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Großgewordene Dörfer (München-Trudering)

München ist eine Stadt, sagt Vorderbrandner, kein großgewordenes Dorf. Planmäßig angelegte Prachtstraßen führen nach Westen (Brienner Straße), nach Norden (Ludwigstraße) und nach Osten (Maximilianstraße). Warum nach Süden keine Prachtstraße führt, ist mir ein städtebauliches Rätsel: München, die nördlichste Stadt Italiens, besitzt keine Prachtstraße nach Süden, nach Rom?

Dafür, und das muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, besitzt München eine zweite Prachtstraße nach Osten, die Prinzregentenstraße. Angelegt von keinem König, sondern von Prinzregent Luitpold als bürgerlicher Boulevard, wurde sie im Dritten Reich vom ungekrönten König Adolf mit riesigen, steinwüstenartigen Protzbauten versehen. Sie endet nicht wie ihre Schwestern monumental (Brienner Straße: Propyläen; Ludwigstraße: Siegestor; Maximilianstraße: Maximilianeum), sondern geht hinter dem Monument des Friedensengels weiter bis zum Stadtrand, über den Prinzregentenplatz und den Mittleren Ring bis zum Vogelweideplatz, an dem früher niemand hauste außer die Zigeuner, traditionell das randständigste Volk einer Gesellschaft, zugleich aber das Leben an sich wie kein anderes verkörpernd.

Am Vogelweideplatz

Am Vogelweideplatz, an dem man auch heute nicht verweilen, sondern sich beeilen will, geht die Prinzregentenstraße in die Autobahn 94 über, die dann in weiterer Folge die ländlichen Weiten des östlichen Oberbayerns durchpflügt. Doch rechts davon, auch vom Vogelweideplatz weg, zweigt die Truderinger Straße ab, und führt nach Trudering.

Trudering ist ein großgewordenes Dorf, das 1932 nach München eingemeindet wurde. Und trotzdem hört München am Vogelweideplatz noch immer auf. Von hier aus geht es aufs Land, und folgt man der Truderinger Straße, nach Trudering. Zunächst trifft die Truderinger Straße auf Bahngleise, an denen sie nördlich entlangführt. Auf der anderen Seite stehen Industriegebäude, und vor mir türmt sich der Turm des Süddeutschen Verlages.

Am Beginn der Truderinger Straße

Beim Turm angekommen, muss die Truderinger Straße einen Rechts-Links-Haken schlagen: Sie geht scharf nach rechts, um die Geleise der Bahnstrecke München – Rosenheim zu unterqueren. Diese stark frequentierte Bahnstrecke, bereits in den 1860er Jahren erbaut, zerschneidet den Münchener Osten, besonders Trudering, in Straße und Kirche, doch dazu später.

Die Geleise unterquert, kommt die Truderinger Straße nach Berg am Laim, einem ehemaligen Dorf östlich von München, eingemeindet 1913, ein Industriestandort der ersten Stunde, weil der Wind meist von Westen weht und die schlechten Gerüche so nicht in die Stadt, sondern ostwärts weitergetrieben wurden, nach Trudering. Apropos Trudering: Nun ist der linke Teil des Hakens dran, gleich nach der Gleisunterquerung, es geht nicht weiter nach Berg am Laim, sondern wieder zielstrebig nach Osten. Und gleich wird es ländlich. Rechts, hinter einer Eschen-Allee, taucht ein freies Feld auf, ein Relikt aus bäuerlicher Zeit, das dem Ausflug nach Trudering eine ländliche Note gibt.

Feld an der Truderinger Straße

Doch das Feld endet bald und weicht einer beidseitigen Bebauung: Hier ist München keine Stadt mehr, sondern großgewordenes Dorf, die Besiedlung und Bebauung franst sich in die Landschaft. Und so geht das kilometerweit weiter – kurz unterbrochen durch einen Schrebergarten, das Grün der Pflanzen, Sträucher und Bäume gibt Hoffnung, dass das Land bald erreicht wird – doch beim Schatzbogen, der Truderinger Straße und Geleise in einem weiten Betonbogen überquert, weicht diese Hoffnung wieder. Weiter zum Truderinger Bahnhof, wo Fernzüge vorbeirasen, S- und U-Bahnen halten.

Am Truderinger Bahnhof

Bald danach kommt so etwas wie Mini-Urbanität auf. Straßtrudering ist erreicht, wo die Truderinger Straße im Moment eine Baustelle ist, um schöner zu werden, um die Verweilqualität zu erhöhen, wie Ortsplaner gerne sagen.

Trudering at its Urbanest – Straßtrudering

Ich bin, ich kann es so sagen, im Zentrum Truderings. Doch eine Kirche, Merkmal jedes bayrischen Dorfes, auch eines großgewordenen, suche ich vergeblich – die steht jenseits der Geleise, in Kirchtrudering. Die Truderinger Straße schert sich nicht um Kirchtrudering, sie ist eine Straß und begnügt sich mit Straßtrudering, ja, sie geht, obwohl sie Straßtrudering erreicht hat, weiter, nach Osten, dann macht sie eine kleine Schleife nach Süden und mündet in die Wasserburger Landstraße, eine Hauptverkehrsachse aus dem und ins Zentrum Münchens. Das Schicksal einer Hauptverkehrsachse blieb der Truderinger Straße erspart, sie ist so etwas wie ein Schleichweg zwischen Autobahn 94 und Wasserburger Landstraße. Sie schleicht mit einer gewissen Nostalgie, nie groß- sondern immer nur zweispurig, durch Suburbania.

Am Ende der Truderinger Straße

Was nun, am Ende der Truderinger Straße? Soll ich mich die Wasserburger Landstraße hinauswälzen durch die großgewordenen Dörfer, bis ich irgendwann auf dem Land bin? Man kann von Glück reden, sagt Vorderbrandner, dass es die Demokratie nicht schon immer gibt. Sonst gäbe es keine Städte, sondern nur großgewordene Dörfer. Sonst würde alles so aussehen wie zwischen München und Trudering.

Münchner Prachtstraßen

Komm Isar Inn!

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Sven Handrek

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Flüsse sprechen können. Mehr noch, sie können die Sprache der Flüsse mit Hilfe modernster technischer Mittel sogar verstehen. Nun wurden folgende Gespräche zwischen Isar, Inn und Donau ins Deutsche übersetzt:

Die Donau ruft, bei Deggendorf, zur Isar:
Komm Isar!
Nein, ruft die Isar lapidar,
Fluss bin ich, nicht Kommissar.
Und dennoch kommt die Isar in die Donau,
als Fluss natürlich, nicht als Kommissar.

Weiter unten, bei Passau, sagt der Inn:
Ich glaub ich spinn, die Isar folgt der Donau,
sie ist ein Donaukommissar,
und ich, ich bin der große Inn.

Da ruft die Donau:
Komm wie die Isar, Inn!
Auch wenn ich, sogar mit Isar, kleiner als du bin,
will ich, dass ich als Donau weiterrinn.

Isarmündung
Innmündung

Die Sprache der Flüsse ist also männlich dominiert wie unsere Sprache. Sonst würde der Inn, der einzige männliche Fluss unter den hier besprochenen Inn, Isar und Donau, nicht von der Isar als Donaukommissar sprechen, sondern als DonaukommissarIn. Oder handelt es sich um einen Übersetzungsfehler ins Deutsche? Oder ist den Flüssen das Geschlecht nicht so wichtig wie uns Menschen?

Was zeigen uns diese Gespräche sonst noch? Wir wissen nun, wieso die Donau als Donau und nicht als Inn ab Passau durch Österreich fließt, wo sie, besonders in Wien, hoch verehrt wird:

Du Depp (Studie zur Vergangenheitsbewältigung)

Ich war wieder einmal mit einer Studie zur Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, ich hatte, wie immer für diese Studien, meinen Schreibtisch verlassen und mich ins Bett gelegt, im leichten Dämmerschlaf kommen mir die größten Erkenntnisse bei meinen Studien zur Vergangenheitsbewältigung, ich sah meinen Vater in der Kirche sitzen, in einer der harten Bänke, knieend, und er sprach die Worte der Schuld:

Ich habe gesündigt, in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld,

er bemerkte mich nicht, so versunken war er in sein andächtiges Schuldgeständnis, dann stand er auf, er verließ die harte Bank, ich meine er schaute kurz zu mir, oder wünsche ich mir das nur, jedenfalls ging er dann, ohne zu mir zu kommen, den steinigen Gang entlang aus der Kirche, vermutlich ins Wirtshaus, aber das weiß ich nicht, er war einfach verschwunden, ich war nun alleine, nur Julia huschte noch kurz um die Ecke, ja, Julia, nicht Maria, Maria würde besser in die Kirche passen, aber es war Julia, wir hatten uns abgeschleckt, zuerst an den Zungen, dann am ganzen Körper, wir waren ins Schwitzen gekommen bei unserem Abschlecken, ich möchte gerne, dass wir uns wieder abschlecken, aber ich traue mich nicht mehr, ist es denn eine Sünde, wenn Julia und ich uns abschlecken? Julia verschwand hinter dem Pfeiler, dann sah ich sie nicht mehr, ich bildete mir ein, sie war im Beichtstuhl verschwunden und sprach dort die Worte der Schuld:

Ich habe gesündigt, in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld,

Julia, du meinst doch nicht das Abschlecken? Abschlecken ist doch keine Sünde! Ist Abschlecken Sünde? Bitte sag dass es keine Sünde ist! Julia! Mein Ruf hallte durch die Kirche, obwohl ich ihn nicht rief, nein, ich verstummte, ich war nun wirklich alleine in der Kirche, es war nun an der Zeit, selbst Worte der Schuld zu sprechen, furchtlos schritt ich zum Altar, stellte mich auf ihn und begann zu singen:

Ich schaue auf mein Leben, mit einem Gefühl der Scham, ich bin der Schuldige, alles was ich tun will, egal wann, wo, mit wem, es ist immer dasselbe: Es ist Sünde!

Die Kirche füllte sich mit Menschen, mit vielen Menschen, sie wurde übervoll, wie in Trance setzte ich meinen Gesang fort:

Der Jubel der vielen Menschen setzte ein, sie zündeten ein Feuer an, das Feuer umtoste mich, mir wurde heiß, sehr heiß, ich rannte durch das Feuer über den steinigen Weg nach draußen, in mir brannte das Feuer für Julia, nun, draußen angelangt, beschloss ich, die Sünde zu leben, je mehr Sünde desto besser, das Feuer beherrschte mich, ich bekam wahnsinnige Lust auf Julia, ich wollte ihre Haut spüren, sie abschlecken, ich wollte ihre Haare zerzausen, ihre Körperöffnungen erkunden, der Leib Juliä, Amen, ich rannte und rannte um nicht wahnsinnig zu werden, Julia, nur du kannst mich retten vor dem Strudel der Sünde, nimm mich auf in deinen warmen Schoß, lass mich an dir riechen, betöre mich, ich rannte und rannte und…  blieb erschöpft stehen, mitten im Wald war ich gelandet, die Ekstase von Sünde und Lust verflüchtigte sich, ich nahm einen Zweig vom Boden und schlug mich damit, ich verfluchte meinen Leib der mich zu den Sünden verführt, ich geißelte mich ob meiner lächerlichen Begierden, ich geißelte mich ob meines Menschseins, ich hasste mich, ich beschloss, fortan die Sünde hinter mir zu lassen. Du Depp du! waren meine Worte zu mir: Lass diesen Unsinn!

Da kam einer des Weges, irgendeiner, ich hatte ihn noch nie gesehen, doch er hatte mich durchschaut und lachte über mich, er hatte mich sagen hören: Du Depp du, er wusste auch von mir und Julia und machte sich lustig über meinen Kopf in ihrem Schoß, ich wurde wütend, ich werd’s dir zeigen, dachte ich mir, er aber ging einfach weiter, ich machte ein paar Schritte, bemerkte meine Erschöpfung und verfolgte ihn nicht weiter, rief ihm aber hinterher, was ich von ihm halte:

Er aber ging weiter und weiter ohne sich einmal umzudrehen, zähneknirschend ging ich daraufhin in die Stadt zurück, es kamen mir lauter Deppen entgegen, wirklich, lauter Deppen, ich hatte auch keine Lust mehr auf Julia, soll sie sich doch zum Teufel scheren, ich wusste nicht wohin, alles ist Sünde, meine Studie zur Vergangenheitsbewältigung schien erfolglos ihrem Ende entgegenzustraucheln, mitten in diesem Straucheln stieg ich aus dem Bett und trank ein Glas Wasser. Und dachte an Julia.

Oben über Trieben

Etwas trieb mich nach Trieben, Vorderbrandner fand es übertrieben, aber ich ließ mich nicht aufhalten, nicht einmal, als er mir hinterherrief: „Warum nicht wenigstens Leoben?“, sein Hinterherrufen irritierte mich ein wenig, denn ich verstand das erste E in Leoben wie ein Ö, ich dachte an den französischen Artikel Le, Le Oben klang es in meinen Ohren, Le Haut, das Oben oder besser der Oben, und ich dachte: Es ist eine gute Idee, in Trieben nach oben zu gehen, auf einen der umliegenden Berge, diese Idee setzte ich, in Trieben angekommen, in die Tat um, ich stieg auf einen der umliegenden Berge, den Triebenstein, und befand mich nach erfolgreichem Aufstieg oben über Trieben.

Leoben von oben
Oben über Trieben

Dolores, Marion und das Meer des Lebens

Ich denke an das talentierte Klageweib aus Irland, wobei: das Wort Denken gefällt mir nicht, Denken ist nur die Spitze des Eisbergs, es ist mehr als Denken, ich tauche ein ins Meer des Lebens, ich begegne ihr, wie es Gedanken allein nicht können: Dolores war ihr Name, Dolor – der Schmerz, in den Schmerz hinein aber nicht durch ihn durch, im Schmerz steckenbleiben, viele beneiden Dolores dafür, in den Schmerz hineingekommen zu sein, viele kommen ihr Leben lang nicht in den Schmerz hinein und sterben, ohne gelebt zu haben, sie kam hinein aber nicht durch ihn durch, sie sang beim Papst, das Singen beim Papst war der Anfang vom Ende, das Papsttum, das Oberheuchlertum der Menschheitsgeschichte, Dolores glaubte an die Männer und die Männer an den Papst, drei Männer als Moosbeeren stehen und sitzen hilflos um sie herum, an Gitarre, Bass und Schlagzeug, als The Cranberries, sie geben Rhythmus und Takt, während Dolores durch ihre Stimme ihr Leid klagt, aus dem es kein Entrinnen gibt, sagt der Papst, und sie glaubt ihm.

Meine Begegnung mit Dolores im Meer des Lebens ist eine intensive, doch in diese Begegnung platzt plötzlich ein Schwarm christlich-sozialer Demokraten, so nennen sie sich, ohne sich darüber einig zu sein und fragen: Laschet oder Söder als Kanzler? – Laschet oder Söder? Baerbock! Frauen an den Machtgebrauch, Männer weg von ihrem Missbrauch! Ich dränge den Schwarm zur Seite und lasse mich nicht länger ablenken, kehre zurück zum irischen Klageweib Dolores, das die Stimme erhebt und gehört wird, aber sich selbst nicht hört. Ihre Stimme verstummt.

Die Stimme verstummt. Bleibt im Hals stecken. Runterschlucken was raufwill. Mit Alkohol und Tabletten. Wie Marion. Marion ist heute vor 37 Jahren gestorben, das nennt man wahrscheinlich die journalistische Relevanz dieses Textes.

Marion Koeppen, 1927 in München geboren als Marion Ulrich, bürgerliche Dekadenz im Elternhaus in Schwabing, Saufgelage mit Künstlern, die Mutter stirbt während des Krieges als Fünfzigjährige am Alkohol, da hatte Marion als Sechzehnjährige bereits Wolfgang Koeppen kennengelernt, heiratet ihn wenige Jahre später und nimmt ihn auf in das brüchige Idyll des Elternhauses, in das Idyll, das 1963 endet, als Marions Vater stirbt. Verkauf und Abriss des Hauses. Die Schicksalsgemeinschaft mit Ehemann Wolfgang bleibt bis zu ihrem Tod bestehen. Mit Wolfgang Koeppen, mehr als zwanzig Jahre älter als Marion, dem Schreiberling, der in den 1950er-Jahren berühmt wird mit seiner Romantrilogie über das Westdeutschland in der Nachkriegszeit und danach fast nichts mehr veröffentlicht. 1967 finden sie mit finanzieller Hilfe aus dem Literaturbetrieb das Refugium im Haus Widenmayerstraße 45, in dem sie ihr Drama als zunehmend einsames Paar weiterführen.

Was ist meine Rolle in diesem Drama? Bin ich Wolfgang Koeppen? Der Mann, der die Frauen liebt und doch nur mit denen eine Beziehung eingeht, an denen er verzweifelt? Die Frau als Ablenkung des Mannes von sich selbst?

Die U-Bahn hält seit 1970 an der Ungererstraße in Schwabing, wo das Elternhaus Marion Koeppens stand. Ich gehe in den Untergrund und steige in den Zug, der mich zum Nordfriedhof bringt. Dort sind Marion und Wolfgang Koeppen begraben.

Ich bin allein im Zug, was mir nicht oft passiert. Mitten am Tag in der Millionenstadt. Ich genieße das Alleinsein, das Alles-in-Einem-Sein im Meer des Lebens. Ich spüre, dass Frauen und Männer miteinander leben können, um sich zu ge- und nicht zu missbrauchen.

Marion singt, endlich findet sie ihre Stimme: Sie singt ein Klagelied. Was sonst? Vor dem Schmerz erstarren? Im Schmerz steckenbleiben? Nein, durch den Schmerz durchgehen: There’s no need to argue anymore.

Wolfgang Acquodios Tierreich

Als Kind saß ich wie gebannt vor dem Radio und lauschte der Stimme Wolfgang Acquodios, wenn er seine Geschichten aus dem Tierreich erzählte. Er erzählte von den Tieren im Wald, wenn sich Fuchs und Dachs nach ihrem Tagwerk abends in ihrer gemeinsamen Höhle treffen, oder wenn sich die Rehe unter dem dichten Tann zum Schlafen zusammenkuscheln. Ich lag anschließend in meinem Bett und stellte mir vor, bei Fuchs und Dachs oder bei den Rehen zu sein, und schlief mit einem Gefühl großer Geborgenheit ein.

Jedenfalls hat sich die Stimme Wolfgang Acquodios so in mir eingebrannt, dass ich sie neulich – nach all den Jahren seit meiner Kindheit vor dem Radio – erkannte, als ich im Park unterwegs war. Da redete ein älterer Herr mit einer älteren Dame, anfangs war ich irritiert ob der Vertrautheit der Stimme die da sprach, einer Vertrautheit, die wie aus einer fernen Zeit klang, bis sich in mir alles zusammenfügte, und ich sie als die Stimme Wolfgang Acquodios erkannte.

Ergriffen blieb ich stehen, gab mich schließlich zu erkennen und fragte: Sind Sie Wolfgang Acquodio? Acquodio verzog fast keine Miene, ich glaube, er fühlte sich gestört und geschmeichelt zugleich, ich hatte Zeit, ihn und die Dame zu betrachten, wie sie dastanden am Teich mit ihren Pelzmänteln und strengen Frisuren, die Dame gezeichnet von mehreren Schönheitsoperationen. Ich konnte mir ein ausführliches Bild machen, doch bevor ich begann, es zu interpretieren, antwortete Wolfgang Acquodio auf meine Frage mit einem Ja. Szenen meiner Kindheit spielten sich daraufhin in meinem Kopf ab, die Geborgenheit des Waldes, bei Dachs, Fuchs und Rehen, Bilder, die so gar nicht zu dem Bild passten, das gerade vor mir war: Zwei harte alte Menschen, die mir unerbittlich erschienen, es war schwer zu ertragen, das Bild schrie nach Auflösung, wahrscheinlich deshalb sagte ich: Der Teich hier ist schön.

Acquodio wandte sich daraufhin zum Teich, in der seitlichen Silhouette sah sein Gesicht noch strenger aus, und sprach: Das Tierreich im Teich ist vom Wasser ganz weich! Dann nahm er die Dame mit dem starren Schönheitsgesicht beim Arm und schritt mit ihr davon.

Erstarrt starrte ich auf den Teich, einerseits ergriffen vom poetischen Satz der Stimme meiner Kindheit über das Tierreich im Teich, anderseits entsetzt über meine unbedachte Äußerung über den Teich: Acquodio hat immer Geschichten über den Wald, nie welche über das Wasser erzählt. Wie konnte ich nur den Teich erwähnen! Dazu noch sein Name – Acquodio – was soviel bedeutet wie: Wasser hasse ich. Doch was steht er auch am Teich, dieser Wasserhasser, dieser Boscamo, dieser Waldlieber!

Ich zog meine Schuhe aus und hielt meine Füße in das Wasser des Teichs. Mit der Gewissheit, meine Kindheit nun endgültig hinter mir gelassen zu haben.

Weiden in der Oberpfalz 2: Am Berg

Fortsetzung von Teil 1

Ah, Amberg! sagte Matthew, als sei ihm plötzlich die Erleuchtung gekommen: Ich weiß Amberg!
Er tippte in sein Handy und fuhr los, er schien einen genauen Plan zu haben, wo wir hinfahren, aber er ließ sich nicht in die Karten schauen beziehungsweise auf sein Handy, wo ich hätte sehen können, wo er sich hinnavigieren lässt. Fast schien es mir, dass er Angst hatte, ich würde sagen, dass wir da nicht hinfahren sollen, wo er hinfahren will.

Eines war mir bald klar: Wir fuhren nicht nach Amberg, da hätten wir uns von Weiden südwestlich halten müssen. Wir fuhren aber eher nach Südosten, an der Grenze zu Tschechien entlang, Richtung Bayrischer Wald. Bei Kötzting, wir waren sicher schon an die hundert Kilometer von Weiden gefahren, sagte ich: Bald hört die Oberpfalz auf, bald kommen wir nach Niederbayern.

Ja gut, sagte Matthew, wir sind gleich da, wir sind gleich Amberg. Er bog in eine Straße ein, die uns durch einen Wald zu einem Parkplatz führte. Dort stellte er den Wagen ab. Ich war verwirrt: Erst lässt er sich von mir durch die Oberpfalz führen, dann steuert er zielsicher einen Parkplatz in einem Wald bei Kötzting an, als hätte er nur das vorgehabt.
Wir sind Amberg, sagte Matthew: Ich hoffe, du gehst mit auf dem Berg!
Am Berg, nicht in Amberg, sagte ich, mehr zu mir als zu Matthew, und fühlte mich selber reingelegt von meinen Wortspielen.

Wir gingen zum Kreuzfelsen hoch, der eine schöne Aussicht auf das Kötztinger Tal und die bergig-hügelige Umgebung bietet. Auch das wusste Matthew genau. Ich spürte seine Freude und Aufregung, als wir durch den Wald nach oben gingen. Am Felsen angekommen, kletterten wir ganz nach oben zum Kreuz. Matthew blickte herum und war sehr ergriffen:
Es ist ein großer Moment für mich, sagte er: Mein Großvater erzählte mir, als ich war ein Kind, dass sein Vater, als er war ein Kind, von Kötzting hier hochgelaufen ist auf die Kreuzfelsen und dachte: Eines Tages ich gehe nach Amerika. Und er ist gegangen.

Wir blickten umher, das Wetter war schön, die Luft klar und bot eine wunderbare Sicht. Dann bat mich Matthew, ein Foto von ihm zu machen.

Nachdem Matthew das Foto angesehen hatte, sagte er: Ich bin sehr stolz auf diese Foto, Emil, obwohl keine Weiden es ist darauf zu sehen!
Er lächelte zufrieden, als hätte ich ihm die größte Freude gemacht, die ihm jemals in seinem Leben widerfahren ist. Dann sah ich das Foto an: Matthew und hinter ihm das Kötztinger Tal mit seinen Wiesen und Weiden. Matthew auf den Spuren seines Urgroßvaters.

Ich nannte das Foto Matthew und die Weiden in der Oberpfalz, aber nur für mich, ich sagte es Matthew nicht.

Weiden in der Oberpfalz 1: Weiden

Matthew Smith aus Chicago meldete sich und sagte, er habe meine Nummer von Bekannten von Bekannten von Bekannten von mir, die ihm sagten, ich könne ihm weiterhelfen bei seinen Annäherungen an die Oberpfalz.

Ich fragte ihn, ob er ein Auto hat, dann wäre es ein Leichtes, sich der Oberpfalz von München aus anzunähern – die Autobahn führt direkt dorthin. Matthew mietete sich daraufhin ein Auto, ein paar Tage nach unserem Telefonat holte er mich ab und wir fuhren auf die A9 Richtung Norden. In der Holledau bogen wir auf die A93 ab. Matthews Gesicht war voll gespannter Erwartung, und als wir Regensburg erreichten, rief er voller Freude: Ah, Regensburg, die Hauptstadt der Oberpfalz!
Ich blickte skeptisch, und er blickte fragend, mich an, worauf ich zu einer Erklärung ansetzte:
Offiziell ja, offiziell ist Regensburg die Hauptstadt der Oberpfalz.
Offiziell?
Heidelberg war auch mal die Hauptstadt der Oberpfalz.
Heidelberg?
Ja. Wegen der Pfälzer Linie der Wittelsbacher. Deshalb heißt die Oberpfalz auch Oberpfalz.
Matthew Smith blickte vollkommen verwirrt, ich redete trotzdem weiter, denn ich kann nichts dafür, dass die deutsche Geschichte eine verwirrende ist:
Viele sagen, dass die Oberpfalz generell nicht regierbar ist, auch nicht von Regensburg aus, obwohl Regensburg näher an der Oberpfalz ist als Heidelberg. Und wahrscheinlich soll man die Oberpfälzer gar nicht regieren wollen, auch nicht von Amberg oder Weiden aus, das zeigt doch die Fuchsmühler Holzschlacht.

Ich bemerkte, dass ich Matthew als Zuhörer verloren hatte und setzte meinen Vortrag daher nicht fort, sondern schlug vor, nach Weiden zu fahren.
Nach Weiden? fragte Matthew.
Ja, nach Weiden in der Oberpfalz.

Wir setzten unsere Fahrt auf der A93 Richtung Norden fort. Bevor wir allerdings nach Weiden kamen, legten wir eine Pinkelpause ein. Vom Parkplatz aus hatte man eine schöne Aussicht auf die Landschaft, und Matthew sagte: Dort ist ein Fluss!
Ja, die Naab. Mit schönen Weiden am Ufer, sagte ich.
Das ist Weiden? fragte Matthew erstaunt. Weiden in der Oberpfalz? Er machte ein Foto.
Nein, das sind Weiden, sagte ich: Bäume, die an Flüssen wachsen.
Matthew blickte ratlos auf sein Handy. Wir gingen wieder zum Auto und fuhren weiter nach Weiden.

In Weiden gingen wir durch die Stadt, und Matthew machte auf mich einen angestrengten Eindruck, als ob er ständig etwas suche.
Suchst du etwas?
Ja, die Weiden.
Die Bäume?
Ja, die Bäume.
Die wachsen nicht in der Stadt. Wir müssen an den Fluss gehen, an die Waldnaab. Dort wachsen sie.
Wir gingen ans Ufer der Waldnaab. Dort fanden wir Weiden, und Matthew machte wieder ein Foto von den Weiden.

Ich sagte zu Matthew: Das Foto vom Parkplatz nennst du Weiden in der Oberpfalz, und das Foto von hier nennst du Weiden in Weiden in der Oberpfalz.

Matthew blickte mich wieder verwirrt an, doch ich ging nicht darauf ein, sondern zum Auto und schlug vor, weiter nach Amberg zu fahren.

weiter zu Teil 2

Übergabeprotokoll

Meine erste Schiffsreise die ich tat war professioneller Natur, ich wollte mit dieser Reise Geld verdienen und bewarb mich auf eine Anzeige hin als Protokollant der Übergaben. Ich witterte leichtes Geld – irgendwelche Übergaben protokollieren und dabei auf dem Meer herumschippern: Ich stellte mich auf einen verdienstvollen Urlaub ein.

Schon am ersten Tag der Reise war die See eine stürmische, es gab unzählige Übergaben und ich wurde zu ihnen gerufen, um sie zu protokollieren: Ich sah bleiche Gesichter, die sich eben übergeben hatten, erst jetzt erfuhr ich, welche Übergaben ich zu protokollieren hatte: orale Übergaben menschlichen Mageninhalts an die Umwelt. Während die stürmische See das Schiff schwanken ließ, versuchte ich standhaft zu bleiben mit meinem Protokoll in der Hand und fragte die bleichen Gesichter mit leerem Magen nach Name, Geschlecht, Alter, Wohnort und Familienstand. Wieso denn Familienstand? fragte ein bleiches Gesicht erschöpft. Ich weiß nicht, sagte ich, steht so im Protokoll.

Manche versuchten, an die Reling zu gelangen und sich ins Meer zu übergeben, daraufhin wurde via Lautsprecher eindringlich aufgefordert – es klang wie ein Befehl – zur Übergabe des Mageninhalts die dafür bereitgestellten Schüsseln zu benutzen oder, falls eine Schüssel nicht rechtzeitig zur Hand sei, sich auf den Schiffsboden zu übergeben. Ein Kollege von mir sammelte daraufhin, nachdem Übergaben ins Meer erfolgreich unterbunden worden waren, Proben des jeweils Erbrochenen aus den Schüsseln oder vom Boden ein und diktierte mir anschließend die Entnahme seiner Proben, damit ich auch diese protokollieren konnte.

Nach erfolgter Protokollierung wurde ich aufgefordert, auch für die Beseitigung des Erbrochenen zu sorgen, anfangs weigerte ich mich, diese Aufgabe zu übernehmen, schließlich, so behauptete ich, stünde nichts davon in meinem Arbeitsvertrag, ich wurde dann jedoch auf den Passus des Vertrages verwiesen der lautete: Bei Bedarf hat der Arbeitnehmer auch andere Arbeiten als die Protokollierung von Übergaben zu übernehmen. So übernahm ich also auch die Beseitigung von Übergaben.

Die See blieb stürmisch während der ganzen Überfahrt nach New York, sodass ich pausenlos Übergaben zu protokollieren und zu beseitigen hatte, bis ich spätabends erschöpft in mein Kajütenbett fiel, bis sich frühmorgens der erste wieder übergab. Sogar mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf wurde ich zu Übergaben gerufen.

Auf der Rückfahrt waren neue Passagiere an Bord, von denen sich der Großteil ebenfalls wie die Hinfahrtspassagiere ständig übergeben musste, ich wunderte mich, wieso sich immer alle bis auf wenige übergeben mussten, hatte aber nicht viel Zeit zu diesen Überlegungen, zu beschäftigt hielten mich die Protokollierungen und Beseitigungen der ständigen Übergaben. Da die See jedoch insgesamt etwas ruhiger war als bei der Hinfahrt, hatte ich zwischendurch Zeit zu fragen, wozu denn die ganzen Übergaben protokolliert werden müssen, wurde aber lediglich auf meinen Arbeitsvertrag verwiesen und dass ich diesen zu erfüllen hätte.

Erschöpft betrat ich schließlich europäisches Festland, ich konnte kein Erbrochenes mehr sehen und vor allem nicht mehr riechen. Ich sah noch, wie die entnommenen Proben des Erbrochenen in einen Transporter verladen wurden, wandte mich aber gleich ab, denn bei diesem Anblick stieg sofort wieder der Geruch von Erbrochenem in meine Nase, der mich während der Reise wochenlang begleitet hatte und den ich anschließend wochenlang, monatelang nicht loswerden konnte. Schweißgebadet wachte ich monatelang nachts aus dem immer selben Albtraum auf: Ich hatte geträumt, in einem Meer von Erbrochenem zu ertrinken.

Später habe ich erfahren, dass auf diese Schiffsreise, deren Übergaben ich protokolliert hatte, nur Menschen eingeladen worden waren, die leicht seekrank werden. Durch die chemische Analyse der Proben ihres Erbrochenen stellte man fest, welche Speisen in welcher Zusammensetzung sie unmittelbar vor Antritt und während der Reise zu sich genommen hatten und wollte so herausfinden, welche Speisen in welcher Zusammensetzung vor allem zu Seekrankheit führen, um diese in Zukunft nicht mehr anzubieten und so die Anzahl der Übergaben von Erbrochenem während einer Schiffsreise zu verringern.

Es hieß, die Untersuchung habe keine signifikanten Ergebnisse geliefert. All die Protokollierungen der Übergaben waren also umsonst gewesen, mehr noch: Die ganze Reise war umsonst gewesen. Seit dieser habe ich nie mehr eine weitere Schiffsreise unternommen.