vom Wirtshaus, stockbesoffen. Er hat zugeschlagen, der böse Nazi, hat seine Frau und seine Söhne geschlagen, unerbittlich und unversöhnlich. Ein böser Nazi schlägt zu, was denn sonst? Ich sehe meinen Vater, wie er sich duckt vor den Schlägen. Ich sehe, wie mein Großvater endlich von den Schlägen ablässt und erschöpft ins Bett fällt und eine quälende Ruhe einkehrt. Die Nacht vergeht ohne Schlaf, und im Morgengrauen möchte jeder glauben, dass nicht geschehen ist, was geschehen ist. An den Tagen klebte ein Geruch wie verschüttetes Bier. Auf diesen Geruch wurde neues Bier geschüttet.
Die Zettel meiner Väter auf dem Boden, und ich beginne zum ersten Mal, an meiner Friedfertigkeit zu zweifeln. Denn die Zettel auf dem Boden machen mich wütend. Aber ich bin nicht bereit, meine Friedfertigkeit aufzugeben. Sie ist mein Markenzeichen. Ich bin der nette Emil, der der Welt nichts Böses tut. Und Krieg – Krieg ist ganz weit weg von mir. Der Therapeut zeigt unterdessen auf den anderen Zettel am Boden und fragt, was es denn mit diesem Zettel auf sich habe? Das ist mein Vater, sage ich, aber das interessiert mich nicht. Mein Vater hat hier nichts zu sagen, denn mein Vater hat sowieso sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten, hat zu allem geschwiegen. Das habe ich nie verstanden, sage ich, dass mein Vater sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten hat, dass er geschwiegen hat, mehr noch, ich habe mich maßlos darüber geärgert. Ich merke, wie ich schon wieder wütend werde. Da fällt mir eine kleine Episode ein, die durch meine Wut hochkommt: Als Pubertierender habe ich meinen Vater mal so lange genervt, bis ihm die Hand auskam und er mir eine gescheuert hat. Das war einer der schönsten und intensivsten Momente mit meinem Vater. Ich habe ihn gespürt. Ich habe ihn erlebt als einen Mann der Tat. Sonst war er wie ein lebloses Opfer. Warum war er sonst so leblos? Haben ihn die Schläge meines Großvaters so leblos gemacht? Ich koche vor Ärger und Wut über die Leblosigkeit meines Vaters und sehe meine Friedfertigkeit davonschwimmen. Ist der Krieg in mir, und ich kann gar nicht gegen ihn sein, weil er ein Teil von mir ist? Sollte ich vorher den Krieg mit mir beenden, bevor ich den Krieg von anderen anklage?
Refugees welcome! Dieser Spruch regt mich auf. Hier ist gar niemand welcome, denn hier ist Krieg. Ich gehe die Straße entlang und sehe in die Gesichter, die mir entgegenkommen. Die meisten sind angespannt als befänden sie sich mitten im Krieg, sodass ich annehmen muss, dass sie sich im Krieg befinden. Doch welcher Krieg wird hier ausgefochten? Woher diese Abwehrhaltung? Refugees are not welcome, natürlich nicht. Scheiß Islamisten, kommt bloß nicht hierher, sondern bleibt dort, wo ihr herkommt! Wenn ihr hier seid, zeigt ihr uns nämlich, dass wir Scheiß Christen sind. Das halten wir nicht aus. Mit Kriegen kennen wir uns aus in Europa, können eine jahrhundertelange Erfahrung vorweisen. Aber wir wollen diese Erfahrung vergessen, leugnen, und jetzt kommt ihr daher und zeigt uns gnadenlos, wie kriegserfahren wir sind. Warum wir so kriegserfahren sind? Weil wir geil sind auf Krieg. Krieg bedeutet, jemand anderen zu finden, auf den ich meine Waffen richten kann, auf den ich mit dem Finger zeigen kann. Ablenkung von mir selbst, das ist die oberste Maxime, auch wenn andere dabei krepieren. Und wenn das nicht hilft, dann hilft nur: Saufen, saufen, saufen, bis ich nichts mehr spüre.
Mein Vater hat nicht schlimm gesoffen. Er hat diskret gesoffen, meist im Keller. Er schämte sich, dass die Bierflasche sein Rettungsanker war, aber er konnte nicht von ihr lassen. Er hat auch nicht geschlagen im Suff, nie. Lieber trank er noch ein Bier, klammerte sich noch fester an die Flasche, bevor er auf die Idee kam zu schlagen. Er hatte Angst vor Schlägen, davor, welche abzubekommen und davor, selbst zu schlagen. Er wollte mich beschützen vor allen Schlägen dieser Welt. Er hatte panische Angst vor den Schlägen dieser Welt, solche Angst, dass er Angst hatte vor dem Leben als ganzes. Als Dreijähriger die Bomben zu sehen, die die Stadt zerstören, und die Angst, der eigene Vater könnte es sein, den sie getroffen haben; danach den Vater wiederzusehen, aber seinen Schlägen ausgesetzt zu sein, das war zu viel, das hat er sein Leben lang nicht verkraftet. Das hat ihn stumm gemacht. Das hat ihn an die Bierflasche geklammert. Es ist leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um die Schläge zu vergessen. Aber die Schläge gehen weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.
Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine hat mich zu meinem Therapeuten geführt. Alles tobt zwischen ihr und mir, dabei bin ich doch der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Warum tut Josefine mir das an? Womit habe ich das verdient?
Krieg? Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Manchmal werde ich wütend wegen der Kriege, wegen dem Krieg, der noch immer in den deutschen Köpfen ist. In meiner Wut bekomme ich einen Hass auf die Juden. Die Juden sind die Provokateure der Weltgeschichte. Erlöstes Volk – das ich nicht lache! Sie sind Menschen wie du und ich, die sich zu Opfern hochstilisieren. Ihr Opfer, ihr! Manchmal regt sich in mir eine gewisse Empathie für den Bastard Hitler. Hat er nicht getan, was unausweichlich war? Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, wäre da nicht Hitler gewesen! Was für eine Lüge! Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, weil da Hitler gewesen ist! Schon besser! Hitler als Stellvertreter der Deutschen, ein Mann des Volkes, der seinen Kopf hingehalten hat für das Volk. Das Volk hat ihn bereitwillig unterstützt. Geh voran, Bastard, und tu endlich, was wir schon lange tun wollten! Ablenkung von der eigenen Not tut immer gut. Da kommt der Jude gerade recht. Da schauen wir lieber auf den Juden und zeigen mit dem Finger auf ihn, anstatt auf uns zu schauen. Wir Täter, wir!
Dachau? Lemberg? Stalingrad? Ich weiß nicht, wo er war. Ich weiß nicht, ob er Juden hasste oder Nazis liebte. Sie sagten und sagen es mir nicht. Er kam nachhause, mein Großvater, haben sie gesagt. Aber von wo er kam, haben sie nicht gesagt. Er war nicht geläutert, haben sie gesagt, er war und blieb der Nazi. Vielleicht wollten sie gar nicht, dass er nachhause kam, aber er kam nachhause. Kam nachhause und war nicht mehr derselbe. War verstört und hat sich dem Alkohol hingegeben. Es war leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um den Krieg zu vergessen. Aber der Krieg geht weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.
Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Ich bin der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Doch etwas tobt in mir, beständig. Ich will es nicht Krieg nennen, doch nicht Krieg, nein, das ist ein zu krasses Wort, das ich ungern in den Mund nehme, eher innere Unruhe, die mich in meinem friedfertigen Dasein stört. So sage ich es dem Therapeuten. Ich sage, dass ich es nicht mehr aushalte, nicht nur mit Josefine, nein: dass ich insgeheim meine Mutter nicht mehr aushalte, dass ich sie hasse dafür, dass sie mich auf diese Welt gebracht hat, in der nur der Krieg tobt und ich als friedfertiger Mensch völlig fehl am Platz bin.
Ich habe den Eindruck, mein Therapeut will mich nicht hören. Er geht nicht ein auf meine Klagen über meine Mutter, sondern redet von meiner väterlichen Linie und davon, dass Hass auf die Frauen nur entsteht, wenn man sich als Mann selbst nicht liebt. Er legt drei Zettel auf den Boden und sagt: Ein Zettel bist du, einer ist dein Vater, einer ist dein Großvater.
Ich habe meinen Großvater nie gekannt. Er ist gestorben, als selbst mein Vater noch ein Kind war. Er war 45 Jahre alt, als er gestorben ist. Da war der Krieg seit zehn Jahren vorbei. Zehn Jahre hat er den Krieg überlebt, an dem er, wie ich vermute, gestorben ist. Zehn Jahre hat er seinen Leib noch weiter geschleppt durchs Leben, obwohl er innerlich bereits gestorben war. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, warum er so früh gestorben ist, aber ich glaube es zu wissen: Er hat sich zu Tode gesoffen. Nach zehn Jahren hatte er es endlich geschafft: Genug gesoffen, um zu sterben. Der Zettel, der da als mein Großvater auf dem Boden liegt, wird lebendig, und ich werde wütend. Es ist Krieg im Raum. Ich bin im Krieg mit meinem Großvater. Ich fühle mich bedroht in meiner Friedfertigkeit. Mein Großvater bedroht diese Friedfertigkeit. Ich zeige mit dem Finger auf ihn.
Einer meiner Klassenkameraden hieß Georg Eder. Er war aber kein Kamerad. Er war ein isoliertes Subjekt in der Klasse. Keiner mochte ihn. Ich schämte mich für Georg, so peinlich war mir seine Erscheinung. Die dicke Hornbrille in seinem Gesicht wäre vielleicht noch zu verschmerzen gewesen, aber wie er ging, das ertrug ich nicht. Er hinkte nicht, und er hinkte doch. Alles schien schief zu sein an seinen Beinen. Seine Füße setzte er auf den Boden mit schiefem Tritt. Es war ein Wunder, dass er nicht bei jedem Schritt aus dem Gleichgewicht kam und hinfiel. Der hat Klumpfüße, sagte Peter, der Rudelführer in der Klasse und in dieser Funktion ein Verkünder der Wahrheiten. Die restliche Klasse stimmte dieser Wahrheit bei: Georg Eder hat Klumpfüße, so wie der geht!
Eines Tages war die ganze Klasse beim Bürgermeister im Rathaus zu einem Empfang eingeladen. Natürlich war Georg Eder auch mit dabei, er war ja Teil der Klasse. Er schleppte seine krummen Beine mit uns in das Rathaus. Wir standen versammelt vor dem Bürgermeister. Dem Bürgermeister muss Georg aufgefallen sein, denn er ging geradewegs auf ihn zu und fragte ihn nach seinem Namen. Georg bekam ein hochrotes Gesicht, schluckte so angestrengt, als müsse er seinen ganzen Mageninhalt zurückhalten, um anschließend herauszupressen: Org Geder.
Org Geder hatte dieser Idiot gesagt! Org Geder. Nicht mal seinen eigenen Namen konnte er sagen! Einige kicherten. Ich schämte mich in Grund und Boden für Georg, wie er dastand, mit seiner Hornbrille und den schiefen Beinen. Es war erbärmlich anzusehen. Unerträglich.
Auch der Bürgermeister schien peinlich berührt zu sein, denn er wandte sich sofort wieder von Georg ab und unserer Lehrerin zu. Während also der Bürgermeister mit unserer Lehrerin sprach, was er ohnehin, so mein Eindruck, lieber tat als mit uns Schülern zu sprechen, denn unsere Lehrerin war sehr hübsch und ich heimlich in sie verliebt, dachte ich über Georgs Versprecher nach. Aufgrund meines Nachdenkens erschien er mir jetzt logisch, der Versprecher: Georg hatte vor Nervosität die Vorsilbe ge seines Vornamens verschluckt. Diesen Verschlucker wollte er korrigieren, indem er die verschluckte Silbe seinem Nachnamen Eder voranstellte. In seinem gestressten Kopf war es scheinbar eine logische Vorgehensweise, die einzig richtige Möglichkeit, Org Geder zu sagen. Die Welt des Georg Eder – eine konfuse Welt, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Und die mir doch so nahe ging.
Nach dem Empfang standen wir noch eine Weile vor dem Rathaus herum. Georg dagegen hinkte alleine davon mit seinen krummen Beinen. Peter rief ihm hinterher: Org geder, der Eder! Was in unserem Slang so viel bedeutete wie: Arg, entsetzlich, grauenvoll geht er, der Eder! Und es stimmte, ja: Es war entsetzlich, grauenvoll anzusehen, wie Georg mühsam und einsam seines Weges ging. Ich werde dieses Bild nicht mehr vergessen: wie er mit seinem krummen Beinen sich vom Rathaus wegkämpfte und wir ihm alle nachsahen. Peter hatte wieder einmal die Wahrheit gesprochen.
Seit diesem Tag hieß Georg Eder in der Klasse nur noch Org Geder. Und ich habe an diesem Tag beschlossen, mich nicht mehr für Georg zu schämen, sondern ihn einfach zu ignorieren. Die Welt des Org Geder war mir zu erbärmlich. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben.
Peter, der ehemalige Rudelführer in unserer Klasse, ist aktuell in einem Kreisverband für die AfD aktiv. Der Verkünder der Wahrheiten. Was aus Georg Eder geworden ist, weiß ich nicht. Wieso will ich das wissen? Wieso kann ich Org Geder und seine konfuse, entsetzliche, grauenvolle Welt nicht einfach vergessen?