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Uteto Fritz und die Hamsterradiaden der Menschheit 3: Die Schönheit des Todes

3 Die Schönheit des Todes

Fortsetzung von Teil 2

Uteto Fritz sitzt am Stamm seines Baumes, der von der Wintersonne erwärmt wird. Die Hamsterradiaden sind wie durch ein Wunder einer angenehmen Ruhe gewichen. Uteto Fritz liest Zeitung. Dann blickt er auf zu mir und sagt: Thomas Bernhard hat gesagt, er lese die Zeitung, um mehr vom Irrsinn dieser Welt zu erfahren, ich lese also wie er, um vom Irrsinn dieser Welt zu erfahren, und dabei lese ich von Virologen, von den neuen Chefs der Menschheit, die von der Bundeskanzlerin zu Rittern geschlagen werden, von Leuten wie Thomas Brussig geadelt werden, von Thomas Brussig, der unter dem Titel Mehr Diktatur wagen fordert, die Demokratie aufzugeben und Virologen zu unseren Diktatoren zu befördern, vielleicht weil er die DDR-Diktatur erlebt hat und die Diktatur von Google, Apple und Co. heraufziehen sieht, besser eine staatlich-naturwissenschaftliche Diktatur als eine privat-technokratische, denkt er sich vielleicht. Jedenfalls ist das eine orthodoxe Wissenschaftsgläubigkeit, die ich irrsinnig finde, nein mehr noch, die mir Angst macht, sagt Uteto Fritz, Angst um meine Freiheit, ich glaube nicht an Google, Apple & Co., ich glaube auch nicht an Virologen, ich glaube an mich und mein Leben, das tödlich enden wird.

Das Treiben der Viren unter dem Mikroskop zu beobachten stelle ich mir Furcht einflößend vor, vielleicht ist es auch faszinierend, vielleicht beides zugleich: die Welt als Vire und Vorstellung, dabei vergesse ich, dass durch das verordnete Nichtstun wegen der tödlichen Virengefahr neue Risikogruppen herangezüchtet werden, zum Beispiel die Fettleibigen, die dann wieder die Intensivbetten blockieren, was zu weiterem Nichtstun führt… – ich verliere mich in den Gedanken zur Pandemie. Gibt es noch etwas anderes als die Pandemie, zum Beispiel das Leben an sich?

Uteto Fritz legt die Zeitung beiseite und sagt: Ein Virus ist potentiell tödlich, so wie das Leben. Solange ich mich nicht damit abfinde, dass mein Leben tödlich enden wird, werde ich Angst vor dem Tod haben, und diese Angst zum Beispiel auf ein Virus projizieren. Vor ein paar Tagen brachte ich meine Nichte ins Bett, sie konnte nicht einschlafen und sagte, sie habe Angst vor den Viren, die kommen sicher heute Nacht zu ihr ins Bett und töten sie. Da sagte ich zu ihr: Die Viren wollen genauso leben wie wir Menschen. Als einmal ein Mensch gestorben war, den die Viren befallen hatten, setzten sie sich in einer Runde zusammen wie die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin, waren sehr traurig über den Tod dieses Menschen und meinten einhellig: Die Lebenskraft dieses Wirtes haben wir überschätzt, seine Gastfreundschaft endete tödlich. In Zukunft wollen wir uns Wirte suchen, die mit uns leben können.

An den Tod, sagt Uteto Fritz, glaube ich wie an das Leben, durch den Tod werde ich meine letzte intimste Begegnung mit mir selbst haben, es wird hoffentlich eine schöne Begegnung sein voller Zufriedenheit, zumindest ist das mein Ziel. Doch ich stelle fest: Gerade lebe ich, als Mensch auf dieser Erde, voller Neugier, was mir heute noch passieren wird, sagt Uteto Fritz, drückt mir die Zeitung in die Hand, steht auf und geht über die Wiese der Sonne entgegen.

Moritz Mozart

Vorderbrandner stößt bei seinen Recherchen immer wieder auf Dinge, die mich erstaunen lassen. So hat er tatsächlich einen Nachfahren von Wolfgang Amadeus Mozart ausfindig gemacht, der sich Moritz Mozart nennt und behauptet, der Ururururururenkel seines berühmten Ururururururgroßvaters zu sein. Das wäre schon erstaunlich genug, aber das, was mich noch mehr erstaunt, ist, dass Vorderbrandner solche Menschen, die er ausfindig macht, auch zum Reden bringt. So sagte ihm Moritz Mozart, sagt Vorderbrandner, dass er von Freunden liebevoll Momo genannt wird, während andere Bekannte, die mit seiner Homosexualität nicht klarkommen und behaupten, er sei derjenige, der bei seinen Liebesaffären immer anal penetriert wird, ihn zarte Ritze nennen, Anlass dafür war eine Verletzung am After, die er sich tatsächlich beim Analverkehr zugezogen hatte und von der er einem heterosexuell veranlagten Bekannten erzählt hatte, diesen Bekannten hatte er liberal und offen eingeschätzt, doch dieser Bekannter ist ein verstockter Christ, er kam mit dieser Erzählung nicht klar und teilte sie mit anderen verstockten Christen die er kennt, und einer dieser anderen verstockten Christen hat wohl das Wortspiel mit der zarten Ritze erfunden, das seitdem in aller Munde ist.

Natürlich, sagt Vorderbrandner, habe er Moritz Mozart auch nach seinem Ururururururgroßvater gefragt, was er anfangs fast bereut hätte, denn Moritz Mozart war auf diese Frage hin plötzlich still, dann aber wurde er wütend und schimpfte auf seinen Ururururururgroßvater, Wolfgang Amadeus hätte nichts als Unglück über die Mozarts gebracht, er redete sich in Rage, sodass von Stille nicht mehr die Rede sein konnte, sondern von ihrem Gegenteil, er sagte, sein berühmter Vorfahr sei ein Frauenheld gewesen, ein charmanter zwar, aber ein Frauenheld, sein musikalisches Genie und die damit einhergehende Berühmtheit habe er ausgenutzt, um sich durchs Leben zu prassen und um nichts zu hinterlassen als einen Scherbenhaufen. Er könne Frauen deshalb nicht ausstehen, sagt Moritz Mozart, weil sie für die Dekadenz seines Ururururururgroßvaters stehen, mit ihrem tiefen Loch zwischen den Beinen, in dem man sich verliert und in das man versinkt, er wisse nicht, warum ihn seine Mutter als Kind dazu zwang, Röckchen und Kleidchen anzuziehen, wie konnten sich die Mozarts nur über so viele Generationen fortpflanzen, es muss doch ein Ekel geherrscht haben vor dieser schleimigen Höhle, in die man den Penis steckt, jedenfalls habe er diesen Ekel bei einer schamanischen Sitzung deutlich gespürt, seitdem ekle ihm noch viel mehr vor Frauen, ihm ekle vor jeglichen schleimigen Öffnungen, sogar vor seinem eigenen After wenn er es für den Analverkehr eincremt, merkwürdigerweise lerne er nur Partner kennen, die ihn anal nehmen wollen und nicht umgekehrt, einmal habe er sich vor lauter Ekel nicht genug eingecremt, dabei sei diese Verletzung entstanden, die ihn zur zarten Ritze machte, sein Liebespartner habe ihn blutend zurückgelassen, seitdem ekle es ihm vor Analverkehr, er hat geträumt, dass eine Frau mit ihren Fingern zart sein After gestreichelt habe, dann aber kam sie mit ihren Brüsten über ihn, die ihn fast erschlagen hätten, er kann seinem Ururururururgroßvater einfach nicht verzeihen, was er ihm angetan hat, er kann Frauen nicht lieben, er hat zuviel Angst vor ihnen, seit seiner Verletzung kann er auch Männer nicht mehr lieben, er könnte sich natürlich einen Partner suchen, den er penetriert, aber er macht sich zu viel Druck wenn es ans Penetrieren geht, sein Penis erschlafft dann regelmäßig, und so ist er in die Rolle des Penetrierten gerutscht, ohne dass er es wollte, vielleicht würden schamanische Sitzungen helfen, um die Lockerheit für die Penetration zu erlangen, er habe keine Lust mehr, der Penetrierte zu sein, je mehr er über die Penetration nachdenkt, desto mehr will er eine feuchte Frauenhöhle penetrieren statt einen eingecremten Männerafter, aber das macht ihm wieder Angst, diese Höhle, vor der sein Penis erschlafft, er kann seinem Ururururururgroßvater die Wunden nicht verzeihen, die er geschlagen hat.

Vorderbrandner hat die Geschichte von Moritz Mozart mehreren Verlagen zur Veröffentlichung angeboten, aber alle sagten: Mozart ohne Musik – das geht nicht!

Kurze Biographie des Ururururururgroßvaters

Uteto Fritz und die Hamsterradiaden der Menschheit 2: Die Ruhe in der Unruhe

2 Die Ruhe in der Unruhe

Fortsetzung von Teil 1

Begegnung, so sagen gerade viele, ist im Moment, in Corona-Zeiten, nicht möglich, aber für mich, der ich alleine wohne, sagt Uteto Fritz, ist Begegnung im Moment mehr möglich als sonst, Begegnung mit mir selbst, meine umfassende körperlich-geistig-seelische Selbstbegegnung erfüllt mich mehr als ein verlogenes Tinder-Date, ich spüre mich mehr als sonst, weil ich Zeit habe, anzuhalten und mich zu beobachten, manchmal ist das eine harte Übung, bei der ich Widerstände überwinden muss, denn meine Ahnen haben, wie die ganze Menschheit, viel Selbstverleugnung betrieben in all den gelebten Jahrhunderten, viel Schmerz hinuntergeschluckt, diesen Schmerz in sich gespeichert und weitergegeben, und dieser Schmerz, lasse ich ihn zu, ist groß und schmerzvoll, und es befreit mich ungemein, ihn zuzulassen.

Begegnung, wie sie viele sonst konsumieren, ist im Moment, in Corona-Zeiten, nicht möglich, in Shoppingcentern, in Fitnessstudios, in Cafés und Gastwirtschaften. Sie laufen deshalb im Freien herum, oft in Parks und Grünanlagen, wo sie Abstand halten können, und klammern sich bei diesem Laufen an ihre mitgebrachten Kaffeebecher und mobilen Endgeräte.

Ich lehne mich an meinen Baum, der von der Wintersonne bestrahlt wird, an dem ich Ruhe finde, an dem ich mir und dem Universum begegne, währenddessen laufen sie an mir vorbei mit ihren Kaffeebechern und ihren mobilen Endgeräten und ihrer Unruhe, und sie glauben, dass sie Abstand halten, aber sie halten keinen Abstand, im Gegenteil, sie vergewaltigen ihre Umgebung, konsumieren sie wie einen Kaffee oder ein Tinder-Date, kein Begegnen, sondern ein Davonlaufen, sie haben nicht nur Kaffee und mobile Endgeräte dabei, sondern auch riesige Hamsterräder, mit denen sie durch die Gegend rattern, sie rattern lärmend durch die Gegend und kommen nicht auf die Idee, die Hamsterräder anzuhalten und aus ihnen auszusteigen, zuviel Angst, was dann passieren würde, nämlich nichts außer Ruhe und Begegnung mit sich selbst, diese Begegnung in der Ruhe wäre vielleicht eine Begegnung mit der eigenen Unruhe, dann lieber weiter im Hamsterrad, Kaffee schlurfend und pausenlos redend, ins mobile Endgerät oder zum benachbarten Hamsterrad, Sprache energetisiert nicht, sondern lenkt ab, ich rufe laut: Steigt aus aus euren Hamsterrädern und haltet mal für fünf Minuten euren Mund!, aber mein Ruf verhallt ungehört, die Hamsterräder rattern zu laut, sie rattern noch lauter während ich rufe, so empfinde ich es, durch das Hamsterradgeratter höre ich ein höhnisches Gelächter und einer ruft: Schaut mal, wie der armselig am Baum steht, ganz ohne Hamsterrad!

Ich spüre den von der Wintersonne erwärmten Stamm des Baums an meinem Rücken, ich spüre meine Wut und meine Enttäuschung darüber, mich selbst immer wieder täuschen zu wollen, indem ich glaube, mir auch ein Hamsterrad anschaffen zu müssen, aus Angst, sonst allein zu sein, sagt Uteto Fritz.

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Rote Rosen für Blanche

Als ich zum ersten Mal L’ami de mon amie von Eric Rohmer sah, es war wohl um das Jahr 2000 herum, verliebte ich mich heftig in die Hauptdarstellerin Emmanuelle Chaulet. Tagelang hatte ich Sehnsucht nach ihr, ich wollte bei ihr sein in Cergy-Pontoise, einer auf dem Reißbrett entworfenen Trabantenstadt bei Paris, wo der Film spielt. Meine damalige Freundin fragte mich, was mit mir los sei, sie bemerkte meine heftige Verliebtheit, was nicht schwer war, denn ich war zu Tränen gerührt, jedesmal wenn ich an Emmanuelle Chaulet dachte, so groß war meine Sehnsucht, aber ich sagte nichts, aus Angst, meine Freundin würde mich verlassen. Denn so groß meine Verliebtheit war, fast so groß war meine Angst vor dem Verlassenwerden. Wenige Wochen später verließ mich meine Freundin, so empfand ich es damals, heute sage ich: Wir haben uns verlassen. Ich fuhr trotzdem nicht nach Cergy-Pontoise, um Emmanuelle zu sehen, zu groß war die Angst vor Enttäuschung. Sie würde nicht da sein, meine Traurigkeit ins Unermessliche steigen. Ich fand heraus, dass Emmanuelle Chaulet inzwischen in den USA lebte, außerdem fand ich heraus, dass ich in Wahrheit Blanche liebte, wie Emmanuelle in ihrer Rolle heißt. Eric Rohmer machte keinen Unterschied zwischen Filmfigur und realer Person, ich in diesem Fall schon. Dieser Unterschied half mir, wieder zu mir zu kommen. Als ich L’ami de mon amie zum ersten Mal sah, war ich ungefähr in Blanches Alter, während Emmanuelle Chaulet älter geworden war. Raum und Zeit war gegen diese Liebe. Diese Liebe musste eine unglückliche bleiben, nein, nicht diese Liebe: dieses romantische Bild von Blanche. Rohmer war ein Romantiker, der die Romantik entzauberte: Seine Figuren sind bürgerliche, verkopfte Spießer auf der Suche nach ihren Gefühlen. Das kommt mir im nachhinein sehr realistisch vor was meine Realität betrifft.

Vor einigen Tagen habe ich mit Josefine wieder L’ami de mon amie angesehen. Es war ein gewagtes Experiment und nahm den erwarteten Ausgang: Ich verliebte mich wieder heftig in Blanche, es ging nicht anders, zu genial erzählt Rohmer diese Geschichte mit seinen Bildern. Ergriffen lag ich Josefine in unserem kleinen Heimkino in den Armen.
„Ich habe mich in Blanche verliebt“, sagte ich.
Josefine drehte sich zu mir, lächelte und sah mir in die Augen: „Ich weiß. Ich mag es, wenn du dich in Blanche verliebst, mon douce Emile!“

Am nächsten Tag ging ich durch Schwabing, mit mindestens so viel Liebe wie Rohmer durch sein Paris. Ein bisschen wünschte ich mir, in Cergy-Pontoise zu sein, bei Blanche. Ich kam an einem Blumenladen vorbei. Neben der offenen Tür stand: Wegen Corona – Blumen nur auf Bestellung. Ich rief durch die Tür hinein: „Ich möchte gerne rote Rosen bestellen!“ Dann setzte ich meine Maske auf, ging durch die Tür in den Laden hinein und sagte: „Ich habe roten Rosen bestellt.“

Uteto Fritz und die Hamsterradiaden der Menschheit 1: Die Armseligkeit der Sprache

1 Die Armseligkeit der Sprache

Uteto Fritz, der sich selbst als Künstler und Psychologen bezeichnet, hat bis vor kurzem eine Praxis für Sprachenergetik betrieben, eine Praxis, in der er sich mit der Energetisierung von Körper und Geist, von Leib und Seele mittels Sprache beschäftigte, doch Uteto Fritz hat diese Praxis beendet mit der Begründung, dass nur noch Dogmatiker zu ihm gekommen wären, also Leute, die die Energetisierung mittels Sprache zu ihrem einzigen Lebenszweck erklärt hätten, die dadurch aber keinen Schritt weitergekommen wären, während er andere, die durch Sprachenergetisierung vielleicht weitergekommen wären, nicht erreichte, er glaubt nicht mehr an die Kraft der Sprache, im Gegenteil, sagt Uteto Fritz, er bekam das Gefühl, dass Sprache den Zugang zu vielem, was uns als Menschen ausmacht, erschwert oder gar verbaut, und deshalb war es nur konsequent, meine Tätigkeit als Sprachenergetiker zu beenden, ich kann es mir leisten, sagt Uteto Fritz, ich bin nicht nur Künstler und Psychologe, sondern auch Erbe, mein Erwerbsdruck ist dadurch geringer, ich habe Zeit in meinem Leben, in der ich mich selbst und die Menschen beobachten kann, ich bekomme zwar immer noch Anfragen für sprachenergetische Sitzungen, aber es wäre verlogen, mich für diese Sitzungen bereitzustellen, Geld zu nehmen für die Sprachenergetisierung, wenn ich selbst nicht davon überzeugt bin, mittels Sprache energetisieren zu können, manche sagen zwar, die ganze moderne Dienstleistungsgesellschaft basiert auf Verlogenheit, ohne Verlogenheit kann man heutzutage kein Geld verdienen, aber ich will mich dieser Verlogenheit entziehen, indem ich nicht mehr als Sprachenergetiker arbeite, vielleicht kam mir die Pandemie dabei zu Hilfe, ich darf ja im Moment nicht als Sprachenergetiker arbeiten, zumindest nicht in persönlichem Kontakt, und über Video kann ich es nicht, da geht mir etwas verloren, vielleicht war das mein größter Irrtum, dass ich glaubte, die Sprache hätte heilende Wirkung, aber nur die Begegnung hat heilende Wirkung, die Begegnung auf allen Ebenen, körperlich-geistig-seelisch, die ja letztlich unvermeidlich ist, Leben bedeutet immer Begegnung, ein Sichöffnen für Begegnung, und weil wir Menschen sind, geht Begegnung leichter durch körperliche Präsenz, durch Hosen-runter-lassen im wahrsten Sinn der Worte, sich hingeben mit all seiner körperlichen Verletzlichkeit, um den Geist und die Seele zu öffnen, nur das hilft auf dem Weg zur Begegnung, vielleicht ist Sprache ein kleines Hinweisschild auf diesem Weg zur Begegnung, aber niemals Selbstzweck, niemals Allheilmittel, nein, Sprache ist ein armseliges Vehikel auf dem Weg zu den Geheimnissen der Menschheit, sagt Uteto Fritz.

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Denk an Jiří Parma 2: Drosten der Pfosten

Fortsetzung von Teil 1

In München war er noch immer geladen, er setzte sich an den Computer und legte sich eine Netzidentität zu, er nannte sich Prag Matiker, der Mathematiker aus Prag, es kam ihm genial vor, er legte sofort los und postete: Drosten der Pfosten, Drosten, das ist der Mann, den er im Radio gehört hatte und der ihn so wütend gemacht hatte, dieser Drosten kam ihm müde und erschöpft vor, aber dieser Drosten redete und redete wie ein Politiker, er redete von Viren und Infektionskontrolle, Kontrolle, da war es wieder, dieses Reizwort, dieser Drosten leidet an Angst vor Kontrollverlust, genauso wie er, dieser Drosten hat eine Manie gegenüber Viren und ihrer Infektiosität, das hat ihn so wütend gemacht, aber so weit konnte er nicht denken in seiner Wut, er ging auf volle Attacke gegen diesen Drosten.

Pavel, sein Hund, der ihn immer an Pavela erinnerte, saß in seiner Wut neben ihm, und so wurde auch Pavel vernetzt, er gab Pavel den Netznamen Dog Matiker. Pavel stand auf Knochen und Fleisch wie Drosten auf Viren, er verbiss sich manisch an ihnen, Pavel war ein wütender Hund, der nicht leicht zu halten war, trotzdem liebte Jiří Pavel, Pavel gab ihm etwas, das ihm fehlte, vielleicht die Wut, die ihm gefehlt hatte und die ihm jetzt nicht mehr fehlte, jetzt, wo sie sich an diesem Drosten verbeißen konnte.

Alles mutiert im Leben, schrieb Parma als Prag Matiker, zum Beispiel wenn eine Frau plötzlich sagt: Ich liebe dich nicht mehr, niemand hat ein Recht auf Beständigkeit, nicht einmal die Mathematik, die die Welt logisch erfassen will, niemand kann den Viren ihr Recht auf Mutation verweigern, sie mutieren ohne Einverständnis, das kann nicht einmal Herr Drosten mit seinem Kontrollwahn verhindern, ich wünsche ihm, von seinem Kontrollwahn loszulassen, ich wünsche ihm die Freiheit, zu leben und dabei den Tod zu riskieren, das wünsche ich der ganzen Menschheit, manchmal wünsche ich der ganzen Menschheit, dass sie einfach aufhört zu leben und diesen Planeten endlich in Ruhe lässt.

Jiří Parma, der Mathematiker, war ein Star im Netz, natürlich nicht als Jiří Parma, sondern als Prag Matiker, Prag Matiker war eine Ikone der Querdenker, andere beschimpften ihn als Rechtsradikalen und glaubten herausgefunden zu haben, dass er aus einer Familie von Nazis stammt, die sich nach dem Krieg als Tschechen ausgegeben haben und nur deshalb nicht aus dem Sudetenland vertrieben wurden.

Mitten in seiner Prag Matiker-Drangphase träumte Jiří von Pavela, sie sagte zu ihm: Nedrž se mě!, das ist tschechisch und heißt soviel wie Klammere dich nicht an mich! Das klang schön, viel schöner als Už tě nemiluji. Nachdem Pavela Nedrž se mě! gesagt hatte, gab sie Jiří einen sanften Kuss, er fühlte sich geliebt nach diesem Traum, er hatte sich noch nie so geliebt gefühlt. Am nächsten Morgen löschte er seine Identität als Prag Matiker. Pavel, den Hund, musste er einschläfern lassen, nachdem er einer Frau ein Bein abgebissen hatte. Seitdem geht er alleine spazieren und denkt dabei oft an Jiří Parma, den Schispringer, wie er sanft die Hänge von Harrachov entlanggleitet und butterweich landet, mit einem wunderschönen Telemark. Das beruhigt ihn ungemein, das freut ihn, und er wünscht sich, dass Drosten ihm verzeiht, Drosten, an dem er sich in seiner grenzenlosen Wut verbissen hatte.

Denk an Jiří Parma 1: Pavela Plocova

Im Netz kannte man ihn als Prag Matiker, aber er heißt Jiří Parma, genauso wie der ehemalige Schispringer. Er ist in Harrachov aufgewachsen, wo die Schanzen stehen, von denen Jiří Parma, der Schispringer, am liebsten gesprungen ist. Er hat als Kind geträumt von Jiří Parma, Parma sprang von der großen Čerťák-Schiflugschanze in Harrachov und hat während des Flugs die Kontrolle verloren, es überschlug ihn in der Luft, er schlug hart auf dem Boden auf und versank ins bewusstlose Delirium, und obwohl er am nächsten Tag an der Schanze war, wo er Jiří Parma springen sah, nicht elegant wie einen Vogel, aber kontrolliert, sicher, ohne Sturz, glaubte er nicht was er sah, er sah Jiří Parma den Stürzenden, dieses Bild verfolgte ihn, obwohl Jiří Parma wenig gestürzt ist bei seinen Sprüngen. Kontrollverlust war seitdem eine ständige Bedrohung für ihn, Harrachov bedeutete für ihn Kontrollverlust, deshalb ging er weg aus Harrachov, er wollte seinen Namensvetter nicht mehr springen sehen, er ging nach Prag, er studierte Mathematik, um mittels Geometrie und Zahlen die Kontrolle über das Leben zu erlangen, doch inmitten der Geometrie und Zahlen traf er Pavela Plocova und verliebte sich heftig in sie – ja, sie hieß tatsächlich Pavela Plocova – und sie erinnerte ihn an Pavel Ploc, auch ein ehemaliger Schispringer, den er seit seinen Kindertagen in Harrachov auch als einen Stürzenden gespeichert hat, obwohl das wahrscheinlich gar nicht stimmt,

aber Pavel Ploc bedeutete für ihn genauso Kontrollverlust wie Jiří Parma, der Kontrollverlust verfolgte ihn auch in Prag, indem er Pavela Plocova traf und sich heftig in sie verliebte, er vernachlässigte wegen ihr Geometrie und Zahlen, bis sie eines Morgens von der Geliebten zur Hassfigur mutierte, eine Mutation, die ihn schwer verletzte, sie lagen im ersten Morgenlicht gemeinsam im Bett, als Pavela sagte: Už tě nemiluji, das ist tschechisch und heißt Ich liebe dich nicht mehr, nun war auch Prag durch Pavela endgültig ein Ort des Kontrollverlusts geworden, er versuchte sich von Prag zu abstrahieren, indem er sich jetzt voll auf Geometrie und Zahlen stürzte, dieses Stürzen wurde zur Manie und brachte ihn nach Deutschland, wo er Mathematik lehrt.

Das Deutsche, sagt Parma, habe immer eine Rolle gespielt in seiner Familie, sein Name habe zwar etwas mit der Stadt Parma in Italien zu tun, Vorfahren von ihm kämen von dort, als Parma aber unter habsburgischem, also österreichischem Einfluss war, deshalb seine Affinität für das Deutsche, nicht zufällig sei er in Deutschland, nichts im Leben sei zufällig, auch wenn er sich nicht erklären kann, wieso ihn der Kontrollverlust ständig verfolgt, so wie auf der Autofahrt vergangenes Frühjahr von Prag nach München, da habe ihn der Kontrollverlust wieder heimgesucht, als er diesen Mann im Radio hörte, der tiefe Ängste in ihm weckte, er hätte den Sender wechseln können, um diesem Mann nicht weiter zuzuhören, aber er hörte ihm weiter zu, er schrie den Mann an: Geh scheißen und entspann dich! – das hatte mal ein österreichischer Kollege zu ihm gesagt, als er stundenlang über Mathematik geredet hatte – aber der Mann im Radio hörte nicht auf, er redete und redete. Als er endlich aufgehört hatte zu reden und keine Resonanz mehr bot, fuhr Parma von der Autobahn ab und tief in einen böhmischen Wald hinein, dort stieg er aus dem Wagen und fing laut zu schreien an, seine Wut war eine unermessliche. Er rannte umher, verwirrt und verzweifelt, er hetzte mit Pavel, seinem Hund – nach Pavela benannt -, stundenlang über Stock und Stein. Sehr viel später, als er sich endlich beruhigt hatte, stieg er wieder ins Auto und fuhr weiter nach München.

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Über das allmähliche Verfertigen der Gefühle beim Schweigen

für Lucie und Amelie, meine Lehrmeister

„Was ist denn?“ frage ich sie und erwarte eine Antwort. Aber sie bleibt reglos auf dem Trampolin liegen, auf dem ihre Schwester hüpfen will, und schweigt. Etwas bewegt sie, das sehe ich, etwas, für das sie keinen Ausdruck findet, keinen sprachlichen zumindest, denn ihr Gesicht ist voller Ausdruck, sie lässt sich bewegen von diesem Etwas, gibt sich ihm hin und lässt sich von keinem Wort irritieren. Ich frage nicht weiter nach, ich spüre, es gibt nichts zu fragen, höchstens etwas zu ertragen, nichts zu sagen, was mit Sprache zu klären wäre, im Gegenteil, die Klarheit verschafft sich durch das Schweigen Raum. Sogar ihre Schwester schweigt, anstatt sich auf dem Trampolin Platz zu verschaffen.

Dann aber – schweigende Klarheit ist nicht so leicht zu ertragen mit den Gefühlen, die sie frei lässt – fängt ihre Schwester laut zu weinen an, während sie reglos auf dem Trampolin liegen bleibt. Ist jetzt der Augenblick, um als Erwachsener mit vernünftiger sprachlicher Intervention einzugreifen? Ich bin zu ergriffen von ihrem klaren Schweigen, um zu einer vernünftigen sprachlichen Intervention bereit zu sein, was ist das überhaupt, eine vernünftige sprachliche Intervention? Jedenfalls schlage ich vor, was ich mir selber oft vorschlage, um einer bedrückenden Situation den Druck zu nehmen, ich schlage vor, nach draußen zu gehen, in den Schnee, sie bleibt jedoch weiter ohne Regung auf dem Trampolin liegen, ihre Schwester rennt nun weinend aus dem Zimmer in den schützenden Schoß der Mutter. Nur mehr wir beide sind im Zimmer, sie richtet sich auf und sagt: „Ja, gehen wir Schlittenfahren!“

Wir packen uns warm ein und mäandern zum Schlittenhang, der ein gutes Stück von Zuhause entfernt ist. Wir biegen ab in Winkel, die wir noch nicht kennen, lassen uns in kleine Pfade leiten, die wir in unserer Muse entdecken wollen. Wir reden nichts. Sie summt eine Melodie, ich habe den Eindruck, sie gibt so ihrer Freude Ausdruck, ich nenne es Freude, wahrscheinlich gibt sie all ihren Gefühlen Ausdruck, den großen und mächtigen Gefühlen, die gleichzeitig so fein und nuanciert sind, dass sie sich jeder konkreten Benennung entziehen.

Wir verlassen unsere geheimnisvollen Pfade und kommen auf die Straße, die in den Park zum Schlittenhang führt. Sie sagt: „Ich habe meine Schwester gehört – ja bestimmt war sie das! Denn ich kenne ihre Laute sehr gut.“
„Vermisst du sie schon?“ frage ich.
„Nein, gar nicht“, sagt sie: „Wir streiten so viel, ich vermisse sie gar nicht.“

Als wir den Park erreichen, sehen wir – zu unserer Überraschung – ihre Schwester am Schlittenhang stehen. Sofort läuft sie los zu ihr, ihre Schwester läuft ihr entgegen, sie rennen so schnell sie können, sie rennen sich in die Arme, sie drehen sich und lachen laut, sie kugeln sich im Schnee.

Systemrelevanter Kältetod

Bei meiner systemrelevanten Tätigkeit der Überstellung von reparatur- und servicebedürftigen Automobilen von ihrem Besitzer in die Werkstatt, die ich momentan verstärkt ausübe mangels systemischer Relevanz meiner künstlerischen Aktivitäten, bin ich viel draußen. Deshalb trage ich in der kalten Zeit meine daunengefütterte Jacke. Sie ist meine Überlebensversicherung gegen die Kälte.

Bei meiner wärmenden Jacke ist jedoch der Reißverschluss kaputt gegangen. Ich verschränke die Arme vor meinem Körper, um sie notdürftig zu schließen und gehe mit dringlichen Schritten zur Änderungsschneiderei, um den Reißverschluss reparieren zu lassen. Bei diesem Gang stoße ich auf einen Demonstranten, der ein Schild in die Höhe hält mit der Aufschrift:

IMPFSTOFF IN FLASCHEN STATT IN DOSEN! STOPPT DEN ÖKOLOGISCHEN WAHNSINN!

Sie steht dabei vor einem Berg entsorgter Weihnachtsbäume, die gestorben sind, um Gottes Sohn zu gebären.

Ich fröstle mich weiter zur Änderungsschneiderei, die, als ich sie erreiche, verschlossen ist. An der Tür steht:

Lieber Kunde,
falls Sie mich dringend benötigen, irren Sie sich, denn meine Tätigkeit ist nicht systemrelevant.

Plötzlich schleicht die Kälte noch mehr unter meine Haut, eine Angst vor dem Erfrierungstod beschleicht mich. Ich stehe an der verschlossenen Tür, während die Autos an mir vorbeibrausen. Ein Auto müsste ich haben, das könnte ich reparieren lassen, damit es mich warm hält – im Gegensatz zu meiner Jacke: Die kann ich nicht reparieren lassen. Ich könnte eine neue Jacke online bestellen, aber die ökologische Verwerflichkeit dieser Tat widert mich an, sodass sie nicht in Frage kommt. Stoppt den Online-Konsumwahnsinn!

Während ich so verfroren dastehe und nach Lösungen suche, sagt Hubert zu Markus in der warmen Staatskanzlei:
„Moorkus, ich denke Änderungschneidereien sollten wir öffnen lassen, die Leute erfrieren uns sonst!“
„Ganz ehrlich Hubert“, meint Markus daraufhin: „Tote, die erfroren sind, sind meistens dumm und drogenabhängig gewesen – die hätten niemals CSU gewählt, oder – meinetwegen – Freie Wähler. Während Corona-Tote tendenziell alt oder krank oder beides gewesen sind – eine wichtige konservative Wählerschicht. Die dürfen wir nicht einfach so sterben lassen. Lieber ein erfrorener Toter als ein Corona-Toter. Jede Stimme zählt!“

Ich sehe mich als Halberfrorener vor einem Supermarkt betteln, ob mir jemand eine Semmel mitnehmen kann, da ich keine FFP2-Maske besitze. FFP2-Masken-Produzent müsste man sein – da bekäme man einen warmen Empfang in der Staatskanzlei. Plötzlich, mitten in die kalte Depression hinein, kommt mir die rettende Idee: Ich gehe zurück zum Demonstranten, werfe mich in den Haufen toter Tannenbäume hinter ihr und vergrabe mich darin. Die toten Tannenbäume werden mich warmhalten wie einen Igel unterm Laub, bis meine Änderungsschneiderei wieder öffnet und meine Jacke repariert. Und sollte ich der Kälte nicht trotzen, dann muss ich erkennen, dass mein Leben nicht relevant genug ist, um vor dem Tod geschützt zu werden.

Nachweihnachtswinterquartier

Kadaver im Kader

Die Redaktion hatte die Berichterstattung über den Kader für das Schirennen gerade abgesegnet, als plötzlich die Nachricht die Runde machte, dass von einem gewissen Noit, einem Mitglied des Kaders für das Schirennen, der Kadaver gefunden worden sei, woraufhin ein Mitglied der Redaktion meinte, man könne nun unmöglich über den Kader für das Schirennen berichten, sei doch Noit so etwas wie das Schlüsselmitglied des Kaders gewesen, schließlich lese sich Redaktion von hinten gelesen Noitkader, und dies sei der einzige Grund gewesen, überhaupt über den Kader für das Schirennen zu berichten, jetzt, ohne Noit, sei dieser Grund weggefallen, man werde nun über den Kader für das Schirennen überhaupt nicht mehr berichten, woraufhin sich ein anderes Mitglied der Redaktion meldete mit dem Vorschlag, die Redaktion solle sich ab sofort Revadaktion nennen, um über den Noitkadaver zu berichten, die Reaktion der restlichen Redaktion auf diesen Vorschlag war allgemeines Kopfschütteln, mitten in diesem Kopfschütteln fuhr ein Schieber an den Redaktionsmitgliedern vorbei, also ein auf Schiern fahrendes männliches Schwein, ein Mitglied der Redaktion machte daraufhin den Vorschlag, Noit durch den Schieber im Kader zu ersetzen, die Reaktion der restlichen Redaktion war noch mehr Kopfschütteln, denn schließlich, so die einhellige Meinung der restlichen Revadaktion, schließlich sei die Würde des Menschen unantastbar, man könne Noit, selbst wenn er nur mehr ein Kadaver sei, nicht durch ein auf Schiern fahrendes männliches Schwein ersetzen, was allgemeines Kopfnicken hervorrief und in dem Beschluss mündete, nicht mehr über den Kader für das Schirennen zu berichten. Der Vorschlag, als Revadaktion über den Noitkadaver zu berichten, wurde ebenfalls nicht weiter verfolgt.