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Uteto Fritz und die abgeschiedene Achtsamkeit oder: Alles kommt zu einem knirschenden, mahlenden, reibenden Halt

Uteto Fritz, der sich selbst als Künstler und Psychologen bezeichnet, hat sich seit geraumer Zeit in die Abgelegenheit zurückgezogen. Er experimentierte einst mit Sprache als Energetisiakum, weshalb man ihn als Sprachenergetiker bezeichnete. Er lehnte diese Bezeichnung von Anfang an ab, er sagte, er könne kein Sprachenergetiker sein, wenn er als solcher bezeichnet werde. Er fand jedoch immer mehr Anhänger, die sich von ihm sprachlich energetisieren ließen, bis er schließlich den Glauben an die Sprache als Energetisiakum verlor und sich in die Abgelegenheit zurückzog, um sich von seiner Rolle als Sprachenergetiker frei zu machen und wieder zu sich selbst zu kommen.

Jüngst wurde er jedoch wegen einer Angelegenheit aus seiner Abgelegenheit gerufen, und er folgte diesem Ruf: Eine Frau, die sich selbst als Mädchen bezeichnet, war in ein Loch gefallen. Diese Frau, die sich selbst als Mädchen bezeichnet und zu den sprachenergetischen Jüngern gezählt wird, eine Jüngerin also, hatte einst Uteto Fritzes Tätigkeit als Sprachenergetiker auf digitalen Kanälen bekannt gemacht. Die digitalen Kanäle bezeichnet sie als soziale Medien. Uteto Fritz bezeichnet sie als asoziale Separatoren. Die Bekanntmachung seiner Arbeit als Sprachenergetiker auf digitalen Kanälen hatte bei Uteto Fritz erste Zweifel an seiner Arbeit geschürt und führte schließlich zu seinem Entschluss, sich in die Abgelegenheit zurückzuziehen. Das Mädchen, die Jüngerin, setzte nach Utetos Rückzug die sprachenergetischen Bekanntmachungen auf den digitalen Kanälen fort, wobei ohne Uteto die Inhalte ihrer Bekanntmachungen zunehmend dünner wurden. Uteto würde hier anmerken, dass seine Inhalte nie einen Anspruch auf Dicke hatten.

Nun ist dieses Mädchen in ein Loch gefallen, weswegen Uteto, wie bereits erwähnt, aus seiner Abgelegenheit gerufen wurde. Der Tathergang wurde Uteto am Tatort wie folgt geschildert: Das Mädchen sei spazieren gegangen, mit Kopfhörern in den Ohren, und hörte einen Podcast über Achtsamkeit. Dabei habe es ein Loch in der Straße übersehen, in das es gefallen sei. Uteto sah in das Loch und sah darin das Mädchen leblos liegen. Er nahm jedoch noch Zuckungen an ihrem leblosen Leib war, als würde sie unter Strom stehen. Uteto folgerte: Sie hat zu viel Strom konsumiert, deshalb musste sie in das Loch fallen. Das mobile Funken der digitalen Kanäle ist eine permanente Stromzufuhr, diese permanente Stromzufuhr hat sie nicht mehr ausgehalten und ist in das Loch geflüchtet. Dennoch knirscht und mahlt und reibt es noch an ihrem ganzen Leib, wie man an den Zuckungen sieht. Sie ist ein Junkie, den das Knirschen und Mahlen und Reiben des Stroms noch in das Loch verfolgt.

Während Utetos Ausführungen war die Leiche näher untersucht worden. Dabei war festgestellt worden, dass das Mädchen, die Jüngerin, kurz vor ihrem tödlichen Fall in das Loch nicht mehr den Podcast über Achtsamkeit, sondern das Lied Grinding Halt von The Cure gehört hatte.

Das passt gut, sagte Uteto daraufhin, denn die frühe Musik von The Cure ist ein Knirschen und Mahlen und Reiben von Gitarre, Bass und Schlagzeug, das einem ständig Stromschläge verpasst: Everything Is Coming to A Grinding Halt – Alles kommt zu einem knirschenden, mahlenden, reibenden Halt.

Bei Ankunft Brunft

Bei Ankunft war die Zukunft noch Zukunft, wir bezogen zunächst unsere Unterkunft und suchten vor der Zusammenkunft nach Auskunft über die Zunft, schließlich kam unsere Einkunft aus Geschäften mit der Zunft.

Bei Herkunft der Zunft wurde es, wie sollte es anders sein, zünftig, mit Bier, Blasmusik und Brotzeit, die Zunft verlangte schließlich, man ist geneigt zu sagen, aus brünftiger Unvernunft, nach weiblicher Kunft, wir bangten um unsere Einkunft und versorgten deshalb die brünftige Zunft.

Bei Ankunft sagte die weibliche Kunft: Wir sind auch eine Zunft, kein Objekt der Brunft! Und schlugen ein auf die brünftige Zunft. Das war das Ende der zünftigen Zusammenkunft, auch unserer Einkunft aus Geschäften mit der Zunft. Die Hoffnung lag nun auf der Zukunft und deren Ankunft. Gibt es menschliche Vernunft?

Heini Heine

Hätte Heine mit seiner Mathilde
einen Sohn gehabt,
er hätte ihn
wohl Heino genannt.

Und dieser Sohn Heino,
der immer von Papa Heini sprach,
empfing Heinrike in seinem Gemach.
Die in der Ehe dann Heina war:
Heino und Heina Heine also
bekamen eine Tochter.
Und Mutter Heina,
die einst Heinrike war,
fand Heike einen passenden Namen,
und berichtete über Heino:
Heike war ein Name für die Tochter,
den mocht er.

Und Heike Heine fand einen Mann,
Heiko Hebenstreit genannt,
und wurde bald gewahr,
dass frau als Frau
ihren Namen nicht behalten kann.
Heike Hebenstreit gefiel ihr nicht –
Heiko und Heike Heine passt viel besser
in ein Gedicht.
Und wollte weiter Heine heißen,
und Heiko sollte statt Hebenstreit
künftig ein Heine sein.
Doch ein Gericht
untersagte ihr dies,
weshalb sie,
um weiter Heine zu heißen,
Heiko Hebenstreit verließ.

Doch wie wir wissen hat Heine,
der übrigens Harry und nicht Heini hieß,
mit seiner Mathilde keinen Sohn gehabt,
und so erledigt sich jeder weitere Streit,
ob frau als Frau
ihren Namen behalten kann.

 

aus Wikipedia:
Christian Johann Heinrich Heine, geboren am 13. Dezember 1797 als Harry Heine in Düsseldorf, war einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Schriftsteller und Journalisten des 19. Jahrhunderts. Im Deutschen Bund mit Publikationsverbot belegt, verbrachte er seine zweite Lebenshälfte im Pariser Exil. Dort lernte er die Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat kennen, die er Mathilde nannte. Die Ehe sollte kinderlos bleiben. Heine starb am 17. Februar 1856 in Paris.

Ganzheitliche Gastronomie

München ist eine wohlhabende und selbstverliebte Stadt, sagt Vorderbrandner. Am Abend sitzen die Leute in Scharen in Restaurants und Wirtschaften und schlagen sich gemeinsam die Bäuche mit Essbarem voll. Und wenn ich sie so in Scharen sitzen sehe, frage ich mich, sagt Vorderbrandner, wann jeder von ihnen sich einzeln davonschleicht und aufs Klo geht. Oder verdrücken sich die meisten ihre Regungen im Darm und gehen später zuhause aufs Klo? In jedem Fall folgt dem gemeinschaftlichen Essen kein gemeinschaftliches Scheißen, was für mich einen Bruch darstellt, denn beides stellt doch einen untrennbaren gemeinsamen Vorgang dar. Aber es gibt riesige Speisesäle und kleine, verwinkelte, versteckte Klos. Eine künstlich hergestellte Getrenntheit, die der Realität nicht standhält. Deshalb schlage ich vor: Restaurants und Wirtschaften nicht nur mit Speise-, sondern auch mit Scheißesälen. Nach gemeinschaftlicher Speise auch gemeinschaftliche Scheiße, um das gastronomische Erlebnis zu einem ganzheitlichen zu machen.

Viele würden vielleicht Widerstand in sich spüren gegen diese neue Gepflogenheit, denn Neues ist immer ungewohnt, auch wenn es der menschlichen Seele gut tut. So könnte es sein, dass dieser Widerstand sich sogar somatisch äußert und den Flüssigkeitskreislauf im Darm unterbricht, der Kot sich verhärtet und nicht aus dem Darm austreten will. Um diesen am Anfang zu erwartenden Widerständen entgegenzutreten, könnte man zum Beispiel einen eigenen Menüpunkt Nach dem Speisen gemeinsam zum Scheisen einführen, das Wort Scheißen absichtlich mit s statt mit ß geschrieben, um es sanfter und genehmer erscheinen zu lassen, denn so gerne viele über das Speisen reden, so ungern reden sie über das Scheisen. Außerdem könnte man im Scheisesaal ein abortives Getränk reichen, um die Darmtätigkeit anzuregen. In jedem Fall würde dieses gastrononische Gemeinschaftserlebnis helfen, unsere gespaltene Gesellschaft wieder zu einer zu machen.

Die gehobene Gastronomie könnte überlegen, für Gäste, die nicht am gemeinschaftlichen Speisen und Scheisen teilnehmen wollen, zumindest übergangsweise Separées einzurichten, wo sie dann alleine speisen und scheisen. Ich persönlich, sagt Vorderbrandner, verbinde Speise immer mit Scheise, deshalb speise ich meist alleine, da ich anschließend auch alleine scheise. Sonst ist mir der Bruch im Erleben zu groß.

Der Raum zwischen Städten und zwischen deinen Lippen

Die Dinge der Welt sind zum Beispiel Städte. Ich verlasse die Stadt Nürnberg mit dem Zug: Die Häuser brausen an mir vorbei, bis ich die Kiefernwälder südlich der Stadt erreiche, die den Anfang des Raums zwischen Nürnberg und München markieren. Es ist Mai, die Sonne steht noch hoch im Westen und beleuchtet das satte Grün zwischen den Kiefern.

Die Dinge brauchen Raum zwischen sich, und der Raum zwischen Nürnberg und München ist ein weiter Raum. In diesem Raum fließt zum Beispiel die Altmühl, ein Ding, das als Fluss bezeichnet wird, eingebettet zwischen Hügeln fließt sie, die der Hochgeschwindigkeitszug, der mich von Nürnberg nach München bringt, durch Tunnel hindurch durchrast. Das Altmühltal erscheint als kurzer Lichtfleck zwischen den Tunneln, und ich schaue sehr konzentriert aus dem Zugfenster, um das in der Sonne glitzernde Wasser der Altmühl kurz zu sehen.

Der Raum zwischen Nürnberg und München ist weit, aber die Zeit in ihm ist im Hochgeschwindigkeitszug kurz. Die Momente rasen dahin, und ich wünsche mir, in der Kutsche über die Hügel und durch die Landschaft zu poltern, um die Momente länger zu erleben. Das ist eine romantische Vorstellung, die ich mir im Hochgeschwindigkeitszug bequem vorstellen kann, im Hochgeschwindigkeitszug, der mich zu dir nach München bringt, und als der Zug in den nächsten Tunnel rast, stelle ich mir vor, wie sich unsere Lippen berühren und ich merke, dass mich das Fahren im Hochgeschwindigkeitszug müde macht und mich sehnen lässt nach der Zartheit deiner Lippen. Wie komme ich überhaupt auf die Idee, durch die Landschaft poltern zu wollen? Schnell zu dir, das ist doch alles was ich will.

Ich erreiche, nach vielen Tunneln: Ingolstadt, und mir stellt sich die Frage, ob der Raum zwischen Nürnberg und München aufgeteilt werden sollte in den Raum zwischen Nürnberg und Ingolstadt einerseits und in den Raum zwischen Ingolstadt und München andererseits. Oder teilen sich nur die Dinge, wie zum Beispiel Städte, Flüsse oder Lippen im Raum auf und der Raum selbst ist unaufteilbar?

Der Raum zwischen deinen Lippen ist unendlich weit. Das wird mir jetzt bewusst, wo ich mich so nach ihnen sehne, und ich nehme mir fest vor, nicht mehr über sie hinwegzuhuschen, als wären sie fest definierte Dinge, die ich zu beküssen habe.

Weil mein Ich

Wenn meine Hand die deine nimmt,
bin ich dann noch ich,
oder auch ein bisschen du?

Wenn meine Haut die deine spürt,
bekomm ich Gänsehaut,
und lass es nicht mehr zu.

Wenn deine Höhle meinen Stab verführt,
kommt mein Ich in Panik,
und er erschlafft im Nu.

Weil sich mein Ich so wichtig ist,
bleibst du immer du.
Und ich lebe mein Leben
in angsterstarrter Ruh.

Boris Bru

Boris lebte am Fluss Bru, der das nach ihm benannte Brutal durchfloss. Dunkle hohe Auwälder säumten den Bru, riesige alte Bäume streckten ihre gewaltigen Äste über das Wasser, sodass sich kein Sonnenstrahl auf ihm reflektierte. Niemand wusste, wieso Boris im Brutal lebte, wie er dort hingekommen war. Niemand wagte sich in die dunkle tiefe Welt des Bru. Manche sagten sogar, im Brutal würden noch Dinosaurier leben.

Der Bru vereinigte sich mit einem anderen Fluss namens Fa, und als gemeinsam weiterfließender Fluss wurden sie Le genannt. Auf dem Le, der an jenem Tag sehr gemächlich dahinfloss, ruderte Joris flussaufwärts, um Doris zu besuchen, die am Fa wohnte. Um Doris rankten sich keine solchen Mythen wie um Boris, man kannte sie, hatte sie schon öfter besucht. Auch war der Fa ein offener Fluss mit lichtdurchfluteten Auwäldern und grasgrünen Lichtungen. Sein Wasser glitzerte in der Sonne. Dennoch wurde Doris mit Boris in Verbindung gebracht, manche sagten, Doris sei die weibliche Form von Boris.

Joris ruderte also auf dem Le dahin, und ihm ging die Geschichte von Boris durch den Kopf, von dieser sagenumwobenen Gestalt aus dem Brutal, und Joris kam auf die tollkühne Idee, statt auf dem Fa zu Doris zu rudern, dessen unter die Blätterdächer der riesigen Bäume am Bru zu tauchen, um Boris zu suchen. Sein Herz fing immer mehr zu klopfen an, je näher er dem Zusammenfluss von Bru und Fa in den Le kam.

Joris konnte nicht ahnen, dass Doris beschlossen hatte, das Fatal zu verlassen, um künftig bei ihm im Letal zu leben. Noch weniger konnte er ahnen, dass Boris den Bru flussabwärts fuhr, um erstmals in seinem Leben das Brutal zu verlassen.

Joris ruderte also nichtsahnend weiter den Le flussaufwärts, als er links schon den Bru unter den gewaltigen Blätterdächern erblickte und rechts den unter freiem Himmel dahinfließenden Fa. Er sah zu seiner Überraschung Doris auf dem Fa, ihm entgegenkommend. Er freute sich sie zu sehen und er bedauerte es gleichzeitig, denn er wollte doch eigentlich das Tollkühne wagen und weiter den Bru hinauffahren statt den Fa, um in die Welt des Boris zu tauchen. Just als er diesen Gedanken gedacht hatte, tauchte Boris aus den Tiefen des Brutals auf. Er war eine mächtige muskulöse Gestalt, die Furcht und Schrecken einjagte. Boris aber sah Joris nicht, sondern Doris, die im genau gleichen Moment aus dem Fa kam. Boris erschrak sehr, erzählte Joris später, denn er stieß einen lauten Schrei aus und schlug mit seiner Ruderstange brutal auf Doris ein. Wie konnte sich so eine mächtige muskulöse Gestalt so über ein zierliches Wesen wie Doris erschrecken? Nach Boris brutalen Schlägen lag Doris blutüberströmt und reglos auf ihrem Floß. Boris gab flennende Laute von sich. Erbärmlich klangen diese Laute, von ihm, der eben noch so laut gebrüllt und kräftig geschlagen hatte. Dann stieß er Doris leblosen Leib vom Floß ins Wasser, machte kehrt und verschwand wieder im Dunkel des Brutals, ohne Joris bemerkt zu haben.

Joris versuchte für einen Moment, Doris toten Leib aus dem Wasser zu retten, aber schnell begriff er, dass es zwecklos war, gegen die Fluten des Les anzukämpfen. Traurig überieß er ihren Leib dem Le und ließ sich flussabwärts treiben, und als er an Land ging, erzählte er den Menschen des Letals, was er erlebt hatte. Die Menschen fragten ihn, ob er wirklich Boris gesehen habe, oder ob Doris nicht in jenen Strudel an der Mündung geraten sei, der so vielen schon den Tod gebracht habe und von dem das Letal seinen Namen trage? Ob er sich Boris nicht nur einbilde, um Doris Tod zu überwinden?

Nein, sagte Boris: Der Le ist nicht todbringend – der Le ist der Tod! Und fortan nannte er den Le Tot und das Letal Total.

Überall gerne 2

Fortsetzung von Teil 1

Zu Salzburg gehörte der Rupertiwinkel über Jahrhunderte, bis Österreich und Bayern das Land an der Salzach 1816 unter sich aufteilten: Der Rupertiwinkel westlich der Salzach kam zu Bayern und der große Rest zu Österreich. Die Hinterstoissers sagen bis heute von sich, sie seien eine Salzburger Familie: Sie kommen aus dem Rupertiwinkel, vom Högl, in dessen Umgebung sie, mit wenigen Ausnahmen, über die Jahrhunderte blieben. Vom Högl in die zwanzig Kilometer entfernte Stadt Salzburg zu ziehen, was einige taten, galt familienintern als Unverschämtheit. Ein Umzug ins ferne München war unvorstellbarer Verrat. Die willkürlich Grenzziehung von 1816 traf unsere stolze Sippe ins Mark, sagte mein Großvater, und ich, Emil, der ich den Hinterstoisserschen Stolz in mir trage, fühle mich weder als Österreicher noch als Bayer. Ich bin ein Rupertiwinkler.

Wie ging es weiter mit meinen Expeditionen von München Richtung Ostsüdost? Eines Tages, es ist nun schon einige Jahre her – Josefine war gerade in Frankfurt, glaube ich mich zu erinnern, jedenfalls war sie nicht in München – trieb mich alles in mir in den Rupertiwinkel: Ich setzte mich in ein verfügbares Automobil und fuhr auf die Autobahn acht, die den Streifen zwischen München und Rupertiwinkel durchquert, ich rollte ostsüdostwärts wie in Trance, ich hielt nicht am Chiemsee, ich bog auch nicht nach Traunstein ab, und als ich im Rupertiwinkel angelangt war, kam auch eine Weiterfahrt nach Salzburg nicht in Betracht. Stattdessen fuhr ich an den Fuß des Högls. Unweit meines Elternhauses stellte ich das Automobil ab und rannte durch den Wald aufwärts. Ich kam auf die Wiese, wo die Gräser grün und der Löwenzahn gelb in der Sonne leuchteten. Hier war ich hochgerannt als Pubertierender, als mir das sündige Mannwerden zu viel geworden war. Ich rannte keuchend weiter über die Wiese, hoch bis zum Waldrand. Dort blieb ich stehen und blickte talwärts. Die Bäume standen schützend hinter mir. Ich erinnerte mich, dass ich genau an dieser Stelle das erste Mal ejakuliert hatte: Hier hatte mich das sündige Mannsein mit voller Wucht getroffen und mich schluchzend und schamhaft ins Tal zurückkehren lassen.

Ich stand an diesem schicksalshaften Ort, und die Zeit schien keine Rolle mehr zu spielen. Mir wurde klar, dass es die Vergangenheit nicht gibt, nur die Gegenwart mir ihren Gedanken über sie. Ich spürte meine Manneskraft und war gerne in meinem Körper, alles in mir, jede Zelle, jubelte dem Leben zu. Ich hatte nicht gedacht, dass mir das am Högl, im Rupertiwinkel, passieren würde. Trotzdem stieg ich bald wieder ab ins Tal, dort ins Automobil, und fuhr zurück nach München, wo ich am gernsten bin.

Am Högl

Überall gerne 1

Im Grunde bin ich überall gerne. Es gab noch keinen Ort in meinem Leben, dem ich nicht ein wenig nachtrauerte, wenn ich ihn verließ, aber irgendwann hat mein Gehirn beschlossen, am gernsten in München zu sein, und so verlasse ich im Zweifel alle anderen Orte, um in München zu sein.

Als junger Mann habe ich erstaunlicherweise den Ort verlassen, an dem ich aufgewachsen bin. Erstaunlicherweise, weil tradionellerweise fast keiner aus der Familie der Hinterstoisser diesen Ort verlässt. Der Ort heißt Högl und liegt in einer Gegend, die ich Rupertiwinkel nenne und die viele andere auch so nennen. Ich verließ den Rupertiwinkel nicht direkt nach München, sondern über Graz, wo ich mich heftig verliebte und darüber depressiv wurde, um von dort nach Bologna zu ziehen, von wo mich meine erneute Verliebtheit nach London weiterziehen ließ. In London, wo ich mich gute zwei Jahre aufhielt, war meine Verliebtheit tendenziell wieder unglücklich, aber anders als in Graz wurde ich darüber nicht depressiv, sondern sie trieb mich zu dem Entschluss, nach München zu ziehen, um dort sesshaft zu werden.

Ich glaube, es war nicht nur mein Gehirn, dass mich nach München trieb, um dort am gernsten zu sein, nein, es war alles in mir, alle meine Gefühle und Regungen in jeder meiner Körperzellen sagten zu mir: Geh nach München! Denn ich ahnte, dass München eine große Stadt ist, die mir viele Freiheiten bietet, aber gleichzeitig in Reichweite des Rupertiwinkels liegt.

Dennoch fuhr ich in meiner Münchner Anfangszeit nicht in den Rupertiwinkel. Allein die Vorstellung, dies zu tun, versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich hatte Angst, dort gefangen genommen zu werden und nicht mehr nach München zurückkehren zu können. Es war ein langsames Herantasten an den Ort meiner Kindheit und Jugend, wo mir Sachen widerfahren sind, von denen ich mich wohl mein ganzes Erwachsenenleben erholen muss. Wo meine Sozialisation zum sündigen Mann erfolgte, der ich wohl mein Leben lang geblieben wäre, wäre ich nicht, über Umwege, nach München geflohen.

Die Gegend zwischen München und Rupertiwinkel, also ein etwa hundert Kilometer langer Streifen, der von München ostsüdostwärts zieht, ist immer ein lebensnotwendiger Puffer für mich gewesen, seit ich in München bin. Anfangs wagte ich mich mit Josefine, die mich glücklicherweise auf meinen waghalsigen Expeditionen nach Ostsüdost fast immer begleitete, bis in den Chiemgau vor, wo wir am See weilten, oder, wenn es uns dort zu geschäftig wurde, wir uns in die Berge zurückzogen. Später logierten wir in Traunstein, also schon sehr nahe am Rupertiwinkel, während wir noch später den gesamten Rupertiwinkel durchquerten, um östlich von ihm in Salzburg Quartier aufzuschlagen.

Expeditionskarte

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Freundesquadrat

Er ist ein Typ mit Ecken und Kanten, das sehe ich vor allem an seinem Schädel, der kantig und wuchtig über seinem Rumpf thront. Er ist ein Quadratschädel aus dem Bilderbuch. Sein Schädel scheint zu groß und zu wuchtig für seinen Körper, der den Schädel schließlich tragen muss. Sein Rumpf, der schmalschultrig daherkommt und dessen markantestes Merkmal der zu einer Kugel ausgeformte Bauch ist, wird durch zwei stelzenartige Beine mit der Erde verbunden. Die stelzenartigen Beine, das sehe ich im Sommer wenn er kurze Hosen trägt, haben zwei auffallend spitze Knie, womit wir wieder bei den Ecken und Kanten wären.

Doch trotz gesamtkörperlicher Betrachtung bleibt am auffälligsten sein quadratischer Schädel, die Form seines Schädels ist mit ziemlicher Sicherheit auch der Grund, warum er sich nicht in einem Freundeskreis, sondern in einem Freundesquadrat bewegt. Zu viert sitzen er und seine drei Freunde an einem quadratischen Tisch, jeder hat dabei Karten in der Hand, sie schweigen, ab und zu nimmt einer einen kräftigen Schluck von seinem Bier. Tiefenpsychologen sprechen bei dieser Viererrunde, oder besser: bei diesem Viererquadrat, von latenter Homosexualität. Wobei ich diese These nicht bestätigen will. Nicht nur wegen der homophoben Thesen, die bei den seltenen Gesprächen am Tisch geäußert werden, sondern wegen der seltsamen Unkörperlichkeit am Tisch. Die vier Freunde führen nur minimalistischste Bewegungen aus, und zwar zum Kartenwerfen und zum Biertrinken. Ich habe noch nie gesehen, dass einer den anderen anfasst, berührt, an den Händen, an den Füßen, an den Schultern, am Rücken, im Gesicht, oder gar – und das spräche für die homosexuelle These – oder gar am Penis. Eine ganz und gar körperlose Runde, wobei es natürlich sein kann, dass durch die geäußerte Homophobie eine lähmende Angst vor Berührung herrscht, sodass vielleicht die latente Homosexualität im Raum herumschwirrt, ohne sich jemals körperlich zu äußern. Die Bäuche der vier Freunde scheinen sich gerade aus Protest gegen die körperlose quadratische Welt am Quadrattisch zu runden Kugeln zu formen. Als wollten sie sagen: Raus aus euren Ecken!

Kürzlich sehe ich den Quadratschädel in ungewohnter Umgebung: Er, der Schweigsame, geht lauthals parlierend inmitten zweier Frauen die Straße entlang. Er, der sich in quadratischer Runde nicht nur homophob, sondern auch misogyn gibt. Es ist jedoch zu bedenken, dass gerade in misogynen Kreisen, und hierbei sind wohl auch misogyne Quadrate wie in unserem Fall einzubeziehen, eine große soziale Verpflichtung herrscht, sich ein Weib zu nehmen, gerade wegen der Misogynie. Denn was ist ein Frauenfeind ohne Frau?

Der Quadratschädel spaziert mit den beiden Frauen die Straße entlang, er in der Mitte. Unentwegt redet er, dazu fuchtelt er wild mit den Armen, eine maximalistische Bewegungsverschwendung, ganz im Gegensatz zur Minimalistik der quadratischen Runde. Seine Storchenbeine stellt er breitbeinig in jeden Schritt, doch sein Fortgang sieht sehr wackelig aus, während sich das gebügelte Hemd um seinen Bauch spannt.

Dann erweitere ich meinen Blick auf das ganze Szenario und sehe, dass links von ihm seine Braut geht. Die Braut ist gelangweilt, denn der Quadratschädel redet hauptsächlich mit der Frau rechts von ihm, die die Brautmutter ist, bei der er um die Braut wirbt. Er hat seine quadratische Männerwelt verlassen, um eine Frau zu erobern. Es scheint eine Pflichtübung zu sein, eine lästige Aufgabe außerhalb seiner Welt. Er muss eine Frau erobern, um seinen Platz am Quadrattisch nicht zu verlieren. Um nicht von einem männlicheren Mann ersetzt zu werden. Also doch latente Homosexualität? Ist Homophobie Angst vor Homo- und Misogynie Angst vor Heterosexualität?