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Die Flaneuse
Die Flaneuse flaniert in Flanell, jetzt, im Winter, wo es kalt ist.
Im Sommer dagegen, als es warm war, saß sie mit einigen Anderen in einem Raum, als einer der Anderen sagte: „Würden Sie sich bitte bekleiden! Nacktheit im Beisein von Anderen entspricht nicht meiner Moral.“ Woraufhin sich die Flaneuse erhob und sagte: „Wenn ich das Wort Moral höre, muss ich den Raum verlassen.“ Ich wusste nicht, dass sie mit diesem Satz Kieślowski zitierte, jetzt weiß ich es, ich glaube die Flaneuse selbst hat mich später darauf hingewiesen, dass sie Kieslowski zitierte, er sprach über seinen Dekalog, ein ethisches und kein moralisches Werk, wie sie betonte, jedenfalls ging die Flaneuse, nachdem sie Kieślowski zitiert hatte, zur Tür die ins Freie führt, und als sie die Tür geöffnet hatte, in ihr stand und bevor sie sie hinter sich schloss, sagte sie: „Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg.“ Dann ging sie aus der Tür, schloss sie hinter sich und ließ die Anderen im Sarg zurück.
Ich kenne die Geschichte, weil ich daraufhin der Flaneuse begegnete, wie sie nackt die Straße entlangflanierte. Freudig begrüßte sie mich und meinte, sie habe soeben Blumfeld zitiert mit Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg, und die Anderen im Sarg belassen, während sie nun die Freiheit im Freien genieße, sicher, meinte sie weiter, der harte Asphalt unter meinen Füßen passt nicht zur Weichheit meiner Haut, ich träume vom weichen Wiesengrund, der mich zum wilden Wasser führt, der weiche Wiesengrund ist eine kulturelle Errungenschaft, während der harte, knorrige, wurzelige Waldboden die Realität ist, eine Realität vor dem Menschen, sofern man in der menschlichen Welt von Realitäten sprechen kann, mir erscheint alles wie ein Traum, meinte die Flaneuse, und sie fügte an, dass der harte, knorrige, wurzelige Waldboden mit weichem Moos durchsetzt sei, woraufhing sie vorschlug, den harten Asphalt der Stadtstraßen zu verlassen und in den Stadtwald zu gehen, um dort auf weichem Moos zu ruhen.
Wir flanierten nun zu zweit die Straßen entlang, wobei: Bei mir war es eher angespanntes Gehen, ich sah in den Augen entgegenkommender Leute deren Moral aufblitzen, als ich mit der nackten Flaneuse die Straßen entlangging, ich war kurz davor, vor dieser Moral zu kapitulieren, doch die Flaneuse setzte unbeirrt einen Schritt vor den anderen, dieser Unbeirrtheit konnte ich mich nicht entziehen. Ich begann aber – wohl, um mich von meiner eigenen Moral abzulenken – unentwegt zu plappern, irgendwelches Zeug, sodass ich mich – das weiß ich erst jetzt, im Nachhinein – den wunderbaren Welten, die die Flaneuse mir eröffnet hatte, zu entziehen begann.
Ich wünschte wir wären gemeinsam im Stadtwald angelangt, wo ich mich spätestens auf weichem Moos ebenfalls entkleidet hätte, um mit der Flaneuse unter offenem Himmel die wunderbaren Welten zu erkunden. Doch dazu ist es nicht gekommen: Ich ließ die Flaneuse allein weiterflanieren, bog selbst hart in eine Seitenstraße ab, um mich meiner Moral zu ergeben.
In dieser harten Seitenstraße, die im Winter noch härter ist, flaniert sie nun, die Flaneuse, in weichen Flanell gepackt. Ich sehe sie gehen, wie sie einen Schritt vor den anderen setzt, ich fühle mich wie in einem Sarg, unfähig, einen Schritt mit ihr zu gehen, und wie ich sie so gehen sehe, weiß ich nicht: Ist es ein Traum, oder ist es die Realität der ich nicht ins Auge blicken kann?
„Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg“
Eilmeldung: #Coronaüberträgtsich #überdieAugen
Ich fuhr mit der U-Bahn und blickte auf einen der Monitore in der Mitte des Waggons. Ich blicke nicht gern auf diese Monitore, weil ich mir nie sicher bin, ob sie mich beobachten und ob ich mich verdächtig verhalte, wenn ich sie beobachte. Sie hängen da wie die Televisoren in Orwells 1984, ein längst von der Realität überholter Roman, denn es überwacht nicht der totalitäre Staat, sondern das totalitäre Google&Partner.
Jedenfalls blickte ich auf einen der Monitore und las folgende Meldung: Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen – das Corona-Virus wird vor allem über die Augen übertragen. Ich traute meinen Augen nicht, ich wandte meinen Blick vom Monitor ab und blickte in die Augen der mitfahrenden Mitmenschen im Waggon. In etwas anderes Menschliches konnte ich nicht blicken, denn es war Winter und die Körper waren verhüllt mit dicken Klamotten, bei vielen war sogar der Kopf bemützt, Mund und Nase sowieso wegen des grassierenden Corona-Virus. Ich sah also nur die Augen meiner mitfahrenden Mitmenschen.
Das Corona-Virus wird vor allem über die Augen übertragen – dieser Satz durchfuhr meinen Körper, besonders meine Augen. Als der Satz meinen Körper, besonders meine Augen, fertig durchfahren hatte, kamen die Gedanken: Ist es nun vorbei mit der freien Sicht? #GemeinsamgegenCorona #WirverschließenundverhüllendieAugen. Wird dafür der Mund- und Nasenschutz obsolet werden, oder ist eine Übertragung über Mund und Nase weiter im Bereich des Möglichen? Wird sogar die Kleidung ihren sozialen Status verlieren und nur mehr dem Kälteschutz dienen, wenn sie aufgrund verhüllter Augen keiner mehr sieht? Ich schaute wieder in die Augen meiner mitfahrenden Mitmenschen: Sie waren nach wie vor unverhüllt, es erfolgte keine spontane Verhüllungsaktion aufgrund der Meldung am Monitor, weshalb ich meine Augen auch unverhüllt ließ. Lediglich eine Person sah ich, die sich ein Tuch vor die Augen hielt, und bei manchen glaubte ich zu sehen, dass sie ihre Brillen näher an ihre Augen geschoben hatten.
Zuhause angekommen, kramte ich gleich meinen Augenschutz aus der Schublade, den ich bisher zweckentfremdet für Liebesspiele verwendet hatte. (Deshalb aus rotem Stoff.) Nun war ich froh, ihn zu besitzen, denn Augenschutz würde sicher knapp werden in nächster Zeit. Die CKU (kurz für Christliche Klüngel-Union) ist schließlich nicht mehr an der Macht und kann ihre Klüngel-Partner nicht mehr anweisen, statt überteuertem Mund-Nasen-Schutz nun überteuerten Augenschutz herzustellen. Außerdem ist es von Vorteil, dass mein Augenschutz aus rotem Stoff ist, denn ich habe gelesen, dass das Virus rot nicht mag.
Zufrieden stand ich da mit meinem Augenschutz, als ich feststellte, dass es schwierig sein würde, ohne Augensicht zur U-Bahn zu gelangen. In den Supermarkt. Überallhin. War diese Meldung nur erfunden, um den Lockdown zu erzwingen? Um die Bevölkerung in die völlige Immobilität zu treiben?
Ich tastete mich zu meinem Digitalradio und schaltete es ein, als gerade der scheidende Digitalinfrastrukurminister der CKU sprach und sagte, dass von der Regierung beauftragte Firmen längst daran arbeiten, ein Fortbewegen ohne Augensicht mittels moderner Apps zu ermöglichen. Er appellierte an die neue Regierung aus Sozis, Alternativos und atheistischen Freidenkern, vernünftig zu sein und diese Entwicklungen nicht zu behindern.
Bodenbekehrung
ein Kommentar zu Unbekehrter Bühnenboden
Vorderbrander, der sich selbst als fundierten Feuilletonisten bezeichnet, hat meinen Text Unbekehrter Bühnenboden als ein großes Stück Poesie bezeichnet, jedoch kritisch bemerkt, dass ihm mein Umgang mit dem Begriff Bekehrung zu eindeutig sei, wo doch der Text als Lobhymne auf die Doppeldeutigkeit der Sprache daherkommen soll.
Protagonist Lebski, ein Mensch mit polnischem Namen – der Name bedeutet schlau und gewitzt – verursacht durch sein Bodenbekehren mit dem Besen ein Staubaufwirbeln, ohne den Boden dabei sauber zu machen. Zweifelsohne bekehrt er jedoch den Boden, sodass der Boden nicht mehr als unbekehrt bezeichnet werden kann, sondern als bekehrt bezeichnet werden muss.
Ich verlange von Lebski, so Vorderbrandner weiter, dass er den Boden ordentlich bekehrt, was eine grobe Herabwürdigung der Bodenbekehrung Lebskis bedeutet, denn wie könne ich beurteilen, wann ein Boden ordentlich bekehrt ist. Nur Lebski mit dem Besen in der Hand kann seine Bekehrung beurteilen. Aber Lebski – und hier zeigt sich seine Schläue und Gewitztheit – will seine Bekehrung gar nicht beurteilen, er macht die Bekehrung um ihrer selbst Willen, er begreift sie als einen zarten Akt zur Durchdringung des Lebens, und somit kann und muss der Boden nach Lebskis Bekehrung als bekehrter Boden bezeichnet werden, denn der Sauberkeitsgrad eines Bodens ist keine Kategorie, mit der seine Bekehrtheit definiert werden kann. Ein bekehrter Boden ist kein gekehrter Boden. Ein bekehrter Boden ist viel mehr. Und somit muss festgestellt werden, dass der Abend im alten Theater mit Lebski auf bekehrtem Bühnenboden stattfand.
Er hoffe, so schließt Vorderbrandner seine Ausführungen, hiermit alle Eindeutigkeiten beseitigt und den Vorgang der Bodenbekehrung in all seinen Doppeldeutigkeiten erörtert zu haben.
Unbekehrter Bühnenboden
Der Boden war uneben und hart zu bekehren, wir waren im alten Theater, um die Vorstellung vorzubereiten, ich mochte das alte Theater, meine tiefsten Träume offenbarten sich in ihm sobald ich es betrat, vor allem wenn ich seine Bühne betrat, jedenfalls glaubte ich das zu spüren, trotzdem hatten wir das Problem, das der alte unebene Bühnenboden hart zu bekehren war, ich drückte Lebski den Besen in die Hand, ich wusste nicht, ob er verstanden hatte, was ich von ihm wollte, es schien so, als habe er es verstanden, denn er begann den Boden zu bekehren, es sah nach nutzloser Tätigkeit aus, wie er mit dem Besen ruckelnd den unebenen Boden entlangschleifte, es war ein Staubaufwirbeln und kein Saubermachen.
Ich musste nochmal weg, Requisiten besorgen, die mir erst jetzt eingefallen waren, diese Requisiten waren unbedingt notwendig, um den Abend im alten Theater zu einem gelungenen zu machen, also sagte ich zu Lebski: Ich setze auf dich, dass du den Boden ordentlich bekehrst! Ich gehe derweil in die Stadt, um Requisiten zu besorgen.
Du setzst auf mich? fragte Lebski. Was soll das heißen?
Dass ich mich auf dich verlasse.
Ich verließ also Lebski, um in der Stadt Requisiten zu besorgen. Die Spätherbstsonne hatte einen Weg durch den Hochnebel gefunden und bestrahlte sanft die alten steinernen Gassen. Ich schritt federleicht dahin, mit einer Leichtigkeit, die das Leben wie einen Traum erscheinen ließen. Ich wandelte hoch zur Burg, wo ich die sonnenbeschienenen Dächer der Stadt betrachtete. Oben bei der Burg beschloss ich, die Requisiten doch nicht zu besorgen. Sie kamen mir plötzlich überflüssig vor. Ich würde den Abend gänzlich ohne Requisiten bestreiten, Requisiten würden nur ablenken von dem, was ich an diesem Abend erzählen will, ich würde mich auf mich beschränken, und auf mein wunderbares Leben, das mir alles gibt, was ich brauche.
Doch machte ich mir plötzlich Sorgen, dass Lebski mich nicht richtig verstanden hat, ich muss klareres Deutsch mit ihm sprechen, sagte ich zu mir, eindeutige Ansagen machen, obwohl ich ein Freund der Doppeldeutigkeiten bin, mit diesem Entschluss ging ich zurück ins alte Theater, wo Lebski, mit dem Besen in der Hand auf unbekehrtem Bühnenboden stand und mich mit folgenden Worten empfing: Erst hast du dich mich verlassen, und jetzt, bitte, setzt du dich auf mich.
Ich wusste nicht, was er meinte, seine Worte waren voller Doppeldeutigkeiten, was ich schön fand, genau dafür mochte ich Lebski, dass er die Sprache mit seinen Doppeldeutigkeiten bereicherte. Das einzig Eindeutige war, dass der Abend im alten Theater auf unbekehrtem Bühnenboden stattfinden würde, was mich zu dem Entschluss führte, den Abend gemeinsam mit Lebski auf unbekehrtem Boden zu bestreiten.
Pachel und Pö
Dem König gefiel zweierlei: die Musik, die an seiner Tafel erschallte, und seine neue Unterhose. Deshalb rief er den Lakai und fragte: „Von wem ist die Musik, die an meiner Tafel erschallt? Und von wem ist meine neue Unterhose?“
„Die Musik“, entgegnete der Lakai, „ist von einem gewissen Pachel, mein König, die Unterhose von einem gewissen Pö.“
„Die beiden sofort zu mir kommen lassen!“ befahl der König.
Hektische Betriebsamkeit brach im Hofstaat aus, um Pachel und Pö möglichst schnell zum König bringen zu lassen. Pachel hatte man gleich gefunden, er probte am Organ der örtlichen Kathedrale an neuer Musik, während Pö nicht aufzufinden war. Die ganze Stadt wurde durchkämmt, doch man fand ihn erst am Rand der Stadt bei einem Bordell, wo er gerade in eine Schlägerei verwickelt war. In seinem nicht sehr präsentablen Zustand führten sie Pö zur Residenz, wo Pachel sich schon im Audienzzimmer befand. Sodann, als beide anwesend waren, trat der König hinzu und sprach: „Bel Oeuvre, meine Herren! Besser würde es kein Franzose hinkriegen! Sie beide dürfen künftig den Zusatz bel an ihren Namen tragen!“
Der anwesende Hofbeamte eilte sogleich, um die Namensänderungen urkundlich eintragen zu lassen. Pachel verneigte sich vor dem König, voll von innerer Freude, künftig ein Pachelbel zu sein, er sollte mit seinem neuen Namen als Komponist und Organist in die Geschichte eingehen, während Pö fragte: „Von was für einem Oeuvre sprecht ihr?“
„Von der Unterhose, die ihr mir geschneidert!“ sagte der König.
„Ah, verstehe! Gefurzt euch wohl, Majestät!“
„Was für ein Unhold!“ rief nun der König: „Ich scheiß auf seine Unterhose!“
Da schiss der König tatsächlich in die von Pö geschneiderte Unterhose, sodass es im Audienzzimmer fürchterlich zu stinken begann, hatte der König doch am Vortag Hammelbraten gespeist. Die eben noch herrschende feierliche Stimmung war verdorben, es half auch nicht, dass Pachelbel zurückgerufen wurde, um mit der königlichen Hofkapelle eines seiner Stücke zu spielen.
Während die Musiker spielten, riss sich der König die Kleider vom Leib, inklusive Perücke und Unterhose. Ungerührt stand er schließlich in seiner Nacktheit da, während Lakaien seinen Popo putzten. Pö rief, während er abgeführt wurde: „Wohlgetan, Majestät – Unterhose und Scheißen liegen nah beisammen, wenngleich ich empfehle, die Unterhose künftig beim Scheißen beiseite zu schieben.“
Erstaunlicherweise hat der König die Adelung Pös nach den Vorfällen im Audienzzimmer nicht zurückgenommen. Pö durfte sich fortan Pöbel nennen. Die von Pöbel für den König geschneiderte und vom König angeschissene Unterhose, Pöbels Meisterwerk sozusagen, ging allerdings in den Wirren der Geschichte verloren. Man erzählt sich, Pöbel habe keine weiteren Unterhosen noch sonstige Kleidungsstücke mehr für den König geschneidert, sondern für die Damen am Stadtrand Unterwäsche entworfen, in der sie ihre Freier empfingen.
Pachelbel Pöbel
Ephriweh, überall
Ich wachte auf und hatte zunächst eine verträumte Säuselei in meinen Ohren. Es klang nach Lottofee. Dann jedoch ging die Säuselei in tanzende und springende Basstöne über, ich versuchte die Basstöne zu erfassen, ich hörte dreimal die Abfolge C-D-G, abgeschlossen mit einem A-G-F-Diminuendo, ich kann es aber nicht genau sagen, ich fühle Musik nur und denke sie nicht, deshalb berührt Musik mein Innerstes und nicht nur meinen Kopf.
Ich hatte keine Ahnung, was die verträumte Säuselei und die tanzenden und springenden Basstöne mir sagen wollten, ich stieg aus dem Bett und begann den Tag wie üblich mit einem Blick in den Badezimmerspiegel. Musik, dachte ich mir, ja, Musik, während mich die verträumte Säuselei und die tanzenden und springenden Basstöne weiter verfolgten, ich dachte an die Pastorale von Beethoven, an seine sechste Sinfonie, aber ich konnte nur denken, nicht fühlen, ich war voll von verträumter Säuselei und tanzenden und springenden Basstönen, die Basstöne wurden nun dominanter und drängten die Säuselei in den Hintergrund, ich nahm meine Gitarre in die Hand und versuchte, die Basstöne zu spielen:
Es begann kläglich, doch ich spielte mich in einen Rausch, ich konnte nicht mehr aufhören, es war ungewiss, ob ich ein Ende finden würde, als ich plötzlich eine Frau singen hörte, eine tiefe zarte Frauenstimme, die eine Melodie zu den tanzenden und springenden Basstönen sang, mündend in den Chorus: Oh I, I wanna be with you, Ephriweh – oh ich, ich will mit dir sein, Ephriweh.
Das hätte ich nun als vollkommenen Unsinn abtun können und mit diesem vollkommenen Unsinn diese Aufzeichnungen hier beenden können, wenn ich schon mein Gitarrenspiel der Basstöne nicht beenden konnte. Ich beendete jedoch, zu diesem Zeitpunkt völlig unerwartet, das Gitarrenspiel der tanzenden und springenden Basstöne, und jetzt fing alles an. Ich begriff, dass die tanzenden und springenden Basstöne einem Lied entstammen, dass ich bereits als Kind gehört habe: Der Knabe springt über sonnenbeschienene grüne Wiesen und hört die verträumte Stimme singen: I wanna be with you, Ephriweh. Wer ist Ephriweh? Ephriweh bin ich selbst, aber in einer höheren, freieren Dimension. Nein – das ist Unsinn: Ephriweh bin ich und bin nicht ich, Ephriweh ist was ich weiß und was ich nicht weiß, und es ist Unsinn, etwas über Ephriweh zu schreiben. Bin ich nun endgültig an dem Punkt angelangt, diesen Unsinn zu beenden?
Can you hear me calling out your name? Kannst du mich hören, Ephriweh? Ein spiritueller Meister, der nun zwar überraschend aber nicht unpassend die Szenerie betrat, sagte: Ephriweh ist dein befreites Selbst, vielleicht sogar dein universelles Selbst, aber seine Worte verschallten ins Nichts, denn ich fiel ins Bodenlose, ohne Angst vor dem Aufprall zu haben, weil es keinen Boden mehr gab. Doch der Fall hielt nicht an, ich hörte Stimmen sagen: Ist er nicht sonderbar? Wir hören Ramones, und er hört Fleetwood Mac.
Als meine Füße den Boden wieder erreicht hatten, noch immer von tanzenden und springenden Basstönen durchdrungen, hatte sich das Rätsel gelöst: Fleetwood Mac also, mit dem Gesang von Christine McVie. Sie singt nicht Ephriweh, sondern Everywhere, aber ich höre nur Ephriweh, überall wo ich bin.
Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist
Über der Schotterebene leuchtete noch die Sonne, ganz flach lag sie im Westen auf der Erde, in diesem satten Licht konnte ich mir nicht vorstellen, dass es bald dunkel werden würde, ich rollte weiter, mit großer Geschwindigkeit, auf einer Asphaltpiste, die Autobahn Acht genannt wird und von der Schotterebene ins hügelige Alpenvorland führt, durch die große Geschwindigkeit hatte ich das hügelige Alpenvorland bald erreicht, ich hatte das satte Licht hinter mir gelassen, jetzt dämmerte es, und Tanja, die zu meiner Überraschung neben mir saß, während wir mit großer Geschwindigkeit die Asphaltpiste entlangrollten, sagte: Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist.
Ich versuchte daraufhin, die Wirklichkeit so gut ich konnte zu erfassen, ich entgegnete Tanjas Aussage mit meiner Feststellung: Die Mangfall haben wir bereits überquert, nun schmiegt sich die Asphaltpiste in das Tal der Leitzach, um uns danach auf den Irschenberg zu führen.
Mag sein, sagte Tanja, aber was hat das mit der Wirklichkeit zu tun?
Vom Irschenberg aus sahen wir ins Inntal nach Osten, die dämmerige Welt lag wie ein Traum vor uns, während im Rückspiegel das Licht der untergehenden Sonne leuchtete. Ich betrachte den erleuchteten Punkt vor uns, der Rosenheim genannt wird, sagte Tanja nun, und es kommt mir so vor, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin und wo ich mich befinde. Vielleicht befinde ich mich in der unmittelbaren Unwirklichkeit.
Die Asphaltpiste leitete uns weiter durch die Unwirklichkeit, und ich dachte an Tanjas Worte, als wir aus der Schotterebene in die Unwirklichkeit eingetaucht waren: Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist.
Am Chiemsee verließen wir die Asphaltpiste, es erschien unwirklich, hatte die Piste uns doch wie in einem Traum durch das dämmerige Land geleitet, am Chiemsee war es dunkel, das Sonnenlicht im Westen nur noch zu erahnen, die Sterne über uns hell aber nicht erleuchtend, ich verlor vollkommen die Orientierung, was Tanja wortlos zur Kenntnis nahm, ich hatte nicht das Gefühl, als wolle sie etwas gegen diese Orientierungslosigkeit unternehmen, mitten in dieser Orientierungslosigkeit erreichten wir Sonjas Haus, dort hielten wir, und Tanja sagte: Ich steige aus und gehe zu Sonja ins Haus.
Für einen Moment dachte ich, dass auch ich steige aus und gehe zu Sonja ins Haus, doch in diesem einen Moment fiel etwas Licht auf Johannas Gesicht, Johanna saß mit den Kindern hinten, woher das Licht kam, das auf Johannas Gesicht fiel, weiß ich nicht, mittlerweile bilde ich mir ein, dass es von mir kam, ich weiß auch nicht, wieso Johanna mit den Kindern hinten saß, Tanja war inzwischen ausgestiegen und ging zum Haus, und ich wusste jetzt, dass ich mit Johanna und den Kindern an den See fahren würde, wir waren schon am See, trotzdem würde ich mit Johanna und den Kindern weiterfahren, an den See, vielleicht an einen anderen See, vielleicht an den gleichen See an anderer Stelle, Johannas Mutter wohnt am See, so wie Sonja, wir würden zu Johannas Mutter fahren, wo ist eigentlich Johannas Vater? Wo sind überhaupt die Väter in dieser unmittelbaren Unwirklichkeit?
An mehr kann ich mich nicht erinnern, sicher ist, dass ich weiß wo ich mich befinde, die Sonne scheint hell am See, ich weiß, dass ich lebe, aber in alledem fehlt etwas, als wäre es nicht wirklich, eher unwirklich, wie ein Traum, und immer wieder kommen Tanjas Worte über mich, dass im Dämmerlicht die Welt wirklicher ist, weil sie so unwirklich ist.
Katzensprung zur Katerstimmung
Die Katze war
vom Kater entfernt
nur einen Sprung
doch der Kater war
in schlechter Stimmung
deshalb wagte die Katze
nicht den Sprung
und der Kater blieb
in schlechter Stimmung