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Frühling mit Annabel

Es war der Frühling, dem ich begegnete, ja, er muss es gewesen sein. Aus dem Boden sprossen die Veilchen und Schlüsselblumen. Beim Blick nach oben durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm am Himmel.

Mitten in diesem Frühling dachte ich an das Bad mit Annabel, das ich jedoch im Sommer verortete. Mir fiel ein, dass wir beide nackt waren bei diesem Bad, und es erschien mir merkwürdig, dass mir das jetzt einfiel, dass wir nackt waren bei diesem Bad, denn bisher waren nackt und nichtnackt keine Kategorien für mich gewesen, was dieses Bad betraf. Während ich an dieses Bad mit Annabel dachte, fand ich mich plötzlich im Bach wieder. Ich badete im Bach. Durch die Frühlingsluft erschien, als ob sie wusste, dass ich gerade an sie gedacht hatte: Annabel. Sie stand am Ufer, und als ich sie sah, dachte ich wieder an unser Bad im Sommer, als sich alles öffnete und der weite Wind des reifen Sommers über das Getreidefeld strich. Wir hatten viel mehr entblößt als unsere Körper. Wir waren unterwegs zu unseren Seelen, zum Grund unseres Seins. Dabei begegneten wir einem Wirrnis an Gefühlen, und aus Angst, uns in diesem Wirrnis zu verstricken, flohen wir vor diesem reifen Sommertag, nicht ahnend, dass die Flucht die Verstrickung vergrößert.

Doch zurück zu meinem Bad im Bach. Ich badete also im Bach, im Frühling und nicht im Sommer. Annabel stand am Ufer und zog ihre Jacke fester an sich. Ja, ich bin mir sicher, sie zog ihre Jacke fester an sich und ich dachte: Es muss kalt sein, wenn Annabel ihre Jacke fester an sich zieht und ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden. In diesem Moment, als ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden, begann Annabel zu laufen, über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Sie tanzte und drehte sich, leicht wie der Wind. Sie begann sich auszuziehen, bis sie nackt war, tanzte und drehte sich weiter. Ich stieg aus dem Bach und lief zu Annabel. Als ich näherkam, bemerkte ich, dass sie weinte und schluchzte, und ich erwartete von mir, dass ich sage: Wein doch nicht, Annabel!, aber ich sagte nichts. Ich fand das Weinen und Schluchzen schön. Es hatte etwas Befreiendes und strich wie der weite Wind des reifen Sommers über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Ich betrachtete Annabel und strich mit meinen Händen über ihre Haut. Sie lächelte.

Ich erschrak, ohne einen Grund dafür zu haben, ich erschrak grundlos und sagte: Nein Annabel, das sind nicht die Knospen des Frühlings! Das sind die reifen Früchte des Sommers! Ich lief davon und Erdwälle taten sich vor mir auf, riesige Erdwälle. Ich grub mich geradewegs hinein in diese Erdwälle, tiefer und tiefer, und es wurde dunkler und dunkler. Ich grub weiter und weiter, bis ich ein kleines Licht in der Ferne sah. Ich kämpfte mich vorwärts zu diesem Licht, und als ich es erreicht hatte, war ich umringt von einer Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm über mir und dachte: Ein Sommer mit Annabel, das wäre schön!

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Der Buchhalter, dem sein Geld nichts mehr wert war

Auf der Suche nach unumstößlichen, über alles erhabenen Werten landete ich beim Geld. Ich zählte es, ich führte Listen über seine Bestände und Bewegungen. Allen Dingen maß ich einen Wert in Geld bei. Es fiel mir schwer, meine Beziehung zu Josefine in Geld zu bewerten. Deshalb beendete ich sie und ging dazu über, Frauen zu kaufen. Ich hatte einen unkalkulierbaren Posten entfernt und einen neuen geschaffen, den ich mit klar definiertem Wert in meine Geldbilanz aufnehmen konnte.

Ich kam an den Punkt, an dem ich absolut überzeugt war vom unumstößlichen, über alles erhabenen Wert des Geldes. Stolz betrachtete ich meine Bilanzen, die ich als Altare der Wahrheit bezeichnete. Mein ganzes Leben opferte ich, um bei ihnen Halt zu finden.

Es trieb mich immer weiter zum Geld, so weit, dass ich begann, es intensiv zu studieren. Bei meinen Studien stieß ich auf die Inflation, also auf das Phänomen, dass Geld nichts mehr wert ist. Es gibt also tatsächlich die Möglichkeit, dass Geld nichts mehr wert ist; eine Möglichkeit, die bisher in meinem Denken undenkbar war. Mich beschlich die Ahnung, dass Geld nur den Wert hat, den man ihm beimisst und den man glaubt, dass es hat. Ansonsten, wenn man das nicht glaubt, ist es nur aufwändig bedrucktes Papier. Anfangs sträubte ich mich, dieser Ahnung nachzugehen, doch schließlich beschlich sie mich so stark, dass der Grundwert meiner Existenz, der Wert des Geldes, wertlos wurde. Ich saß melancholisch über eine Stunde lang bewegungslos da, mit einem Zwanzig-Euro-Schein in der Hand. Ich betrachtete den Schein von allen Seiten, bis ich ihn schließlich zerriss und in den Müll warf. Eine Welt ohne Wert, in die ich nun geraten war.

Um Trost in dieser Trostlosigkeit zu finden, ging ich zu einer käuflichen Frau. Ich sagte ihr jedoch, dass ich nicht mehr an das Geld glaube und ich sie heute nicht bezahlen werde. Daraufhin verweigerte sie mir ihre Dienste. Das Geld hatte für sie nicht seinen Wert verloren, musste ich erkennen. Ich schlich von dannen, als mich wieder eine Ahnung beschlich: Es gibt wohl doch noch andere Werte als Geld, die ich aber allesamt für das Geld geopfert habe. Eine unheimliche Schlucht tat sich plötzlich vor mir auf, eine Welt ohne Geld, die ich mir bis eben nicht hatte vorstellen können. Ich fiel ins Bodenlose, das mich jedoch, zu meiner Überraschung, erstaunlich sanft in seinen Händen trug, so als warteten in diesem Bodenlosen Werte, die es für mich zu entdecken gilt.

Immerwährende Geschichte

Da ist eine immerwährende Geschichte, sage ich, und frage mich im selben Moment, wo sie eigentlich ist, die immerwährende Geschichte. Auf meinen Lippen, mit denen ich sie spreche, oder in meinen Fingern, mit denen ich sie schreibe? Mich an meinen Traum erinnernd, komme ich zu der Vermutung, dass sie in meinen Fingern ist. Ich habe geträumt, eine Feder in der Hand zu halten. Ich griff mit der Feder tief in ein Fass voll mit schwarzer Tinte. Als ich die Tinte zu Papier bringen wollte, zerfloss sie, ehe ich etwas dagegen tun konnte, auf das ganze Papier. Ich nahm neues Papier, tauchte mit der Feder wieder in das Tintenfass, nicht mehr ganz so tief wie zuvor, und als ich die Tinte aufs Papier bringen wollte, um die immerwährende Geschichte aufzuschreiben, zerfloss sie wieder auf das ganze Papier, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Ist also die immerwährende Geschichte mit schwarzer Tinte vollgesaugtes Papier? überlege ich jetzt, in wachem Zustand, in welchem ich wieder versuche, die immerwährende Geschichte aufzuschreiben. Ich habe keine Feder und keine Tinte bei mir, nur ein leeres, weißes Blatt Papier, das mich anschweigt. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich die immerwährende Geschichte in diesem weißen Blatt manifestiert, das mich anschweigt. Nicht überzeugt, die immerwährende Geschichte auf diesem weißen, leeren Blatt zu belassen, bekomme ich plötzlich große Lust zu laufen. Ich richte mich auf und fange zu laufen an, so schnell ich kann. Es fühlt sich wie ein Weglaufen an, das Laufen, was mir merkwürdig erscheint. Kann es so etwas geben wie zuviel Liebe, vor der man wegläuft? Während ich über diese Merkwürdigkeiten nachdenke, laufe ich weiter so schnell ich kann, bis ich oben auf dem Hügel angelangt bin. Jetzt hat das Weglaufen also ein Ende, denke ich, als ich oben auf dem Hügel stehe und die Sonne mich erreicht. Nicht nur die Sonne erreicht mich, nein, auch deine Stimme, was ich so nicht erwartet habe. Ich höre deine Stimme, als ich oben auf dem Hügel stehe und denke: So ein Unsinn – wie kann man vor zuviel Liebe davonlaufen wollen? Schnell will ich wieder zurücklaufen, dahin, wo die Liebe ist, als ich plötzlich und unvermutet den schwarzen Hund neben mir bemerke, der mich – ja, so empfinde ich es – mit liebevollen Augen ansieht. Oder erwidert er nur meinen Blick? Ich beschließe, nicht mehr zu laufen, sondern langsam und bedächtig zu gehen. Ich bemerke, wie ich mit jedem Schritt Grashalme unter mir niedertrete und vermute, dass es wohl Teil der immerwährenden Geschichte ist, dass Grashalme von Menschenfüßen niedergetreten werden. Durch mein langsames Gehen bemerke ich die Menschen, die mir begegnen und nehme mir fest vor, sie in die immerwährende Geschichte aufzunehmen. Plötzlich aber erfasst mich Sorge: Mir fällt nämlich ein, dass ich das Fenster offen gelassen habe, als ich die Wohnung laufend verlassen habe. Durch das offene Fenster wird die Katze in die Wohnung gesprungen sein, mit ihrer Tatze das Fass mit schwarzer Tinte umgestoßen haben, wodurch sich die Tinte mittlerweile in der ganzen Wohnung verteilt haben wird. Hektisch laufe ich nach Hause, der Hund folgt mir auf dem Fuß. Zuhause angekommen, lasse ich den Hund vor der Tür, weil ich Angst habe, ihn mit seinem schwarzen Fell in der schwarzen Tinte nicht mehr zu finden, die, so ist zu vermuten, in der Zwischenzeit die ganze Wohnung überflutet haben wird. Als ich die Wohnungstür vorsichtig öffne, stellt sich die Wohnung zu meiner Überraschung in keinem tintenüberfluteten, sondern sonnendurchfluteten Zustand dar. Auf dem Tisch das weiße Blatt Papier, wie ich es verlassen habe. Keine Katze, und vor allem: kein Tintenfass! – Nein, kein Tintenfass, das habe ich wohl nur geträumt. Ergriffen stehe ich im Zimmer und schaue durch das geöffnete Fenster nach draußen, als eine Amsel auf dessen Sims landet. Sie sieht mich kurz an und beginnt daraufhin zu singen. Ihr Gesang ergreift mich noch mehr als es die Situation ohnehin schon tut, sodass mir die Tränen kommen. Singen soll man sie also, die immerwährende Geschichte, denke ich unter Tränen, und während ich das denke, spannt die Amsel ihre Flügel und fliegt davon.

 

Dank an:

Paul, den schwarzen Hund (porträtiert von Sara Stankovic)

Belle and Sebastian, die mich mit ihrem Lied There is an everlasting song zu dieser Geschichte inspiriert haben

Der Raub der Sabinerinnen

Eine kleine Gasse zwischen zwei Häuschen: Dort war es, wo Sabine und ich uns innig küssten. Ich gehe gerne durch diese kleine Gasse, weil ich mich gerne an diesen innigen Kuss erinnere. Jedesmal, wenn ich durch die kleine Gasse gehe, fallen mir die tiefhängenden Regenrinnen an jedem der beiden Häuschen auf. In Erinnerung an den innigen Kuss mit Sabine nenne ich sie Sabinerinnen.

Heute ging ich wieder einmal durch die kleine Gasse, aber alles war anders als sonst. Die Sabinerinnen hingen nicht mehr an den Dächern der beiden Häuschen. Ich war wie vom Blitz getroffen. Es schoss mir sofort durch den Kopf: der Raub der Sabinerinnen! Was sonst! Was sollte ich anderes annehmen, als dass die Rinnen, die mich so zärtlich an den innigen Kuss mit Sabine erinnern, gewaltsam und unerlaubt entfernt worden waren. Kein Zweifel: Er war geschehen, der Raub der Sabinerinnen, den es nun aufzuklären galt! Ich klopfte an die Türen der beiden Häuschen, um die Aufklärung dieser Schandtat zu starten, aber niemand öffnete. Traurig stand ich in der kleinen Gasse zwischen den beiden Häuschen ohne Rinnen. Schließlich – was sollte ich anderes tun – ging ich weiter meines Weges.

Im Büro erzählte mir Vorderbrandner von der neuen Inszenierung der alten Sage vom Raub der Sabinerinnen im antiken Rom. „Mit den Geschwistern Regener als Sabinerinnen“, meinte er weiter: „Du weißt schon: Regina und Ramona Regener, die wir vor kurzem für unser Magazin interviewt haben!“
„Der Raub der Regenerinnen also!“ entfuhr es mir.
„Seit wann ergehst du dich in Wortspielen?“ entgegnete Vorderbrandner und schmunzelte.
Ich fand es gar nicht lustig: „Das wird mir alles unheimlich!“ rief ich, sprang von meinem Stuhl hoch und verließ das Büro wieder.

Während ich ziellos dahinging und darüber grübelte, wieso mich die beiden geraubten Regenrinnen, die ich Sabinerinnen nenne, so beschäftigen und ob es mir nicht möglich wäre, den innigen Kuss mit Sabine trotz der geraubten Rinnen in guter Erinnerung zu behalten, schweifte mein Blick durch ein geöffnetes Tor in einen Innenhof. Ich sah eine Frau, über zwei Regenrinnen gebeugt, die dort am Boden lagen. Sie hatte eine Bürste in der Hand und machte sich daran, die Rinnen zu reinigen. Mir blieb das Herz stehen. Waren das etwa die geraubten Rinnen? Vorsichtig näherte ich mich, mit pochendem Puls. Als ich nah genug war, erkannte ich sie eindeutig an ihrer Patina: Es waren die geraubten Sabinerinnen, an denen sich die Frau zu schaffen machte.

Ich ging aus meiner Deckung und stellte die Frau zur Rede: „Was machen Sie mit den beiden Regenrinnen?“
„Die lagen auf der Straße rum“, sagte sie, „in einer kleinen Gasse ganz in der Nähe. Da habe ich sie mitgenommen, weil ich sie gut gebrauchen kann für mein kleines Atelier hier im Hof.“
„Aber die sind geraubt!“ sagte ich, nicht wagend, die Frau direkt als Räuberin anzusprechen: „Die gehören zu den beiden Häuschen in der kleinen Gasse!“
„Wirklich? – Ja,… dann bringen wir sie besser wieder dorthin.“

Weil sie so schnell einlenkte, verzichtete ich auf weitere Anschuldigungen. Sie und ich nahmen je eine Rinne in die Hand und gingen zu den Häuschen in der kleinen Gasse, um sie zurückzubringen. Dort angekommen, klopften wir an die Türen. Jetzt war jemand zuhause. Wir sagten den Bewohnern, dass wir ihnen ihre Regenrinnen zurückbringen.
„Sehr nett“, sagten die Bewohner, „aber wir haben sie gestern erst abmontiert, weil wir heute neue montieren wollen. Die können sie gerne behalten!“

Konsterniert stand ich da und musste akzeptieren, dass die Sabinerinnen künftig nicht mehr die Dächer der kleinen Häuschen zieren und mich nicht mehr zart an den innigen Kuss mit Sabine erinnern werden. Ihr Raub entpuppt als eine schnöde Erneuerungsmaßnahme. So rasch ich diesen Fall aufklären konnte, so enttäuscht war ich nun von seinem Ausgang.

Die Frau und ich gingen mit den Sabinerinnen in den Händen wieder zurück zum Atelier im Innenhof. Als wir so dahingingen, jeder eine Rinne in der Hand, sagte ich zu ihr:
„Ich weiß wie Sie heißen.“
„Ja?“
„Sabine.“
„Stimmt! Aber woher wissen Sie das?“

Der tägliche Kampf gegen den Faschismus

Matjaz sagt: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Immer wieder sagt Matjaz das. Dazwischen sagt er shit und fuck und dann sagt er wieder: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Matjaz sagt nicht, was er unter einem Faschisten versteht. Ich will ihn fragen, was er unter einem Faschisten versteht. Aber ich traue mich nicht, weil er so in Rage ist. Shit! Fuck! Faschisten! dröhnt es an mein Ohr. Matjaz muss ein Faschist sein, denke ich. Sonst könnte sein Kopf nicht so voll sein von diesem Wort.

Ich versuche, mir in meinem Kopf Klarheit zu verschaffen: Wenn ich an einen Faschisten denke, denke ich an jemanden, der anderen Vorwürfe macht, um von sich selbst abzulenken. Ist das auch, was Matjaz unter einem Faschisten versteht? Oder meint er etwas ganz anderes? Ich weiß es nicht, weil ich ihn nicht frage, nehme also an, dass er das meint.

Matjaz beruhigt sich, aber nur ein wenig, und sagt: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Mit Ausnahme der Deutschen, die dürfen keine Faschisten mehr sein. Weil sie die Schuld haben. Die Deutschen haben es mit den Vorwürfen an die Juden übertrieben, seitdem dürfen sie keine Faschisten mehr sein, obwohl sie gerne welche wären. Die Schuld klebt an ihnen. Stalin konnte im Windschatten der Judenvernichtung und unter dem Deckmantel des Kommunismus die Nachfolge Hitlers antreten. Seitdem besteht ganz Osteuropa aus Faschisten.

Krasser Vortrag! Was sagt Matjaz? Matjaz ist Slowene, der deutsch spricht. Er schreit es heraus: Slowenen! Faschisten! Aber auch Italiener, Spanier, Franzosen, Briten – alles Faschisten! Matjaz redet sich in Rage: Österreicher – Faschisten! Kärntner – die größten Faschisten, vor allem gegen die Slowenen! Kärntner – faschistische Arschlöcher! schreit Matjaz mit einer schrecklichen Fratze im Gesicht.

Matjaz macht eine Pause. Atmet durch. Dann sagt er: Ich bin Faschist. Matjaz klagt sich an und spricht sich schuldig. Matjaz ist Faschist gegen sich selbst. Gefangen im Selbstfaschismus. Ist Selbstfaschismus der erste Weg zur Selbsterkenntnis, oder ist er noch fataler als Fremdfaschismus?

Matjaz hört mir nicht zu als ich sage: Ich bin auch Faschist. Oft genug mache ich anderen Vorwürfe, um von mir selbst abzulenken. Täglich mache ich das. Wenn ich den Faschisten in mir bemerke, halte ich inne und sage zu ihm: Lieber Faschist! Ich weiß, dass du Angst hast, Angst vor dir selbst. Halte sie aus, diese Angst, sie wird vergehen! Es ist gut, wie du bist, genauso wie alle anderen gut sind, wie sie sind. Habe Mut zum Leben, wie es ist! Schau es an, und du wirst dich mit ihm versöhnen! Vertrau! Hier also beginnt der Kampf gegen den Faschismus: Bei mir selbst, und nirgends sonst. Alles Faschisten. Aber der einzige Faschist, den ich ändern kann, bin ich. Hoffentlich!

Matjaz hat sein Gesicht in seine Hände fallen lassen. Ich möchte Matjaz gerne umarmen. Es drängt mich dazu. Andererseits weiß ich nicht, ob Faschisten sich umarmen lassen.

Konrad Kraft und die Liebe zum E

Uteto Fritz ist Künstler und Psychologe. Er selbst bezeichnet sich als Energetiker. Nur wo Energie fließt, ist das Leben präsent. Ansonsten dümpelt es hinter dem Tod herum, sagt Uteto. Einer von Utetos Klienten ist Konrad Kraft, oder, wie Uteto aus seiner künstlerischen Perspektive heraus zu sagen pflegt: einer seiner Komparsen. Bei Konrad Kraft ist der Nachname Programm, sagt Uteto. Konrad trägt eine unglaubliche Kraft in sich, die aber blockiert ist. In unserer gemeinsamen Arbeit wollen wir sie entfalten.

Uteto stellte nach mehreren energetischen Sitzungen mit Konrad fest, dass die Sprache ein Mittel sein könnte, um ihn in seine Kraft zu bringen. Wie nun die Sprache ins Spiel bringen? Kaum hatte Uteto diese Frage in den Raum gestellt, kam ihm die therapeutische Eingebung: Er gab Konrad den Roman Anton Voyls Fortgang von Georges Perec zur Lektüre. In diesem Roman kommt der Vokal e, der häufigste Vokal in der deutschen Sprache, nicht vor. Konrad, den Eingebungen Utetos voll vertrauend, vertiefte sich in die Lektüre des Romans und entwickelte dabei eine große Liebe zu den Vokalen. Uteto bemerkte diese sich entwickelnde Liebe und sagte eines Tages in einer Sitzung zu Konrad:

I ee u u o i oae ueae.
〈Wir werden uns nur noch in Vokalen unterhalten.〉

Was? fragte Konrad.

Uteto wiederholte seinen Vorschlag, woraufhin Konrad meinte:

„Wie soll das gehen?“

O 〈So〉, antwortete Uteto.

A o 〈Ach so〉, sagte Konrad,

und fortan unterhielten sie sich nur noch in Vokalen.

Uteto hat folgende Erklärung für diese Vorgehensweise: Bei Konrad hat das Harte und Feste der Konsonanten zu einer Blockade seiner Energien geführt. Indem er jetzt nur in weichen, fließenden Vokalen spricht, überwindet er diese Blockaden. Seine Energie kann wieder fließen.

Nach einer der vokalischen Sitzungen mit Uteto ging Konrad mit Anton Voyls Fortgang in der Hand durch den Park. Er blieb auf einer kleinen Brücke über einen Bach stehen und betrachtete das fließende Wasser. Er stellte sich den Bach als einen Fluss der fließenden Vokale vor. Ah, tat das gut, dieser Fluss der fließenden Vokale!

Gisela kommt nun in unsere Geschichte. Sie war ebenfalls im Park und näherte sich der Brücke, auf der Konrad stand. Sie kam in das Energiefeld Konrads. Sie sah ihn das Wasser beobachten, in dem er lauter fließende Vokale sah. Sie fühlte sich zu Konrad hingezogen, kam zu ihm auf die Brücke. Sie fragte ihn: Was liest du da?

Konrad, der gerade einem fließenden E im Bach hinterherblickte, vernahm Giselas Frage und wollte sagen: Ao oi oa 〈Anton Voyls Fortgang〉. Doch er sagte nichts, sondern zeigte Gisela den Buchdeckel mit dem Titel darauf. Während Gisela den Buchdeckel betrachtete, hatte Konrad Zeit, Gisela zu betrachten. Sie gefiel ihm. Er sagte aber nicht u eä i 〈Du gefällst mir〉 zu ihr, sondern fragte sie – zu seinem eigenen Erstaunen – mit Konsonanten: Wie heißt du?

Gisela.

Iea, klang es in Konrads Kopf.

Ich liebe das E in deinem Namen! Es hat eine beruhigende Eleganz, sagte Konrad zu Gisela, wieder mit Konsonanten, und die Energie rauschte trotz Konsonanten nur so dahin, wie das Wasser im Bach.

Bei der nächsten energetischen Sitzung mit Uteto erzählte Konrad von seiner Begegnung mit Gisela. Ich nenne sie Ela, sagte Konrad, denn das G und das S sind mir noch zu hart, da komme ich noch ins Stocken. Sehr gut, sagte Uteto, Gisela ist das ideale Übungsfeld für dich. Über den klingenden Halbvokal L näherst du dich dem Reibelaut S und schließlich dem Verschlusslaut G. Gisela – ein Name, den der Himmel schickt!

So übte Konrad mit Gisela, bis ihn schließlich die Konsonanten nicht mehr in seinem Energiefluss blockierten. Im Gegenteil. Sie bereicherten sein energiegeladenes vokalisches Leben, indem sie ihm Struktur gaben.

Die Energie floss nicht nur auf sprachlicher Ebene zwischen Konrad und Gisela. Stundenlang lagen sie miteinander vereinigt da und gaben sich Energie. Konrads männliche Kraft erforschte Giselas weibliche Höhle, bis sie schließlich über seine Eichelspitze an ihren Muttermund gelangte und sich dort entlud. Gisela hatte empfangen.

Als nun die Tochter von Konrad und Gisela in Giselas Leib heranwuchs, stellte sich die Frage der Namensgebung. Dies bescherte Konrad seine erste Krise seit seiner energetischen Befreiung. Sollte er dieses neue Leben, das durch den Energiefluss zwischen ihm und Gisela entstanden war, in eine starre Namensform pressen? Wird es dann nicht sofort wieder dem Tod geweiht? Er besprach sich mit Uteto, versteifte sich darauf, dass das Kind nur Energie heißen könne, alles andere würde keinen Sinn machen. Das Kind ist eine Manifestation von Energie, nicht die Energie selbst, meinte daraufhin Uteto. Er schlug Konrad vor, sich in Geduld zu üben. Dann werde der richtige Name schon kommen.

Einige Wochen später wachten Konrad und Gisela gemeinsam am Morgen auf, sahen sich in die Augen und sagten zueinander: Genoveva! – Genoveva! Das sollte also der Name von Konrads und Giselas Tochter sein.

Uteto Fritz analysiert diese Namensgebung folgendermaßen: Augenscheinlich bei Genoveva sind die zwei E. Da sind aber auch das O und das A, die Vokale aus Konrad. Der Name scheint also einem Wunsch Konrads zu entspringen. Gisela hat diesen Wunsch gespürt und mitgetragen. Beeindruckend an Genoveva ist außerdem, dass Konsonanten und Vokale sich abwechseln, wie bei Gisela. Außerdem erinnert das G zu Beginn an die Güte und das Gebende von Mutter Gisela.

So hatten sich die Dinge gefügt. Genoveva wurde geboren. Konrad und Gisela fanden, trotz oder wegen Genoveva, weiterhin Zeit für ihre gemeinsamen Energiesessions. Tief vereinigt spürten sie sich, und eine dieser Vereinigungen gebar ihre zweite Tochter, der sie den Namen Kreszenzia gaben.

Der Name Kreszenzia, sagt Uteto Fritz, enthält wie Genoveva wieder zweimal den Vokal E, den Lieblingsvokal Konrads. Das K zu Beginn erinnert an die Kraft von Vater Konrad. Die Konsonanten treten in Kreszenzia, im Gegensatz zu Genoveva, in Zweiergruppen auf, als kr, sz und nz, um in ein furioses Finale mit zwei Vokalen zu münden: ia, eine Referenz an Gisela.

Uteto Fritz ist sehr stolz, wenn er die Geschichte von Konrad und Gisela erzählt.

Sucht II

Fortsetzung von Sucht I

Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne mein Smartphone zu sein. Es gab mir Halt. Aber ich spürte (und dieses Spüren gab mir Hoffnung, nicht unheilbar krank zu sein), dass ich es loslassen musste, dass der Therapievorschlag des Doktors meine einzige Rettung ist. Ich schrieb noch eine E-Mail, um die Teilnahme an einem digitalen Schreibwettbewerb abzusagen:

Liebes digitales Schreibwettbewerbteam,
leider bin ich digitalsüchtig und befinde mich gerade auf Entzug, also auf strikt analoger Diät. Ich schreibe verbotenerweise diese E-Mail.
Viel Spaß in der Welt des digitalen Wahnsinns!

Anschließend klappte ich das Notebook zu, mit mulmigem Gefühl, und begab mich in die analoge Welt. Ich packte die nötigsten Sachen: Brot, Käse, Wurst, Gemüse. Schlafsack, Klamotten, Handtuch, Seife, Zahnbürste. Stirnlampe. Ein Notizbuch mit Stift zum Schreiben. Ein weiterer Stift als Reserve. Außerdem packte ich den Don Quijote in der deutschen Übersetzung von Susanne Lange ein.

Dann machte ich mich auf den Weg zur Hütte, mit der Wegbeschreibung auf Papier in der Hand. Ich ging durch hügeliges Waldgelände, das von einem Labyrinth von Wegen durchzogen wird. Es ging auf und ab, durch Nadel-, Laub- und Mischwald. An Weggabelungen und Kreuzungen blickte ich auf das Blatt Papier mit der Wegbeschreibung und versuchte herauszufinden, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin. Irgendwann hatte ich keine Ahnung mehr, in welche Richtung ich gehe. Ging ich im Kreis? Würde ich die Hütte finden oder hier irgendwo im Freien auf dem Waldboden nächtigen? Erschöpft und der Verzweiflung nahe kam ich an eine Weggabelung, an der ein großer Stein lag. Großer Stein! Ich blickte auf die Wegbeschreibung und las:

An der Weggabelung mit dem großen Stein folge der rechten Abzweigung, und nach wenigen Minuten erreichst du eine kleine Anhöhe, auf der die Hütte steht.

So war es! Außer mir vor Freude tanzte ich um die Hütte. Ich war erschöpft, glücklich erschöpft. Ich hatte es geschafft! Ich ließ den Rucksack zu Boden und sperrte auf. Ich holte Wasser aus dem Brunnen, erfrischte mich damit, trank es gierig, aß von meinem Proviant, bereitete mein Nachtlager und schlüpfte in meinen Schlafsack.

Nach zwei Tagen besuchte mich Vorderbrandner, so hatten wir es ausgemacht. Auch er war lange herumgeirrt, erzählte er mir, bis er die Hütte gefunden hatte. Aber das Herumirren hatte ihm Spaß gemacht. Er sagte, das Leben sei ein Herumirren, bei dem man am Schluss doch immer den richtigen Weg findet, wenn man ihn finden will. Während er das sagte, packte er die Kartoffeln aus, die er mir mitgebracht hatte.

Vorderbrandner: Ich hatte ihn immer für einen Irren gehalten. Jetzt auf der Hütte hatte ich den Eindruck, dass ich der Irre bin und nicht er. Er irrt zwischen den Welten, aber lässt sich von keiner vereinnahmen, wie ich von der digitalen. Vorderbrandner ist immer Vorderbrandner, da kann passieren was will. Einmal sagte er, er sei Wolf in den Welten und Adler über den Welten zugleich. Ich hielt das für Schwachsinn und Größenwahn, aber wahrscheinlich war es die Wahrheit.

Aktuell ist Vorderbrandner mein Mittler zur digitalen Welt, denn ein Schreibender wie ich kann heutzutage ohne digitale Medien seine Inhalte nicht kundtun. Ich diktierte ihm also auf der Hütte, während wir Kartoffeln mit Waldpilzen aßen, diesen Text, den Sie jetzt lesen und den Vorderbrandner hoffentlich von seinem Notizbuch unverändert ins Digitale übertragen hat.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit verließ Vorderbrandner meine Hüttenwelt. Wir umarmten uns herzlich. Ich sah ihm nach, wie er im Wald verschwand. Wieder alleine, ging ich auf den höchsten Punkt der Anhöhe, lehnte mich an die Buche die dort steht und blickte durch die umstehenden Bäume in das dämmrige Land. Ich besprach mit der Buche ernste und heitere Dinge, schöne und häßliche Dinge, die mir aber entfallen sind und von denen jetzt nur mehr die Buche weiß.

Morgen wird mich Josefine besuchen. So haben wir es ausgemacht. Ich bin aufgeregt und freue mich darauf. Küssen und Berühren sind sehr analoge Dinge, wenn nicht die analogsten Dinge der Welt. Von diesen Dingen hatte ich mich bereits entwöhnt, in meiner digitalen Sucht.

Sucht I

Ich las folgenden Tweet:

Egal wie albern du bist – jeder, der in Tirana geboren ist, ist Albaner.

Als Antwort stand darunter:

So geil dein Humor, echt klasse!

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nur noch in diesen kleinen Bildschirm hineinstarre und mir Scheiße in mein Hirn ziehe. Ich sollte ein Buch lesen: Madame Bovary oder Der Zauberberg. Aber ich schaffe es nicht. Stattdessen starre ich nur noch auf diesen kleinen Bildschirm, aus Angst, sonst etwas zu verpassen.

Ich hätte zum Arzt gehen sollen, sagen, dass ich süchtig bin nach diesem kleinen Bildschirm; dass ich mir eine App nach der anderen runterlade. Stattdessen ging ich auf die Straße. Ich ging über die Straße, als die Ampel rot war, weil meine Ampel-App mir anzeigte, dass die Ampel grün ist. Oder zeigte mir die Ampel-App, dass es rot war und ich habe sie nicht beachtet, weil ich mit einer anderen App beschäftigt war? Ich weiß es nicht mehr. Ein Auto erfasste mich, doch wie durch ein Wunder hielten sich meine somatischen Verletzungen in Grenzen. Nur ein paar Prellungen. Dafür sollten meine psychischen Probleme nun zum Thema werden.

Im Krankenhaus schilderte ich, noch schockiert vom Aufprall, den Unfallhergang aus meiner Sicht. Ich wurde daraufhin an einen Psychiater überwiesen, der zu mir sagte:

Herr Hinterstoisser: In Ihrer Krankenakte steht, dass Sie bereits zum dritten Mal mit Ihrem Smartphone in der Hand in ein Auto gelaufen sind und einen Unfall verursacht haben. Wie durch ein Wunder sind Sie jedesmal mit leichten Verletzungen davongekommen, auch dieses Mal, beim dritten Mal. Doch jetzt müssen wir der Wahrheit ins Auge blicken: Sie sind süchtig. Sie sind ein Digital-Junkie!

Diese Aussage traf mich wie ein Schlag. Anfangs wollte ich mich wehren, wollte dem Arzt sagen, dass seine Behauptung unverschämt ist. Doch dann hielt ich inne und mir wurde klar: Ich hatte sie längst gespürt, meine Sucht, ich wollte sie bloß nicht wahrhaben. Die knallharte Wahrheit nun von jemand anderem zu hören, haute mich zunächst einmal um. Mir wurde schwindelig und ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir gekommen war, ein paar Schluck Wasser getrunken hatte, fragte ich den Arzt:

Was nun?

Nun: Wenn Sie so weitermachen, verlieren Sie vollkommen den Bezug zu Ihrer körperlichen Realität. Sie werden nicht nur von weiteren Autos überfahren werden, weil Sie sie nicht wahrnehmen, nein, Sie werden auch nicht mehr bemerken, wenn Sie aufs Klo müssen und einfach drauflos machen. Das könnte man mit Windeln lösen, natürlich. Aber wollen Sie das?

Nein.

Dann empfehle ich Ihnen dringend eine strikte analoge Diät. Ansonsten kommen Sie nicht los von Ihrer digitalen Sucht. Sie müssen sich ab sofort mit sich und Ihrer Umwelt auseinandersetzen, ohne Benützung digitaler Mittel wie Ihrem Smartphone.

Wie soll das gehen?

In einem tiefen Wald besitze ich ein kleines Häuschen, das auf einer kleinen Lichtung steht. Ich habe mir das Häuschen für mich, aber auch für Härtefälle wie Sie angeschafft, um die Bedingungen für eine optimale digitale Entzugskur zu schaffen. Keine Angst: Ich heiße nicht Emerson und Sie sollen nicht der zweite Thoreau werden! Sie sollen lediglich wieder zu sich finden. Hier ist der Schlüssel und eine Wegbeschreibung. Navigieren Sie sich nicht mit GPS dorthin! Sie haben Ihre sechs Sinne, die Sie dort hinleiten werden! Das ist der erste Schritt zu Ihrer Entwöhnung; der erste Schritt in Ihr neues Leben!

Aber ich kann doch nicht ohne mein Smartphone…

Doch, Sie können! Sie werden essen, sich bewegen, schlafen. Wenn Sie Ansprache brauchen, sprechen Sie mit den Bäumen! Sie werden Ihnen geduldig zuhören. Schreiben Sie auf, was Sie mit Ihnen besprechen!

 

Fortsetzung hier

Beg Inn: Zum hundersten Todestag von Begor Inninger

Am 20. April des Jahres 1889 wurden Bettina und Gregor Inninger mitten in Europa Eltern eines Sohnes. Sie nannten ihn Begor.

An Begors fünfzehntem Geburtstag sagte sein Vater Gregor beim Essen am Familientisch: Hier geht alles den Bach runter. Wir leben in einer Resig-Nation. Das deutsche Volk ist das einzig wahre Volk. Begors Mutter Bettina, an sich ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, fing zu weinen an, als Begors Vater Gregor das gesagt hatte. Von diesem Tag an weinte Begors Mutter immer mehr. Fast jeden Tag sah Begor sie weinen.

An Begors zwanzigstem Geburtstag sagte seine Mutter Bettina: Wenn nur der Kaiser nicht stirbt! Der hält alles zusammen. Der sorgt dafür, dass wir uns alle noch vertragen. Aber er ist ja schon so alt! Nachdem sie das gesagt hatte, fing sie wieder bitterlich zu weinen an, während Vater Gregor aufstand und den Tisch verließ.

Nicht nur der Kaiser ist alt, dachte Begor. Alles ist alt hier. Deshalb beschloss er an diesem Tag, seinem zwanzigsten Geburtstag, nicht mehr hier leben zu wollen, mitten in Europa, wo er geboren war, in dieser Alten Welt, sondern auszuwandern in die Neue Welt.

Einige Wochen vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag hatte er genügend Geld gespart. Er reiste zum Atlantik und bestieg dort am 10. April ein riesiges Schiff, das ihn in die Neue Welt bringen würde. Am Abend des fünften Tages der Reise mit dem Schiff lag Begor auf seinem Schlafplatz und sehnte sich nach dem Land, nach Erde unter seinen Füßen. Tagelang, wochenlang nur auf dem Wasser sein, das kannte er nicht als Mitteleuropäer. Plötzlich, mitten in seine Sehnsucht hinein, wackelte und knarzte es im ganzen Schlafsaal. Begor lief an Deck und sah, dass das Schiff an einem Eisberg entlangschrammte. Angst. Dann war zunächst alles wieder ruhig. Begor blickte zum Himmel: Die Nacht war sternenklar. Doch unter ihm drang Wasser ins Schiff. Panik brach aus. Rettungsboote wurden zu Wasser gelassen. Menschen drängten sich, um auf ihnen Platz zu finden. Begor hielt sich vom Gedränge fern und bemerkte einen Mann neben sich, der am ganzen Leib zitterte. Begor zog seine Jacke aus und gab sie ihm. Der zitternde Mann sah ihn ungläubig an, nahm die Jacke und lief davon, um einen Platz auf einem der Rettungsboote zu ergattern. Begor blieb bis zuletzt auf dem Schiff. Als es sank, sprang er ins Wasser um sich zu retten, wurde aber von seinem Sog in die Tiefe gerissen. Im Wasser erfasste ihn ein Sog von Luft, der aus dem sinkenden Schiff drückte und ihn wieder an die Oberfläche schleuderte. War das eine Wiedergeburt? Begor, der Neugeborene, klammerte sich an ein Stück Holz, das im Wasser trieb. Jetzt sah er wieder die Sterne am Himmel. Er begann zu träumen. Er flog hoch zu den Sternen. Die Erde unter ihm wurde immer kleiner, aber es machte ihm nichts. Er flog weiter zu den Sternen und fühlte sich frei. Die wahre Freiheit ist in mir, und ist sie nicht in mir, so ist sie nirgendwo.

Dann erwachte er aus seinem Traum, obwohl er nicht erwachen wollte. Er wollte frei sein! Statt auf den Sternen landete er auf einem Rettungsboot. Die Neue Welt wartete auf ihn. Kurz vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag kam Begor in der Neuen Welt an, an den Piers von Manhattan. Es war ein zweiter Beginn seines Lebens. Begor blieb in New York und eröffnete eine Kneipe, der er den Namen The Beg Inn gab. Weil sein Leben neu begonnen hatte.

Viele Englischsprachige nahmen den Namen der Kneipe wörtlich: Sie bettelten um Bier und zahlten keine Zeche. Ein paar Jahre ging es gut mit der Kneipe, aber schließlich wurden die bettelnden Gäste zuviel und Begor konnte es sich nicht mehr leisten. Er brauchte Geld. Der Krieg kam ihm recht, und er meldete sich zum Dienst für seine neue Heimat.

Bei der Überfahrt nach Europa blickte Begor zum Himmel. Er war wolkenverhangen. Keine Sterne sichtbar, zu denen er hätte fliegen können. So träumte er wieder von den Sternen: Die wahre Freiheit ist in mir, und ist sie nicht in mir, so ist sie nirgendwo.

Begor Inninger starb am 8. Februar 1918 bei einem Angriff auf die Alte Welt.