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Sus und Mari (Zwei Schwestern) – Versuch einer Szene

Sus und Mari stellen gerne Situationen dar: Sus schwimmt durch einen Fluss, während Mari am Ufer bleibt. Als Sus am anderen Ufer ankommt, rufen sie einen Kameramann, der sich mit seiner Kamera auf einem Boot in der Mitte des Flusses befindet. Der Kameramann macht ein Bild. Das Bild zeigt Mari auf der einen, Sus auf der anderen Seite des Flusses. Sus und Mari nennen das Bild Hierzulande und dortzulande, hier mit und dort ohne Gewande, denn Sus hat sich zum Schwimmen ausgezogen und steht nackt dort, während Mari sich hier Sus‘ Kleid so über den Kopf gezogen hat, dass nur ein Schlitz für ihre Augen freibleibt. Das Bild ist sehr bekannt. Es macht die beiden berühmt. Die Feuilletonisten stürzen sich auf das Bild, rätseln über sein Motiv und kommen fast einhellig zu dem Ergebnis, dass man dort, in der Fremde, nackt ist, und hier, in der Heimat, sich lächerliche Verkleidungen über seinen Körper wirft. Sus und Mari meinen dazu: Das kann schon so sein. Kleidung wird schrecklich ideologisiert. Im Winter gehe ich gerne vollverschleiert, sagt Sus, weil es mich im nackten Gesicht genauso friert wie am restlichen Körper. Deswegen bin ich keine Muslime. Ich dagegen schon, sagt Mari, auf das berühmte Bild zurückkommend: Als ich mir Sus‘ Kleid über den Kopf zog, wollte ich eine Muslime sein. Oder war ich doch eine Christin, der das Kopftuch zu weit in das Gesicht gerutscht ist? Ich mit meinen rötlichen Haaren bin die nackte Hexe am anderen Ufer, sagt Sus. Wo ist der Scheiterhaufen?

Wer sind Sus und Mari? Sie haben die selbe Mutter, aber nicht den selben Vater. Sus und Maris Mutter Anne schimpft über die Väter ihrer Töchter, von denen sie sich jeweils kurz nach der Zeugung getrennt hat. Keiner der beiden Väter ist bei der Geburt von Sus und Mari dabei gewesen. Keiner ist später im Leben der beiden dabei. Es ist ein Heranwachsen ohne Väter. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die beiden als Kinder beschließen, Nonnen zu werden.

Mari kennt Wolfgang und sagt: Wolfgang heißt Thomas, aber ich nenne ihn Wolfgang, denn er hat einen Gang wie ein Wolf. Von Wolfgang gibt es ein Bild, das ihn auf einer Kloschüssel sitzend zeigt. Das Bild heißt: Wolfgang beim Stuhlgang.

Mari hat ein Kind geboren. Ob Wolfgang oder Thomas der Vater ist, weiß sie nicht. Am liebsten sei ihr die Vorstellung, sie habe ein Kind von zwei Männern, sagt sie. Das Kind ist – nach langem Kampf – bei der Geburt gestorben. Mari hat dabei viel Blut verloren. Sus hat ein Bild gemacht mit Mari in ihrem verlorenen Blut. Sie nennen das Bild: Das ist mein Blut, das für euch Männer vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ein Feuilletonist kommentiert das Bild entnervt mit: Die kranken Schwestern, woraufhin Sus meint: Mari und ich werden keine Nonnen mehr, wie wir das als Kinder wollten, sondern Krankenschwestern. Denn die kranke Gesellschaft braucht ihre Schwestern.

Wieviel ist genug? (Besessen vom Besitzen)

Till und ich sprachen über den Film Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman, und Till sagte: „Den würde ich gern mal wieder sehen“, und ich sagte: „Ich hab ihn auf DVD, ich geb ihn dir mit“, und er sagte: „Willst du ihn nicht selber sehen, jetzt, wo wir gerade über ihn gesprochen haben?“ und ich sagte: „Ich habe ihn zweimal auf DVD“, gab ihm die DVD in der Ausgabe von zweitausendeins und verwies stolz auf meine Ingmar-Bergman-Edition von arthaus, zwanzig Filme von Ingmar Bergman, darunter natürlich auch Szenen einer Ehe. „Ich schenk sie dir“, sagte ich zu Till, und bereute diesen Satz im selben Moment, denn eine DVD gibt mir die Sicherheit, einen Film zu besitzen, ihn jederzeit ansehen zu können, das Ansehen von Filmen beruhigt mich, und eine zweite DVD von einem Film zu haben, gibt mir die Sicherheit, einen Film ansehen zu können, wenn eine DVD kaputt- oder verlorengeht. Es kommt mir vor wie ein krampfhaftes Festhalten an einer Sicherheit, die es nicht gibt. Bilder sind vergänglich wie das Leben, trotzdem will ich sie festhalten.

Till nahm die DVD und ging. Ich war allein vor meinem kleinen Heimkino, es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, einen weiteren Film meiner Ingmar-Bergman-Edition anzusehen, zum Beispiel Das Gesicht oder Die Jungfrauenquelle, die habe ich noch gar nicht gesehen, oder Licht im Winter noch einmal, oder Die Stunde des Wolfs, zwei meiner Lieblinge. Stattdessen ging ich in die ARD-Mediathek und sah Alice in den Städten von Wim Wenders. Seit ich die Ingmar-Bergman-Edition besitze, hat mein Verlangen, Ingmar-Bergman-Filme zu sehen, merklich nachgelassen, das Interesse ist noch da, aber nicht mehr dieses unbedingte Verlangen, der Besitz hat mich abgestumpft, auf grässliche Weise satt gemacht, statt dessen sehe ich Wim-Wenders-Filme aus der ARD-Mediathek, was mir vorher nie in den Sinn gekommen wäre. Ich sehe Film, ohne zu besitzen. Macht mich das zu einem besseren Menschen?

Manchmal sehe ich gar keinen Film, sondern setze mich im Freien ins Gras und betrachte den Himmel. Ich betrachte den hellen Mond und die Sterne neben ihm und wundere mich, wieso ich genau hier und jetzt auf dem Raumschiff Erde bin, das sich durch diese unendlichen Weiten dreht, ich habe Angst, dass meine DVDs bei diesem Drehen verloren gehen, ich spüre, wie ich den Halt verliere, ich möchte verstehen, warum und worum sich alles dreht, und dann möchte ich es nicht verstehen sondern mich einfach in der Luft bewegen wie ein Vogel oder im Wasser wie ein Fisch. Ungläubig berühre ich mit meiner Menschenhand die Erde unter mir. Ich betrachte meine Hand im Mondlicht. Ich atme tief ein und aus und denke: Der Mensch, zum Beispiel ich, redet sich Dinge ein, an die er dann glaubt. Der Mensch redet sich seit geraumer Zeit ein, dass alles immer mehr werden soll. Dabei geht das nicht: dass alles immer mehr wird. Ein Schneeball rollt den Hang hinunter und wird immer größer, aber im Frühling schmilzt er zu Wasser. Die Erde ist die Erde, nicht mehr und nicht weniger. Jedes wirtschaftliche Problem ist ein Verteilungsproblem. Geld – ohnehin eine rein menschliche Erfindung, dessen Nutzen und Wert durch Perversion verloren zu gehen scheint – kann nicht ausgehen, es kann nur schlecht verteilt sein. Wenn der Reiche nicht mehr ausgeht zum Essen und Trinken, gibt er dem Wirt kein Geld mehr und der Wirt wird arm. Werden viele Wirte arm, gehen sie zum Reichen und berauben ihn. Statt dass der Reiche schon vorher, bevor er beraubt wird, mit den armen Wirten teilt! Wer hat als Erster begonnen sich einzureden, dass individueller Besitz ein erstrebenswertes Gut ist? Wer hat mir eingeredet, dass DVDs-Besitzen ein erstrebenswerter Zustand ist? Hat die Angst uns das eingeredet? Woher kommt die Angst?

Ich habe Alice in den Städten von Wim Wenders gesehen. Ich habe beim Sehen nicht besessen, ich war nicht besessen zu besitzen. Ich habe gesehen: Leben und Liebe. Und solange ich nicht verstehe, dass Leben und Lieben die einzigen erstrebenswerten Zustände sind, werde ich nicht glücklich sein.

Weiße Talkshow, Thema: LSB

Weiß ist im Moment keine Modefarbe, obwohl so viele weiße Wagen auf den Straßen fahren, aber das sind wahrscheinlich alles Rassisten. Oder sie haben sich schon einen neuen schwarzen bestellt und müssen notgedrungen mit ihrem weißen herumfahren, bis sie den schwarzen bekommen. Vielleicht sollte man als Weißer-Wagen-Besitzer den Shitstorm einfach ertragen und den weißen Wagen behalten, ist ja auch ökonomisch und sogar ökologisch sinnvoller. Aus Überzeugung zur Friday-for-future-Demo im weißen Wagen vorfahren, nicht mit dem trendigen schwarzen, das wäre doch mal ein mutiges Zeichen. Jedenfalls war ich in einer Talkshow eingeladen und wurde mit einem weißen Wagen vom Bahnhof abgeholt. Das geht ja gut los, dachte ich mir, nächstes Mal nehme ich mir mein Klapprad mit oder ich gehe zu Fuß.

Der Stargast der Show, eine bekannte lesbische schwarze Behinderte, war schon da als ich mit dem weißen Auto eintraf, ich fragte sie nicht, ob sie mit einem schwarzen Auto abgeholt wurde, denn wir legten sofort los und der Moderator fragte sie: Wie ist das Leben als lesbische schwarze Behinderte, als LSB?
Die LSB schnappte tief nach Luft, ich spürte ihre Anspannung und Empörung, und sie sagte: Zuerst werde ich mit einem nicht barrierefreien Zugang konfrontiert, nun werde ich von der ersten Frage an stigmatisiert, werde in die lesbische schwarze behinderte Ecke gedrängt. Können Sie mich nicht wie einen normalen Menschen behandeln?
Natürlich, sagte der Moderator, aber Sie selbst haben ja die Aufmerksamkeit auf sich gezogen mit dem Post #LSBlivesmatter.
Ich sehe schon: Hier schlägt mir die totale Ignoranz entgegen, die Ignoranz der weißen Elite.
Sie sprang auf und verließ schluchzend den Raum.

Dieser Abgang des Stargastes war früh und nicht geplant. Um sie herum war die ganze Show aufgebaut. Nun sollte eigentlich Funny van Dannen auftreten mit seinem Song Lesbische schwarze Behinderte – sozusagen die Hymne der LSB-Bewegung. Funny trat auch auf, aber er sang seinen Song Menschenverachtende Untergrundmusik.

Nach seinem Auftritt ging Funny gleich wieder, und ich blieb als einziger Gast in der Show übrig. Der Moderator fragte mich:
Herr Hinterstoisser, was trieb Sie zu dem verhängnisvollen Post #Whitelivesmatter auf Ihrer Seite?
Wieso verhängnisvoll?
Nun, vor allem die LSB-Bewegung protestierte ja heftig und bezeichnete Sie als Rassisten, dem das Schreiben verboten gehört.
Ja. Krasse Intoleranz. Da muss sich die LSB-Bewegung wohl mit ihrer eigenen Intoleranz auseinandersetzen.
Was wollten Sie mit Ihrem Post aussagen?
Ich weiß es nicht. Ich hab ihn einfach gemacht. Aus einem Affekt heraus, ohne ihn intellektuell durchzukauen. Ich hatte eine Wut auf diese ganzen Gutmenschen, die plötzlich gegen Rassismus sind und doch ständig nur neue Feindbilder suchen.
Sie haben den Post nachträglich geändert.
Ja, ich bin ein feiger Mitläufer. Ich habe Angst, in die Trump-Ecke geschoben zu werden. Ich steige ein in das beliebte Schwarz-Weiß-Malen: Rassist – Gutmensch. Täter – Opfer. Die Welt braucht Einteilung. Um nicht die Verantwortung für das eigene Tun übernehmen zu müssen.
Aber die Weißen haben nun mal jahrhundertelang die Schwarzen unterdrückt.
Ja. Und Sie zahlen einen hohen Preis dafür. Der weiße Kolonialherr bringt den schwarzen Neger um und verkrüppelt sich selbst. Er ist ein seelischer Krüppel, er hält sich selbst nicht aus. Das ist traurig. Hätte er den Neger nur leben lassen. Aber etwas trieb ihn zu dieser Tat. Was?

Da sprang plötzlich Funny überraschend aus dem Dunkel ins Licht und begann zu singen: LSB.

Zart, ganz zart – oder: Wenn Mütter ihre Söhne verlieren (Teil 2 der Hirsch-Dilogie)

In diesem Moment passierte alles. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, sie, diese harte Frau, die so hart zu sich selbst war und so hart zur Welt. Alles war klar in diesem Moment. Ich spürte sie, die Klarheit. Ich wusste sie nicht. Sie war ungewusst. Die harte Frau löste den Dutt in ihrem weißen Haar und ließ es frei fallen, über Schulter und über Rücken, was sie sonst nie tat. Es beeindruckte mich, es hatte etwas Sinnliches und Zartes.

Dann ging sie, schluchzend, um Fassung ringend. Beschämt, dass sie mir ihre Tränen gezeigt hatte. Sie ging zur Anrichte und nahm von ihren Herztropfen, die nahm sie schon immer. Seit ich sie kannte, seit ich auf der Welt war, und das war für mich immer. Heute weiß ich: Sie nahm die Tropfen, seit ihr Herz gebrochen war. Heute weiß ich: Drei Jahre vor meiner Geburt war ihr Sohn gestorben. Nicht ihr leiblicher, sie hatte nur eine Tochter: meine Mutter. Ihr Ziehsohn. Ihre Schwester hatte ihn ihr anvertraut, weil er ledig geboren war und die Schwester ihn nicht versorgen konnte. Ihr Ziehsohn, sie hatte ihn geliebt wie eine Mutter ihren Sohn liebt. Das hat mir meine Mutter erzählt. Aber der Ziehsohn rebellierte, wusste nicht wohin mit seiner jugendlichen Kraft. Er zog in die weite Welt, kam zurück, verwirrt. Ging in seiner Verwirrung in die Berge, um zu sich zu kommen. Sah nur Abgründe und stürzte sich auf seiner verzweifelten Suche in diese.

Was für eine Trauer! Den eigenen Sohn zu verlieren! Aber die Trauer durfte nicht sein. Die Trauer war tief, abgrundtief. Machte Angst. Fassung war gefragt. Contenance. Sie ging nach dem Tod ihres Ziehsohns nie mehr auf Begräbnisse. Zu groß war die Trauer. Sie hatte Angst, dass sie wieder hochkommt. Die Trauer wurde immer größer. Ihre Gefasstheit, mit der sie die Trauer unterdrückte, war zuviel für ihr Herz. Es musste fortan mit Tropfen gestützt werden.

Ich war ein pubertierender Rebell. Wusste nicht wohin mit meiner Kraft. Ich hatte Lust auf die Abgründe in ihr, wollte sie rauskitzeln. Ich rüttelte heftig an ihrer Ordnung, ich brachte sie aus der Fassung, die Trauer war nicht mehr zu unterdrücken, sie kam hoch und mit ihr die Tränen, und mit ihnen die Angst, einen weiteren Sohn zu verlieren: ihren Enkelsohn.

In diesem Moment passierte alles, war alles klar. Ich war fassungslos ob der Trauer und der Angst, die sie mich durch ihre Tränen spüren ließ, auch wenn sie sofort ging und sich wieder fasste. Dieser Moment genügte, um das Ungewusste gewusst zu machen.

Nach ihrem Schlaganfall besuchte ich sie am Pflegebett. Sie befahl mir, das Geschirr zu spülen, obwohl keines da war, für sie war es da, Ordnung und Contenance behalten, gefasst sein: Mach es ordentlich, mein Sohn! Sei auf der Hut vor deinen Gefühlen! Sie sind zu groß für mich und auch für dich! Diese Warnung kam zu spät: Ich hatte mittlerweile ihre Gefühle übernommen, durch die vielen verbrachten Kinderstunden mit ihr, sah mich als traurigen und ängstlichen Menschen.

Ein paar Jahre nach ihr starb ein weiterer Sohn: ihr Schwiegersohn, mein Vater. Die Mutter meines Vaters, meine andere Oma, lebte da noch. Meine Vater-Oma war zehn Jahre jünger als meine Mutter-Oma, ich glaube, sie hatte ein starkes Herz, aber es war auch verschlossen, wie sonst hätte sie ihr Leben schaffen sollen, als früh Alleinerziehende von vier Söhnen? Wie soll man sein Herz der Liebe öffnen, wenn man es nie gelernt hat? Wenn man nur Unliebe erfahren hat? Am Grab ihres Ältesten, meinem Vater, schluchzte sie ergreifend, es schüttelte mich, und ich glaube zu wissen: Spätestens wenn ihre Söhne sterben, öffnen Mütter ihre Herzen.

So also wurde mein Ungewusstes zu Gewusstem. Ich setzte mich hin, unter die zarten Blätter des Baumes, und ließ mich tief in mich sinken. Ich spürte die Trauer meiner Großmütter, ganz tief. Kein Sichfassen, kein Sichverschließen, nein, ein weites offenes Land der Trauer öffnete sich vor mir. In dieses weite offene Land sang ich ein Lieb hinein, für meine Großmütter, die ihre Söhne verloren haben. Und die Trauer atmete auf und jubelte, dass sie endlich trauern durfte.

Wo ist die Liebe? fragt jeder Moment. In diesem Moment war sie da: zart, ganz zart. Alles war klar.

Gesungenes Lieb

Die Omama (Teil 1 der Hirsch-Dilogie)

Ich habe immer schon viel vorgehabt mit meinem Leben, sagt Vorderbrandner, aber meine Bitterkeit hat mich lange daran gehindert, mir das Viele vorzunehmen. Meine Bitterkeit gegenüber meiner Großmutter zum Beispiel, denn sie war ein sehr bitterer Mensch. Eine erste Wendung in meinem Leben ergab sich an jenem Abend im Jahr 1993. Was war geschehen?

Meine Großmutter war vor Kurzem gestorben, da lud mich ihre damals noch lebende Schwester nach Wien ein. Als Sechzehnjähriger dachte ich mir: Jetzt kriechen sie heraus aus ihren Löchern mit ihrem schlechten Gewissen, und ich soll dafür herhalten, es zu beruhigen. Ich hatte keine Lust, nach Wien zu fahren. Trotzdem stieg ich in den Zug. Wahrscheinlich hatte ich die Hoffnung, es würden sich andere Dinge ergeben, als in der alten muffigen Wohnung der alten Frau herumzusitzen.

Am Tag meiner Ankunft kam Franzi zur Schwester meiner Großmutter. Franzi war drei Jahre älter als ich, sie war die Enkelin der Schwester meiner Großmutter. Meine Großmutter hätte gesagt: meines Geschwisters Kinds Kind – Genitiv in Vollendung, Klarheit in der Sprache. Franzi war ein glühender Verehrer der Musik von Ludwig Hirsch, sie konnte Komm großer schwarzer Vogel mit ihrer Gitarre auswendig vortragen. Sie fragte mich: Kommst du mit ins Konzert heute Abend ins Volkstheater? Ludwig Hirsch war für mich damals ein morbider, lebensmüder Sinnierer mit wenigen lichten Momenten. Kein Wunder, dass Franzi niemand anderen gefunden hatte, der sie begleitet. Aber Franzi gefiel mir, mir gefiel die Vorstellung, ihr junger Begleiter und Liebhaber zu sein. Darf man Liebhaber eines Geschwisters Kinds Kind sein? Was darf man auf dieser Welt? Meine Großmutter hatte mir hauptsächlich erklärt, was man NICHT darf.

Wir waren recht früh im Volkstheater auf unseren Plätzen. Ich beobachtete die Leute, die in den Saal kamen und ihn füllten. Eine Magie erfasste mich. Als sei ich Teil eines verbotenen Abenteuers. Ich war in Wien, im Volkstheater, neben Franzi, um die verbotenen, dreckigen, morbiden Lieder des Ludwig Hirsch zu hören. Meine Großmutter konnte mich nicht daran hindern. Ich spürte knisternde Erregung in mir. Ich nahm Franzis Hand und drückte sie ganz fest. Franzi, meine Freiheit! Im nächsten Moment schämte ich mich dafür. Gleich danach wurde es dunkel im Saal. Ludwig Hirsch begann, seine Geschichten zu erzählen. Johnny Bertl suonierte auf seiner Gitarre. Als sie Die Omama vortrugen, hatten sie mich endgültig gepackt. Ich dachte daran, wie schlecht meine Oma Märchen erzählen konnte. Wie ich mich ärgerte, wenn sie beim Märchen der Sieben Raben immer von sechs Raben sprach, weil sie an ihre eigenen sechs Brüder dachte. Feen, Prinzen und starke Männer waren nicht ihre Welt – lieber sprach sie von Hexen, bösen Gestalten und Schwächlingen. Gefühle übermannten mich. Oma, du bitterer Mensch, trotz oder wegen der sechs Raben: Ich habe dich so geliebt! Ich saß in meinem Sessel und spürte, wie sehr mich meine Oma geliebt hat, auch wenn sie mir das nur auf ihre bittere Weise zeigen konnte. Franzi nahm mich an der Hand und Tränen flossen über meine Wangen. Jetzt wusste ich, was ich in meinem Leben machen will: die Gitarre spielen wie Johnny Bertl und Geschichten erzählen wie Ludwig Hirsch.

Der Abend im Volkstheater gilt heute als sehr lichter Moment im Schaffen des Ludwig Hirsch, als ein legendärer Vortrag. An der Gitarre, sagt Vorderbrandner, bin ich ein Rhythmusschraddler, weit weg vom Suonieren des Johnny Bertl. Im Geschichtenerzählen habe ich mehr Übung, aber ich erstarre immer noch vor Ehrfurcht, wenn ich daran denke, wie Ludwig Hirsch Die Omama erzählt hat, damals im Wiener Volkstheater im Jahr 1993. Franzi? Kurz nach Ludwig Hirschs Tod kletterte sie, in einer Art letztem Abenteuer, im Dunkel der Nacht auf die Kirche am Steinhof und stürzte sich in die Tiefe.

 

Die Omama 1993 im Wiener Volkstheater

 

In memoriam Franzi: Komm großer schwarzer Vogel

Erinnerungen an eine Zeit der Angst

Klopapier war einst – es ist noch gar nicht so lange her, es war, als ein Virus über unser Land hereinbrach und Angst und Schrecken verbreitete –  ein wertvolles Gut, ein Wertpapier sozusagen. Heute ist es wieder ein gewöhnliches Gebrauchsgut, obwohl seine Herstellung, vor allem unter Berücksichtigung der Klimadebatte, sehr energieintensiv ist.

Es ist nicht selbstverständlich, sich den Hintern mit Klopapier abzuwischen, mit diesem Luxusgut, nein, es ist eine Handlung, die mit großer Demut vollbracht werden sollte. Ich habe mir gerade eine neue Packung dieser tollen Rollen besorgt und habe sie, als ich sie zuhause sorgsam aus ihrer Verpackung geschält hatte, lange und liebevoll betrachet.

Nun werde ich eine davon, aus Solidarität, in den Landkreis Gütersloh schicken. #WeFightCorona. #WeShitTheVirus.

Sonnensehnsucht (Tief im Westen)

Himmel über Aubing

Gegen Abend hin überkam mich eine tiefe Sehnsucht nach der Sonne. Ich fuhr ihr nach, in den Westen, wo sie untergeht. Die Stadt zieht sich weit nach Westen, sie hat, so scheint es, auch die Sehnsucht des Abends nach der Sonne. Wo einst die Könige weilten im Sommer, auf Schloss Nymphenburg, endet diese Sehnsucht nicht, die Stadt dehnt sich weiter aus hinter Nymphenburg, durch den Durchblick durchquerte ich sie bis Schloss Blutenburg, doch die Stadt streckte sich noch immer, bis zum ehemaligen Bauerndorf Aubing, wohin die Bergsonstraße mich leitete. Mächtige Bahnanlagen unterquerend, verlor ich fast die Hoffnung auf die Sonne, meine Sehnsucht schien sich einer Verzagtheit zu ergeben. Diese Stadt hört doch niemals auf! Doch ich trat weiter in die Pedale, als schien eine unsichtbare Kraft mich zu leiten. Ich erreichte den erhaltenen Kern Alt-Aubings, ländliche Idylle stellte sich ein, doch der Blick nach Westen war noch immer nicht frei. Weiter, immer weiter nach Westen, nun, nach Überquerung einer weiteren Bahntrasse, sah ich freies Feld vor mir, endlich. Weit vor mir erhob sich eine grüne Hügelzunge, die wollte ich noch erreichen, als krönenden Abschluss meiner Abendsonnenanbetung. Die Hügelzunge erwies sich als Einhausung der Autobahn A99. Kein Platz zum Verweilen, entschied mein Gemüt, ich fuhr weiter, mein Gefühl leitete mich zur Moosschwaige, ein Kleinod der Einsamkeit. Im Bach kühlte ich meine Füße und mein Gemüt. Endlich – ich hatte die Stadt hinter mir gelassen, ich war tief im Westen angelangt! Ich beobachtete die Sonne auf ihrem abendlichen Weg. Ich spürte das Raumschiff Erde, wie es durch Raum und Zeit schwebt. Demut überkam mich vor der Größe dieser Welt, und ich sprach langsam und bedächtig:

Alles wird wieder groß sein und gewaltig.
Die Lande einfach und die Wasser faltig,
die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;
und in den Tälern, stark und vielgestaltig,
ein Volk von Hirten und von Ackerbauern.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern
wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern
wie ein gefangenes und wundes Tier -
die Häuser gastlich allen Einlassklopfern
und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern
in allem Handeln und in dir und mir.

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

(Rainer Maria Rilke)

Zufrieden und gestärkt verließ ich die ländliche Idylle, ich trat in die Pedale, über die grüne Autobahnbrücke zurück, da erreichte ich sie wieder, die Stadt, ich hatte sie schon vermisst, blieb andächtig stehen vor dem Himmel über Aubing:

Stationen der Reise von Ost nach West:
Nymphenburg
Durchblick
Blutenburg
Bergsonstraße
Aubing
Moosschwaige

Scheider von Gut und Böse

Ich sah mich mit der Aufgabe konfrontiert, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, ja, die Aufgabe wurde mir aufoktroyiert, indem man mir sagte: Seien Sie der Scheider von Gut und Böse! Ich fing daraufhin zu denken an, denn wie sollte ich diese Aufgabe sonst angehen als denkend: Wenn ich gut bin, sehe ich das Böse. Wenn ich böse bin, sehe ich das Gute. Oder ist es umgekehrt: Wenn ich gut bin, sehe ich das Gute… Ehe ich den Gedanken zuende denken konnte, hörte ich jemanden sagen: Negerin, hör auf mit dem Scheiß! Ich wollte einschreiten, denn es schien ein klarer Fall von Rassismus vorzuliegen, als die Angesprochene die Pistole auf den Rassisten richtete und sagte: Ich knall dich ab, du weißer männlicher Macho! und sie ließ ihren Worten Taten folgen, verballerte ihre ganze Munition, und der weiße männliche Macho, der sich eben als Rassist geoutet hatte, starb in einem roten Blutbad.

Ich versuchte gerade, das Erlebte zu verarbeiten, als sie, die ich hier, um dem Lesefluss zu dienen, scheiß Negerin nenne, ohne rassistischen Hintergrund, nur zur besseren Unterscheidung, sagte: Guck nicht so blöd, sonst knall ich dich auch ab! Woraufhin ich dachte: Stimmt, logisch, ich bin auch ein weißer männlicher Macho, wobei der Macho in mir, naja, bin ich nicht eher ein weißer männlicher Weichling?, doch plötzlich überkam mich Angst, die meine Macho- und Weichlingsgedanken verdrängte, und ich beeilte mich zu sagen: Nein, nein, ich guck nicht blöd, im Gegenteil, ich find das gut, klarer Fall von Rassismus, da muss man Zeichen setzen, #notoracism, ■ und so, ja gut, das sind Zeichen, aber ich meine, nur Zeichen?, nein, man muss Taten setzen, es abknallen, dieses weiße männliche Machoschwein, dessen Vorfahren die Neger erst ausgebeutet und dann getötet… Sie winkte ab und ging weg, und ich dachte mir: Wow, krasser Einstieg in meine Tätigkeit als Scheider von Gut und Böse, und folgende Fragestellung drängte sich mir auf: Wäre die scheiß Negerin mit der Pistole ein Bleichgesicht gewesen – wäre es dann Mord gewesen, oder lediglich die Rache einer unterdrückten weiblichen Weißen an einem weißen männlichen Macho? Ich hatte das Gefühl, die Gedanken türmten sich in mir auf, sie zwangen mich in die Knie, und insofern war es gut, dass ich auch diesen Gedanken mit den Weißen beiderlei Geschlechts nicht zuende denken konnte, denn eine Person mit einem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf kam mir entgegen, was ich lustig fand. Die Person sagte: Guck nicht so blöd! Das kam mir bekannt vor, doch dann sagte die Person: Bist wohl ein scheiß Nazi, oder was? Ich dachte, ja: Ich dachte schon wieder, und diesmal dachte ich: Vielleicht trage ich die Haare zu kurz?, doch dann begriff ich: Nein, der Nazi ist im Kopf dieser Person mit dem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf, ein festes Konzept im Kopf dieser Person, der böse Nazi, ein durchaus plausibles Konzept, ich schien dem Scheiden von Gut und Böse näher zu kommen, als die Person rief: Wir sind das auserwählte Volk und ihr seid alles scheiß Nazis! Schämst du dich denn nicht, du Verbrecher, du Mörder des auserwählten Volkes! Ich böse, Person mit schwarzem Hütchen gut? So denkt zumindest die Person mit dem schwarzen Hütchen, unerbittlich, und in mir blitzte der Gedanke auf, das gut und böse verwerfliche Konzepte sind, Konzepte, die in eine Spirale der Gewalt führen, doch kaum war der Gedanke vom Blitz erleuchtet, fielen Schüsse, begleitet von lauten Schreien – Allahu akbar donnerte es in meinen Ohren, und ich sah die Person mit dem schwarzen Hütchen und mich als die nächsten toten weißen männlichen Machos im roten Blutbad, überhaupt eine ganz schöne Männerveranstaltung hier, war die Negerin nicht doch ein Neger und die Feministin ein Feminist?, doch vor unserem Tod wachte ich schweißgebadet auf und erschrak darüber, wie echt sich dieser Traum angefühlt hatte.

Prozession

Ich weiß nicht mehr, wann es war. Meine Aussicht war jedenfalls so:

Ich war draußen, soviel kann ich aufgrund dieser Photographie feststellen, nicht unter freiem Himmel, nein, unter einem Baum, unter einer Linde, wie ich bei genauer Betrachtung des Blattwerks erkenne, und jetzt erinnere ich mich, ja, ich erinnere mich an ein Hämmern, ich ging diesem Hämmern nach, bis ich einen Buntspecht sah, der auf das Holz der Linde hämmerte. Ich war aufgestanden, um nach dem Buntspecht zu sehen, ich fühlte mich bewegt, etwas bewegte mich. War es die Musik, die ich vernahm,

ohne sie zu hören, die mich bewegte, nein, ich hörte sie nicht, dennoch war sie in meinem Ohr, nein, nicht in meinem Ohr, mehr in meinem Magen, oder in meinem Herz, ja, in meinem Herz: Es öffnete sich. Ich sehe ein ganzes Orchester in der Blumenwiese, Ludwig sitzt ruhig daneben und lauscht seinem Werk. Bist du es wirklich, Ludwig? frage ich, ich bin gerührt, aber da ist er verschwunden, er und das Orchester. Die Musik bleibt bei mir, sie bewegt mich, sie bewegt mich durch die grüne Natur des Frühsommertages. Die Bienen schwirren über die Wiese, mir schwirrt der Kopf, etwas bewegt mich, ich bewege mich fort im Rhythmus der Musik, es ist eine Prozession, ja, endlich habe ich das Wort gefunden, es ist eine Prozession durch das Wunder des Lebens, und ich lebe mitten in diesem Leben, diesem Leben, das ich nun aufzählen will: Da wäre zunächst der Regenwurm unter mir und weiters der Buchfink über mir, aber halt: Ich stoppe mein Aufzählen, mein Aufzählen weicht meinem Staunen. Das Graben des Regenwurms, der Gesang des Buchfinks, aber vor allem Ludwigs Musik, etwas bewegt mich, immer heftiger, ich fliege und drehe mich, bis ich mir schließlich keiner Perspektive mehr sicher bin

und ich spüre: Wie schön ist dieses Leben, wenn ich es mit Liebe betrachte. Ludwig, bist du noch da? Ja, ich glaube, dort hinten im Gras, in den Blumen, da sitzt du. Meine Empfindungen, wie soll ich sie beschreiben? Bei meiner Prozession durch die grüne Natur dieses Frühsommertages. Deine Musik beschreibt doch schon alles.