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Back to Anger (Ihr Kinderlein saufet) 2

Fortsetzung von Teil 1

Nach diesem gemeinsamen Ausflug sahen Mitterbichler und ich uns nicht wieder. Ich wollte, ich musste weg vom Stoissertal: war in Wien, in Rom, in Paris, in London. Und schließlich landete ich in München.

Und hier bin ich, in München, an einem grauen Dezembertag des Jahres 2020, kurz vor Weihnachten, mitten im Lockdown der Corona-Krise, Vorderbrandner fuhr mich mit einem London-Taxi durch die Stadt, wir hatten, wie gesagt, triftige Gründe dafür, schließlich arbeiteten wir an unserem weihnachtlichen Feature Alkoholismus unterm Tannenbaum, kamen aber nicht recht voran. Bewegung inspiriert, hofften wir. Vorglühen zu Weihnachten, Vollrausch zu Sylvester – beides ist dieses Jahr nicht möglich. Es herrscht eine Sehnsucht nach Normalität. Das hatte ich bisher notiert. Wir warfen uns Parolen zu wie Alkohol, das Öl der Gesellschaft oder Gemeinsam saufen ist normal, alleine saufen ist fatal. Die Sehnsucht der Herzen nach Normalität. Um uns weiter zu inspirieren, spielte ich im geräumigen Fond des Taxis, wo ich meine Gitarre fertig gestimmt hatte, die umgetextete Version des Weihnachtsklassikers Ihr Kinderlein kommet:

Ihr Kinderlein saufet, oh saufet doch all
Ins Koma euch saufet zu Bethlehems Stall
Und seht was in dieser hochgeistigen Nacht
das Saufen ins Koma für Freude uns macht

Oh sehet die Hirten, den Kai und den Udo,
Ihnen ist kotzübel, sie kotzen ins Stroh
Vom vielen Komasaufen ist ihnen ganz schlecht
Manche würden sagen: "Das geschieht ihnen recht!"

Oh sehet das Kindlein im vollgekotzten Stroh
Maria und Josef suchen derweil ein Klo
Und weil sie keins finden machen sie ins Gebüsch
Da sehen sie Kai und Udo und rufen: "Erwischt!"

Hier die Version unseres Features, die wir schlussendlich gesendet haben:

Aber das nur nebenbei, denn unsere Taxifahrt ging weiter und nahm einen unerwarteten Verlauf: Plötzlich nämlich, ich legte die Gitarre gerade zur Seite, fiel mir eine verwirrte Gestalt am Straßenrand auf, ich schaute ihr nach, die Gestalt trug eine abgetragene braune Jacke mit einem roten, einem gelben und einem weißen Streifen über der Brust und an den Ärmeln. Ich schaute in die andere Richtung, um das eben Gesehene zu verarbeiten. Oder um es zu vergessen. Als es mich wie der Blitz traf: Mitterbichler? Mitterbichler. Mitterbichler! –

„Halt sofort an!“
„Geht hier nicht.“
„Doch, halt an! Lass mich raus!“
Unter einem Hupkonzert lief ich über die Straße. Er war es, natürlich, wer sonst, die verwirrte Gestalt war Mitterbichler, in der Jacke wie damals in Schwabing, fröstelnd, mit wirrem Blick. Als ich näherkam, merkte ich: Er war völlig betrunken.

Ich hätte ihn stehen lassen können, aber ich tat es nicht, ich zerrte ihn ins London Taxi, Vorderbrandner fuhr weiter, Mitterbichler lag auf der Rückbank, völlig apathisch, nicht ansprechbar, ich sagte zu Vorderbrandner: „Oasis: Don’t Look Back in Anger – spiel das mal!“ Als die ersten Töne erklangen, horchte Mitterbichler auf: „Back to Anger“, murmelte er. Dann kotzte er ins Auto.

Nachdem wir an der Tanke das Gröbste entfernt hatten, sagte ich zu Vorderbrandner:
„Fahr nach Anger!“
„Wohin?“
„Salzburger Autobahn, kurz vor der Grenze.“
Es war schlechte Luft im Wagen. Mitterbichler schlief röchelnd auf der Rückbank ein, während ich ihn vom Klappsitz hinter der Fahrerkabine beobachtete. Ab und zu zuckte er hoch, schaute erschreckt, um wieder wegzudösen.

Back to Anger – mit freundlicher Genehmigung von Volvo Autohaus München. Foto: Isabel Sieber

„Ich sag dir, was mit dem ist“, sagte Vorderbrandner und setzte zu einem Vortrag an: „Der Opa war bei der Wehrmacht und hat nicht darüber geredet, die Oma hat das Mutterkreuz verliehen bekommen und war stolz darauf, mit dem Vater durfte nicht über Neger geredet werden, denn schon Schlesier und Sudetendeutsche waren unerträgliche Menschen, und die Mutter flüchtete sich in ihrer Verzweiflung in eine christliche Doppelmoral. Ein ganz normaler bayrischer Lebenslauf: Über nichts darf geredet werden, man spürt und fühlt es dafür umso mehr, man bekommt Angst vor diesen Gefühlen und muss sie betäuben. Mit Alkohol.“ Mitterbichler röchelte unbeeindruckt auf der Rückbank weiter, während ich überlegte, ob wir Vorderbrandners Vortrag in unser Feature aufnehmen sollten.

In Anger hielten wir am Dorfplatz, Mitterbichler röchelte weiter, Vorderbrandner und ich stiegen aus. Ich schaute zurück und sah, wo Mitterbichlers Wagen gestanden hatte, damals, als wir nach München aufbrachen. Da kam mein Onkel daher: „Emil, was für eine Überraschung! Schöne Weihnachten! Schau doch wieder mal am Sportplatz vorbei!“ Seine Augen wurden glasig, das werden sie immer, seit mein Vater, sein Bruder, tot ist: „Was führt dich hierher, Junge? Hat dich das Heimweh gepackt?“
„Wir haben den Mitterbichler im Auto. Wohnt der noch hier?“
„Ja, ja, gleich da drüben. Bei seinen Schwiegerleuten im Haus, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern… – ja, was ist denn mit ihm?“
„Der hat einen totalen Rausch.“
„Oh mei, oh mei, des Corona! Normalerweise geht er zum Sportverein oder zur Musikkapelle einen heben, aber des geht ja jetzt ned…“
Mein Onkel schaute verwundert auf unser Taxi. Ich öffnete die Tür, daraufhin stieg mein Onkel in den Wagen und weckte Mitterbichler unsanft: „Geh jetzt heim und schlaf dein Rausch aus, du besoffener Depp!“
Mitterbichler kroch aus dem Wagen und schlurfte nachhause.

Ich blickte hoch zum Stoissberg und überlegte für einen Moment, Vorderbrandner allein fahren zu lassen und in Anger zu bleiben, da sagte mein Onkel: „Und jetzt? Fahrt’s wieder? Weg aus dem Risikogebiet Berchtesgadener Land?“ Er lächelte mit seinen immer noch glasigen Augen.

Ich stieg ein, Vorderbrandner lenkte das Taxi auf die Autobahn. Ich blickte hinten raus, zurück nach Anger, und sagte zu Vorderbrandner: Spiel bitte noch einmal Oasis – Don’t Look Back in Anger!“

Back to Anger (Ihr Kinderlein saufet) 1

Ein grauer Dezembertag im Jahr 2020, kurz vor Weihnachten, mitten im Corona-Lockdown. Vorderbrander fuhr mich mit einem London-Taxi durch München, triftige Gründe hatten uns dazu gebracht: Wir waren auf der Suche nach Inspiration für unser Feature Alkoholismus unterm Weihnachtsbaum, kamen aber nicht recht voran. Dann wurden wir auch noch von der Realität eingeholt. Doch bevor ich von dieser realistischen Einholung erzähle, muss für Ihr Verständnis, geneigter Leser, Folgendes erwähnt werden:

Zum Tal der Stoisser Ache – dem Stoissertal, wie ich es nenne – habe ich eine romantische Beziehung, obwohl es nicht nur von der Ache, sondern auch vom Verkehr der Autobahn München-Salzburg durchflossen wird. Zwischen den sanften Hügeln des Högls und des Stoissbergs liegt das grüne Tal, und oben, wo die Ache entspringt, an den Flanken des Stoissbergs, liegt das Gut Hinterstoiss, wo der erste Hinterstoisser wohnte, oder zumindest der erste, der so genannt wurde.

Ich war gerade achtzehn geworden, es war ein milder Frühlingstag Mitte der 1990er Jahre, und ich näherte mich dem Stoissertal wie immer von Norden, von Freilassing kommend, ich radelte über die Westflanken des Högls nach Anger, dem größten Dorf im Stoissertal. Ich weiß nicht mehr, was genau der Grund war, dass ich nach Anger radelte, es kam durchaus vor, dass ich ohne Grund nach Anger radelte, aber ich glaube, an diesem Tag war ich zum Sportplatz unterwegs, um meinen Onkel zu treffen, meinen Onkel traf man immer am Sportplatz, der Fußball war sein Leben, auch wenn er sich damit nicht sein Leben verdiente. Aber ich kam beim Sportplatz nicht an, denn ich traf Mitterbichler, ja, so war es, ich fuhr am Dorfplatz von Anger vorbei, der ein Anger ist, eine kleine Wiese, dann blickte ich kurz zurück, ich weiß nicht wieso ich zurückblickte – Don’t look back in Anger! – jedenfalls sah ich bei diesem Blick zurück Mitterbichler stehen, Mitterbichler, auch gerade achtzehn geworden, mit seinem gerade erworbenen Wagen, ich fuhr zurück, oder fuhr er zu mir, so genau weiß ich das nicht mehr, jedenfalls ließ ich mein Fahrrad stehen und stieg zu ihm in den Wagen, er fuhr los, er sagte:
„Das Gute an Anger ist, dass es eine Autobahnauffahrt nach München gibt, aber keine Abfahrt. So ist man schnell in München, aber nicht so schnell zurück.“
„Du willst nach München fahren?“
„Natürlich.“
Er bog auf die Autobahn, die direkt neben dem Ort vorbeiführt, drückte aufs Gas und ließ dazu Oasis – Don’t Look Back in Anger laufen, in Dauerschleife, bis nach München. Mitterbichler trug eine Sonnenbrille mit rötlichen Gläsern, das fällt mir jetzt wieder ein während ich es erzähle, und er sang lauthals mit, als eine Art bayrischer Noel Gallagher. Wir brausten die Autobahn entlang Richtung Westen, Richtung München, Richtung Freiheit.

In München hingen wir zunächst im Englischen Garten rum, dann gingen wir in Schwabing von Kneipe zu Kneipe, ich erinnere mich an Mitterbichlers erwartungsvolle Blicke jedesmal wenn wir eine neue Kneipe betraten, als erwarte ihn etwas ganz Besonderes, der Mythos Schwabing, die große Freiheit, alle schönen Frauen dieser Welt, die ihm all seine Träume erfüllen. Wir tranken und tranken, ich hielt zu meinem Glück nicht mit seinem Tempo mit, denn irgendwann war Mitterbichler sturzbetrunken, und so toll ich es fand, so unvermittelt mitten in Schwabing unterwegs zu sein, so unangenehm empfand ich es mit zunehmender Dauer, mit Mitterbichler unterwegs zu sein. Irgendwann torkelten wir aus der letzten Kneipe, hart aus unseren Träumen gerissen, Mitterbichler wusste erstaunlicherweise noch, wo der Wagen stand, wir klappten die Sitzlehnen um und versuchten zu schlafen, aber uns fröstelte, zwischendurch öffnete Mitterbichler die Tür und kotzte auf die Straße, ich tat kein Auge zu, es war schlechte Luft im Wagen, irgendwann stieg ich aus dem Wagen, ich wäre am liebsten gegangen, um mich alleine durchzuschlagen, aber ich tat es nicht, stattdessen fuhren wir verkatert nach Anger zurück, Mitterbichler gab wieder Don’t look back in Anger rein, aber schon bei Brunnthal machte er die Musik wieder aus, es war noch immer schlechte Luft im Wagen, an einem Ärmel von Mitterbichlers Jacke – sie war braun und hatte einen roten, einen gelben und einen weißen Streifen über der Brust und an den Ärmeln (erstaunlich, wie genau ich mich erinnere) – an einem Ärmel dieser Jacke hingen Reste von seinem Erbrochenen, dass er sich vom Mund gewischt hatte.
„Bist du noch im Fußballverein?“ fragte ich, als ich neben der Autobahn einen Fußballplatz sah.
„Ja, und bei der Musikkapelle. Heute Nachmittag Spiel, heute Abend Probe.“
Die Fahrt ging schweigend weiter. Mitterbichler bewies Durchhaltevermögen. In seinem Zustand fuhr er uns sicher nach Anger zurück. Als wir von der Autobahn abfuhren, sagte er:
„Irgendwann hau ich endgültig ab von hier, nach München, oder vielleicht sogar nach London, Manchester. Aber jetzt mal back to Anger.“

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Komischl (wie der Erste Weltkrieg begann)

aus den kürzlich (wieder)entdeckten Memoiren des kaiserlich-königlichen Oberstleutnants Rudolf Bertl, die ein völlig neues Licht auf die österreichische Kriegserklärung im Sommer 1914 werfen:

Ich saß im Zug von Wien nach Bad Ischl. Der Kaiser hatte mich eingeladen in seine Sommerresidenz. Was wollte er? Wollte er mir schmeicheln? Suchte er in seiner Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, bei mir Rat? Eines war sicher: Ich unterstützte die These des unausweichlichen Kriegs, da mochte der Alte noch so viel vom Frieden reden.

„Mein lieber Bertl, seien Sie gegrüßt!“ hieß er mich persönlich am Bahnhof willkommen. Wir spazierten mit dem kaiserlichen Tross zu seiner Villa. Der Kaiser war alt aber fröhlich an diesem Tag. Eine junge Frau mit ihrem Hund kam uns entgegen, und als sie an uns vorbeigegangen war, sagte er: „Ein so ein fesches Dirndl mit ihrem Hunderl! Überhaupt, das Ischl, so griabig mit seinen putzigen Häuserln und den lieben Menscherln, und den Bergerln ringsherum!“

Ich muss wohl etwas komisch geschaut haben, denn der Kaiser meinte, nachdem er mich mit seinen Blicken geprüft hatte: „Bertl, schaun’S ned so komisch! Ist es Ihnen vielleicht unangenehm, dass ich in Ischl alle Hauptwörter mit einem L verniedliche? Daran müssen Sie sich gewöhnen! Das mach ich hier so, schließlich sind wir in Ischl und nicht in Isch. Im übrigen würd ich auch zu Wien gern Wienerl sagen, aber dort kann ich mich zusammenreissen. Sein’S froh, dass Sie schon Bertl heißen, denn den da hinten – er zeigte auf General Hermann Hinterstoisser, der uns auch begleitete – denn nenn ich immer Hinterstoisserl.

Daraufhin, in einem Anflug von Jugendlichkeit, fing er zu singen an und trällerte folgendes Lied für den Rest des Weges:

Übers Bacherl bin i gsprunga
übers Wieserl bin i grennt
und da hat mi mei liabs Dirnderl
an mein Juchizer glei erkennt

Später, wieder in Wien, als der unausweichliche Krieg längst in vollem Gange war, saßen wir bei einer Lagebesprechung mit dem Alten. Mittlerweile hatte er sich geistig vollkommen von dieser Welt verabschiedet, obwohl er immer noch Tag und Nacht über den Akten brütete. Bei dieser Besprechung sank er plötzlich in seine Stuhllehne und stieß einen sehnsuchtsvollen Seufzer aus, dem er ein „Komm Ischl!“ folgen ließ. Ich verstand in diesem Moment, der alle am Tisch verwirrte, komischl statt Komm Ischl und dachte: Bald schlägt seine letzte Stunde, jetzt verniedlicht er nicht nur Hauptwörter mit einem L, sondern auch Eigenschaftswörter. Und das mitten in Wien! „Schaun’S ned so komischl, Bertl: Wenn’s Kriegerl sein muss, muss es sein!“ sagte er mir mit seinen müden Blicken.

Da, wo ich gerade gerne bin

Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich gerne woanders wäre als da, wo ich gerade bin. Dann halte ich inne und spüre zu meinem Erstaunen, dass ich gerade da gerne bin, wo ich gerade bin. Schließlich habe ich entschieden, dass meine Füße mich da hintragen, wo ich gerade bin.

Sein, wo man ist, das ist eine Sache, die gar nicht so leicht festzustellen ist, denn ich bin überall und nirgends, an irgendeinem Ort im Universum, den ich glaube, bestimmen zu können. Früher, als die Erde eine Scheibe war, da blieb man besser wo man ist, ohne lange zu fragen, wo man überhaupt ist. Nur die sehr Mutigen wagten sich an die Ränder vor, auf die Gefahr hin, hinunterzufallen. Heute ist die Erde eine Kugel, und ich brauche keine Angst mehr zu haben, von ihr hinunterzufallen, und trotzdem habe ich Angst. Keine Angst mehr vor dem Hinunterfallen, eine diffuse Angst, aber eine so große Angst, dass ich vor dieser Angst am liebsten davonlaufen möchte, ich würde bei diesem Davonlaufen sogar riskieren – wenn die Erde noch eine Scheibe wäre – an ihrem Rand hinunterzufallen, so groß ist diese Angst.

Doch vielleicht verursacht gerade das meine Angst, dass die Erde keine Scheibe mehr ist, sondern eine Kugel, dass es keinen Anfang und kein Ende gibt, sondern dass alles immer weiter geht, und wenn ich das Universum einmal umrundet habe, ich an seinem Anfang stehe. Es ist nicht die Angst vor dem Tod, die ich spüre, sondern die Angst vor dem Leben, dass das Blatt, das im Herbst vom Baum fällt, im Frühling wieder an ihm wächst, es ist ein neues Blatt, es ist anders als das alte Blatt, und doch trägt das neue Blatt das alte in sich. Ich bin ein eigener Mensch, und doch trage ich die Menschheit in mir, und eines Tages wird mein Leib, mit dem ich mich hier auf der Erde bewege, zur Erde sinken wie das Blatt vom Baum, ich werde dadurch neues Leben ermöglichen. Eines Tages wird sogar der Baum mit seinem mächtigen Stamm zur Erde sinken, eines Tages wird sogar die Erde im All versinken. Aber noch bin ich hier, bewege mich auf der Erde.

Heute morgen bin ich erwacht und dachte: Aha, ich habe mich in der Nacht nicht in den Weiten des Alls verloren, sondern bin wieder auf der Erde gelandet. Ich recke und strecke mich, ich sehe meine Haare im Spiegel, zerzaust von ihrem nächtlichen Ausflug ins All und sage zu mir: Ich bin gerade gerne da, wo ich gerade bin.

Binge Arsch (Da kommt die Gnutter zur Rettum)

Man sagt, jeder Kreis schließt sich. Ist das wirklich so, oder ist das eine Plattitüde?

Ich sprang auf der alten Couch beziehungsweise auf ihren Federn, ich sprang hoch, bis ich schließlich am höchsten Punkt das Gleichgewicht verlor und die Tischkante auf mich zukommen sah, ich schlug heftig auf, beziehungsweise meine Stirn schlug heftig auf, da kam meine Mutter zur Rettung, brachte mich zum Arzt, der meine Blutung stillte und meine Stirn zusammennähte.

Später, die Stirn war längst wieder zusammengewachsen, obwohl man die Narbe noch lange sehen sollte, traf ich Inge, ich glaube es war noch in der Grundschule, so genau weiß ich das nicht mehr, jedenfalls hieß Inge mit Nachnamen Barsch, und irgendwann kam es, wahrscheinlich aus einer Langeweile heraus, dass ich Inge Barsch Binge Arsch nannte, ich nannte sie nur Binge, das Arsch dachte ich mir selbst dazu, ohne es auszusprechen. Binge ging mir nicht aus dem Kopf, sie war das Mädchen meiner Träume, wir standen uns gegenüber und ich hatte plötzlich große Lust, Binge auf den Arsch zu klatschen, gleichzeitig aber große Angst, dass sie mir ins Gesicht klatscht weil ich ihr auf den Arsch klatsche, bis ich es endlich wagte und ihr auf den Arsch klatschte, woraufhin sie mir ins Gesicht klatschte, und so ging es hin und her, Arsch-Gesicht-Arsch-Gesicht-Arsch-Gesicht, doch es blieb eine trockene und schlaffe Übung, eine blutleere Übung, Binges Arsch übte keinerlei Reiz mehr auf mich aus, wie unter Zwang klatschte ich auf ihn, wie auf ein seelenloses, totes Ding, während ich völlig regungslos ihre Klatscher in mein Gesicht entgegennahm, ich sehnte mich nach der Tischkante, die mein Blut spritzen lässt, aber natürlich sollte das eine unerfüllte Sehnsucht bleiben, wie sollte ich je zu einer Tischkante gelangen, wo Binge und ich doch in unserem Arsch-Gesicht-Klatschen gefangen waren, manisch und mit immer ausgefeilterer Rhythmik betrieben wir unser Arsch-Gesicht-Klatschen, wir betäubten uns und schienen uns dabei überhaupt nicht mehr zu spüren, als ich plötzlich mein Herz spürte und Angst bekam, mein Herz zu spüren, in meiner Panik drehte ich am Herz, nicht am leiblichen, nur am Wort in meinem Kopf, drehte es um zum Z-Reh, und ich frage mich bis heute, was ein Z-Reh ist, sicher nicht die Umkehrung von Herz, überhaupt ist das Zerlegen von Wörtern in Buchstaben so sinnvoll wie das Zerlegen des Lebens in Atome, etwas Statisch-Sinnloses, dabei sehne ich mich nach dem Dynamisch-Sinnvollen, wieder sollte eine Sehnsucht von mir unerfüllt bleiben, der Fluss des Lebens floss an mir vorbei während meiner Arsch-Gesicht-Klatsch-Übung mit Binge.

Da hörte ich meine Mutter rufen: Mein Herz ist gebrochen!, woraufhin ich wieder versuchte, mein eigenes Herz zu spüren, meine Hand fiel an meinem Arm nach unten und klatschte nicht mehr an Binges Arsch, woraufhin Binge mir verduzt ins Gesicht sah, anstatt mir mit ihrer Hand in es zu klatschen, ich sah meine Mutter zum Arzt eilen, Retten sie mich! rief sie dem Arzt zu, da riss der Arzt ihre Brust auf, reparierte ihr Herz, während dieser Reparaturarbeiten schrie meine Mutter, sie schrie Todes-Schreie, sie sah den Tod, was sie später bestätigte, ihr Herz stand still, ich gab das Blaulicht aufs Dach des Wagens und raste los, ich kam meiner Mutter zur Rettung, was natürlich Unsinn war, sinnloser Unsinn, jeder hat sein eigenes Herz, ich kam mir selber zur Rettung, spürte mein blutdurchströmtes Herz, wie es unaufhörlich Blut in meinen Leib pumpt, man sagt, jeder Kreis schließt sich, das ist keine Plattitüde, das ist wirklich so.

Ogatorp, der Protago

Einst gab es Vögel, die waren für den Tag und gegen die Nacht. Deshalb nannte man sie Protagos. Man hätte sie auch Kontranachtos nennen können, doch man dachte sich, es ist besser, das Für-Etwas in ihrem Namen auszudrücken und nicht das Gegen-Etwas. Die Protagos hielten sich immer da auf, wo gerade mehr Tag war, also in einer Hälfte des Jahres weit nördlich auf der Nordhalbkugel und in der anderen Hälfte des Jahres weit südlich auf der Südhalbkugel. Dazwischen mussten sie sehr sehr weit fliegen, was sehr sehr anstrengend war. Deshalb waren die Protagos oft schlecht gelaunt, denn sie wussten, egal ob sie auf der Nord- oder Südhalbkugel waren: Bald müssen wir wieder sehr sehr weit fliegen.

Unsere Erzählung setzt ein, als die Protagos gerade beim Nisten waren, auf der Nordhalbkugel. Dort wurde ein junger Protago geboren, der den Namen Ogatorp erhielt. Das war ein seltener Name für einen Protago, und Papa Protago fragte: Wieso denn Ogatorp? Ich spüre es, sagte Mama Protago: Dieser Junge ist besonders – er soll Ogatorp heißen. Und der junge Ogatorp war tatsächlich besonders: Er hielt sich sehr gerne auf dem Boden auf und vernachlässigte vom ersten Tag an das Fliegen. Seine Eltern und andere Protagos zeterten wild herum, das Zetern war überhaupt ein Hauptmerkmal der Protagos und Ausdruck ihrer permanenten Unruhe, doch mit Ogatorp zeterten sie noch wilder als sonst, sie wollten ihn auffordern, mehr zu fliegen, um sich vorzubereiten auf die lange Reise zur Südhalbkugel. Doch Ogatorp wollte seine Ruhe haben und freundete sich stattdessen mit einem Rentier an. Er saß auf dem Rücken des Rentiers, nährte sich vom Ungeziefer und den Insekten in seinem Fell und sagte: Ich möchte bei dir bleiben und nicht mit meinen Eltern wegfliegen.
Da sagte das Rentier: Du hast es gut, du kannst wegfliegen. Ich kann nicht fliegen, ich muss laufen.
Wieso musst du laufen, wieso kannst du nicht hierbleiben?
Hier ist es im Winter zu kalt und zu dunkel, ich muss nach Süden laufen.
Schade, dann muss ich wohl auch mit meinen Eltern nach Süden fliegen, meinte Ogatorp. Dabei möchte ich so gerne die Dunkelheit kennenlernen! Ich kenne die Dunkelheit überhaupt nicht, ich kenne nur das Helle, die Hellheit.

Die anderen Protagos waren schon aufgebrochen, da verabschiedete sich Ogatorp schweren Herzens vom Rentier und flog mit seinen Eltern Richtung Süden. Ogatorp fiel das Fliegen schwer, er hatte es zu wenig geübt, war er doch die ganze Zeit auf dem Rücken des Rentiers gesessen. Er fiel hinter seine Eltern zurück und segelte schließlich zur Erde hinunter. Dort landete er neben einer Schildkröte. Ogatorp fragte die Schildkröte: Wo bin ich denn hier?
Du bist hier in der Mitte der Erde, sagte die Schildkröte.
Kann ich hier bleiben?
Natürlich kannst du hier bleiben. Ich bin schon sehr lange hier, und es geht mir sehr gut.
Ist es sehr dunkel?
Ja, in der Nacht ist es sehr dunkel und am Tag ist es sehr hell.

Das gefällt mir, dachte sich Ogatorp: Hier will ich bleiben. Da kamen seine Eltern wild zeternd angeflogen und schimpften mit ihm: Was machst du hier? Wir müssen weiter nach Süden!
Ich möchte hierbleiben bei der Schildkröte, sagte Ogatorp.
Die Eltern schüttelten verständnislos ihre Köpfe und sagen einhellig: Ein Protago kann nicht hierbleiben, hier ist es zu dunkel, ein Protago muss ins Helle fliegen, ein Protago ist pro Tag und kontra Nacht.
Dann will ich kein Protago sein, sagte Ogatorp und kuschelte sich an den Panzer der Schildkröte. Die Eltern wurden sehr zornig – oder war es eher ihre Hilflosigkeit, die sich im Zorn ausdrückte, ihre Gefangenheit im Gedankenkorsett eines Protagos? Jedenfalls hackten sie mit ihren spitzen Schnäbeln auf Ogatorp ein, bis dieser leblos und zerhackt neben der Schildkröte liegenblieb.

Als Mama-Protago sah, was sie angerichtet hatten, weinte sie bittere Tränen, doch Papa-Protago sagte: Komm, lass uns weiterfliegen zur Südhalbkugel – Ogatorp hätte die Reise ohnehin nicht geschafft und uns nur aufgehalten, der konnte ja kaum fliegen, weil er immer auf dem Rentier rumhockte.

Die letzte Schlacht gewinnen wir!

Ich habe geträumt: Eine Armee von Corona-Viren erschien mir und die Armee sang lauthals: Die letzte Schlacht gewinnen wir! Ich richtete mich auf, versuchte dagegenzuhalten und schrie: Mein Kampf bedeutet Frieden, und ich bekämpfe euren Krieg! Jede Schlacht die ich verliere, bedeutet meinen nächsten Sieg! Doch dann fiel ich vor Erschöpfung um, und in dieser Erschöpfung erschien mir ein edler Fürst, der sprach die folgenden Worte:

Meine lieben Gaukler, Spieler und Musikanten, die ihr mir schon in so vielen Stunden Muse und mich dem Leben so nahe gebracht habt, wie ich ihm sonst nie hätte kommen können, ihr Sucher der Wahrhaftigkeit! Dieser Virus ist über uns gekommen und hat uns alle überrascht, hat sozusagen die Bühne von euch vereinnahmt. Nun ist er da, wir müssen mit ihm leben. Ihr könnt nicht durch die Lande ziehen, viel zu groß ist die Gefahr und die Angst, dass ihr ihn mit euch durch die Gegend schleppt und alles verseucht. Ihr könnt euer Brot nicht verdienen mit euren Künsten. Darum bleibt bei mir, ich gebe euch Brot und Bleibe, bis ihr wieder weiter ziehen könnt. Lasst uns gerade jetzt darüber freuen, gemeinsam auf diesem Planeten zu sein!

Ich erzählte Vorderbrandner von meinen Träumen, woraufhin er

einlegte, die Lautstärke hochdrehte und ekstatisch dazu tanzte. Dann manifestierte er: Die edlen Fürsten, die brauchen wir! Die edlen Fürsten sollen ihr Geld nicht in Luxusgüter investieren, die sie ohnehin nicht brauchen, sondern in uns, in die Leute! Warum schreit jeder nach dem Staat, der kein Geld hat, der Staat sind ja wir, warum schreit nicht jeder nach edlen Fürsten, nach den Geldgeiern, die in ihrer maßlosen Gier Geld angesammelt haben. Die Gier der Geldgeier hat ein Verteilungsproblem geschaffen, dass dieser Virus drastisch aufzeigt! Und wenn die Geldgeier nicht bereit sind, ihren Edelmut in sich zu entdecken und ihr Geld zu teilen, dann werden nicht nur ihre Häuser, dann wird die ganze Erde brennen!

Vorderbrandner umarmte mich, bedankte sich für meine Träume, lief auf die Straße und ließ mich allein zurück.